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KOMMENTAR/293: Modus der Eliten ... (SB)



"Im internationalen Spitzensport setzte ein Wettrüsten um sportlichen Erfolg und Medaillen ein. Dieses Rattenrennen erhöht nicht nur den Erfolgsdruck, sondern verschärft auch die Legitimationsproblematik öffentlich geförderter Spitzensportentwicklung." [1]
(Analyse von "Athleten Deutschland e.V." Warum ist es uns das wert?)

"Athleten Deutschland e.V." möchte den "Elefanten im Raum auf die sportpolitische Agenda heben" und hat zu diesem Zweck der Öffentlichkeit eine 80seitige Analyse mit dem Titel "Warum ist es uns das wert? - Zur Gretchenfrage der staatlich geförderten Spitzensportentwicklung in Deutschland" vorgestellt. Doch hat sich der elitäre Lobbyverein damit nicht gründlich verhoben?

"Die grundständige Frage nach Sinn und Zweck - und damit auch nach den gesellschaftlich wünschenswerten Funktionen der staatlichen Spitzensportförderung - bleibt seit Jahrzehnten unzureichend beantwortet", bemängeln die Autoren Maximilian Klein (Beauftragter für Internationale Sportpolitik) und Johannes Herber (Geschäftsführer), ohne im mindesten die Frage zu berühren, ob demokratische Gesellschaften nicht auch ganz gut ohne den Hochleistungssport der Kinder und Erwachsenen auskommen könnten und welche Gesellschaftsveränderungen das voraussetzen würde. "Athleten Deutschland" (AD) fordert zwar eine "ehrliche Grundsatzdebatte und eine neue gesellschaftliche Verständigung zu den Zielen der staatlich geförderten Spitzensportentwicklung", was in einen neuen "Gesellschaftsvertrag" oder gar in ein "Sportfördergesetz" münden könnte, geht aber mit keinem Wort auf die Möglichkeit ein, dass es innerhalb der Bevölkerung auch eine immer breitere Ablehnung des staatlich geförderten Spitzensports geben könnte. Die sieben gescheiterten deutschen Olympiabewerbungen in Folge - für München 2022 (Winter) und Hamburg 2024 (Sommer) gab es zuletzt sogar Befragungen von Bürgern, die sich mehrheitlich gegen die Kollateralschäden der olympischen Eventindustrie entschieden - sprechen zwar nicht unbedingt gegen den Hochleistungssport, wohl aber gegen die (damit untrennbar verknüpften) Rahmenbedingungen und Schattenseiten, von denen AD einige schlagwortartig aufzählt: "Skandale, Misswirtschaft, Missbrauch und Korruption."

Um der auch unter Sportwissenschaftlern beklagten "Legitimationskrise des Spitzensports" etwas entgegenhalten zu können, müssen sich die Eliteathleten natürlich auf Kritik einlassen, zumal wenn sie nicht mit den Funktionären des Profi- und Spitzensports in einen Topf geworfen werden wollen, für die Werte und Marketing praktisch austauschbare Instrumente sind, um soziale, politische und ökonomische Legitimation zu erwirtschaften. Die Kritik darf aber nur so weit gehen, dass die Adressaten wie "Zuschauer*innen, Sporttreibende, Fans, Steuerzahler*innen" nicht auf die Idee kommen, die Gretchenfrage schlicht umzukehren und zu fragen beginnen: "Warum ist es uns das NICHT wert?". Und natürlich darf der vom Innenministerium gesponserte Lobbyverein auch nicht die Interessen seiner persönlichen Mitglieder sowie der politischen und gesellschaftlichen Stakeholder und Profiteure verprellen. Deshalb werden in der Analyse zwar viele Fußnoten verteilt, die auf wissenschaftliche Expertenaussagen zu nationalen und internationalen Spitzensportentwicklungen verweisen, auch der unangenehmen Art, doch weder wird einer kritischen Selbstrepräsentanz der Zuschlag gegeben noch wird auf die Argumente eingegangen, die gegen den vergleichsweise verbrauchsintensiven und verschleißträchtigen Spitzensport sprechen und welche Alternativen es zum kapitalistischen Mediensport moderner Prägung gäbe. Zumal wissenschaftliche Untersuchungen abseits der Sonntagsreden von Politik und Sportindustrie zeigen, dass die hehren Zuschreibungen, wie positiv der Spitzensport auf das Allgemeinwohl wirke, höchst zweifelhaft sind. Die Studienqualität zur Bestimmung von positiven und negativen Effekten sowie den Wirkungszusammenhängen des Spitzensports, so räumen auch die Autoren ein, scheint insgesamt "ausbaufähig" zu sein, "empirische Befunde für positive Effekte bleiben bisweilen lückenhaft, sind ambivalent oder nur begrenzt vorhanden".

Warum der Aspekt "Gesundheit" im Positionspapier von AD so gut wie keine Rolle spielt, obwohl doch das allgemeine Narrativ besagt, dass die Leistungen der SpitzensportlerInnen die Bevölkerung zum gesunden Sporttreiben motivieren würden, lässt sich schnell beantworten: Damit ist schon längst keine Legitimation mehr herzustellen, nur noch die Kolportage hält den Eindruck aufrecht. Aufgrund der internationalen Konkurrenzsituation und der sich am Anschlag befindlichen Ausreizung aller Mittel und Methoden der Leistungsproduktion sind die körperlichen Belastungen durch Training und Wettkämpfe so immens geworden, dass sich die meisten SpitzensportlerInnen aufgrund des gestiegenen Verletzungsrisikos praktisch in permanenter Behandlung durch Physios, Sport- und Rehaärzte befinden. Kaum eine Profi- und Spitzensportkarriere verläuft ohne schwerste Verletzungen, verbunden meistens auch mit gesundheitlichen Langzeitschäden bis hin zur Invalidität. Kleinere Blessuren und Schmerzen, die mit unterschiedlichsten Mitteln behandelt, unterdrückt oder ignoriert werden, gehören ohnehin zum Alltag von SpitzensportlerInnen. Sie gelten als gesund, wenn sie in der Lage sind, zu trainieren und an Wettkämpfen teilzunehmen.

Genaugenommen sind SpitzensportlerInnen also Vorbilder für einen geradezu destruktiven Umgang mit dem eigenen Körper: Auf der einen Seite ein Waren- und Wegwerfartikel, der unter hohem Aufwand erzeugt und marktgerecht konsumiert wird, auf der anderen Seite ein menschlich-maschinelles Etwas, das in den Talenteschmieden und Leistungszentren so lange optimiert wird, bis alle Verbrauchspotenziale ausgeschöpft sind. Viele der nicht so gut bemittelten SpitzensportlerInnen zehren fast ausschließlich vom sozialen Benefit, den Glücksgefühlen, Euphorieschüben und Medaillenträumen, während sie gleichzeitig körperlich und psychisch ausgezehrt werden. Tatsächlich sind SpitzensportlerInnen vor allem Vorbilder für den Leistungs- und Wachstumswahn der Altvorderen, Kräfte und Potenziale bis über die physische und psychische Erschöpfungsgrenze hinaus zu verschleudern. Sie sind damit Geschöpfe einer kapitalistischen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, die sich vor dem Hintergrund aktueller Umwelt- und Klimakrisen sowie der Aufrüstung zum Krieg an den Rand ihrer Selbstzerstörung gebracht hat.

In der Lesart von AD indes muss man schon dopinggeschädigt oder den teils drastischen Trainingsregimen im Nachwuchsbereich anderer Länder ausgesetzt sein, um als ausgebeutet zu gelten. Dabei sollte doch längst klar sein, dass zum Beispiel "Doping" im wesentlichen eine Ablenkungsdiskussion darstellt, um den vermeintlich humanen Hochleistungssport zu rechtfertigen. Die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen, denen KaderathletInnen im Rahmen des Anti-Doping-Regimes unterworfen werden und die sich der normale Bürger in demokratischen Gesellschaften kaum gefallen ließe, finden in der Öffentlichkeit kaum noch Erwähnung, schon gar nicht in der Analyse von AD - so sehr sind die repressiven Strukturen der spitzensportlichen Leistungsgenese bereits vergesellschaftet.

Ausgeblendet wird zudem, dass SpitzensportlerInnen nur das Produkt von leistungssportlichen Ausleseprozessen sind, deren Bodensatz aus Fallengelassenen, Gestrandeten und Frühgeschädigten so gut wie keine mediale und gesellschaftliche Beachtung findet, während eine kleine Minderheit von etwa 10.000 Kaderathleten in Deutschland fast alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Die Kritik am Spitzensport ist normalerweise systemimmanent. Weil sich trotz enormer finanzieller Aufwüchse bei der Spitzensportförderung nicht die geforderten Medaillenerträge einstellten und die einfache Gleichung "mehr Geld = mehr Medaillen" nicht aufgegangen ist, entsteht vielfach Frust und Druck im Fördersystem. Um das zu ändern, plädiert AD für Kriterien, die individuellen Leistungssteigerungen und Gemeinwohlpotenzialen einen höheren Wert beimessen. "Oft ist es die Kombination aus sportlicher Leistung, Persönlichkeit und die dahinterstehende Geschichte der Athletinnen und Athleten, die die Menschen inspiriert und in Erinnerung bleibt", so Johannes Herber. [2] Nicht mehr die staatliche Medaillenfixierung, sondern die bewusste Gestaltung von Legitimation und Mehrwerten der öffentlichen Spitzensportförderung soll verstärkt in den Fokus rücken. "Dies macht eine Public Value Proposition ("Gemeinwohlversprechen") für den Spitzensport nötig. Es geht darum, wie mit Leistungen (Output) wohlfahrtssteigernde Mehrwerte (Impacts) gehoben werden können."

Die zum Teil beklagte, aber doch akzeptierte "Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Athlet*innen" könnte laut AD noch um den Ausbau der "Persönlichkeitsentwicklung" bei der Elitenförderung ergänzt werden. "Athlet*innen mit starken Persönlichkeiten können ihren Leistungen eine qualitativ höhere Wertigkeit verschaffen", glaubt AD. Bei der Mittelverteilung könnten zudem verstärkt gemeinwohlsteigernde Potenziale von Disziplinen zum Tragen kommen, um gesellschaftliche Mehrwerte auszuschöpfen. Indikatoren zur sozialen Akzeptanz und subjektiven Wahrnehmung des Spitzensports würden zusätzlich Aufschluss über den Legitimationsgrad der staatlichen Maßnahmen geben und Rückschlüsse zu Handlungsbedarfen zulassen, um die Unterstützung der Steuerzahler*innen nachhaltig zu sichern, schreiben die Autoren, die zudem betonen, dass das keine Absage an das Bekenntnis zu Höchstleistungen sei. "Es ist eine Ansage, den Spitzensport für die Zukunft zu stärken. So könnten neue Förderkriterien entstehen, die den gesamten Wert unserer Leistung - Medaillen und Gesellschaftsnutzen - abbilden."

Mit anderen Worten: Die staatliche Spitzensportförderung soll nicht mehr nur an den herkömmlichen Kriterien wie sportlichen Leistungen, Medaillenchancen oder anderen Erfolgskennziffern festgemacht werden. Jetzt sollen auch noch die sozialen Potenziale der Leistungssubjekte gemessen, verglichen und auf die Waagschale von "Gesellschaftsnutzen" oder "wohlfahrtsmaximierender Wirkung" gehoben werden. Die vollständige Erfassung, Inwertsetzung und Verfügbarmachung des Sozialen - verklärt als ganzheitliche Förderung - lässt grüßen! Genau das, was sich bislang nicht im Rahmen exakter Messwerte und vergleichender Kenngrößen darstellen und in Konkurrenzkämpfen gegeneinander ausspielen ließ, soll nun ebenfalls evaluiert werden und als Kriterium in das Förder- und Legitimationsschema des Spitzensports einfließen. Objektivierte Höchstleistungen auch bei der individuellen Persönlichkeitsentwicklung und nationalen Gemeinwohlproduktion - das kann ja heiter werden!

Anscheinend hat sich die deutsche Athletenvertretung bei der nationalpatriotischen Erhebung noch nicht genug hervorgetan. Anstatt unterschiedslos und solidarisch die Interessen ihrer Klasse, also aller internationalen Athleten, zu vertreten - was man ja noch halbwegs verstehen könnte -, hatte sich AD nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine als verlängerter Arm der deutschen Außenpolitik produziert und sich rigoros für Sanktionen gegen russische und belarussische SportlerInnen ausgesprochen. Dabei können die russischen und belarussischen Athleten genauso viel oder wenig für den Krieg wie die deutschen Athleten. Inzwischen ist allerdings klar, dass sowohl die Sanktionspolitik der Ampelkoalition als auch der Wirtschaftskrieg gegen Russland die eigene Bevölkerung schwer schädigt. Der einfache Sport ist besonders von der Energiekrise und den Auswirkungen der Russlandsanktionen betroffen, ohne dass Ross und Reiter benannt und die organisierte Stimmungsmache gegen den russischen und belarussischen Sport durch deutsche Eliteathleten kritisiert werden.

Um es klar zu sagen: Der nationale Lobbyverein "Athleten Deutschland e.V." vertritt nicht SportlerInnen-Interessen im Allgemeinen, sondern die förderpolitischen Interessen einer privilegierten Elite von deutschen Athletinnen und Athleten. Wer als SportlerIn keine Spitzen- oder Profisportambitionen hat und somit auch keinen Status als aktueller oder ehemaliger Bundeskaderathlet besitzt, kann dem Lobbyverein als ordentliches Mitglied nicht beitreten, was logischerweise impliziert, dass seine/ihre Interessen, Positionen und Ansichten dort nicht repräsentiert werden. Zwar gibt sich der Verein den Anschein, im Sinne "des Sports" und "der Athlet*innen" zu sprechen, zumal dort auch Projekte angeschoben werden, die Auswirkungen auf alle Sporttreibenden haben (siehe z.B. "Safe Sport" gegen Gewalt und Missbrauch im Breiten- und Leistungssport), doch das sollte den Blick nicht darauf verstellen, dass KaderathletInnen auch Interessen verfolgen, die im diametralen Verhältnis zu jenen von Amateur-, Hobby-, Breiten-, Freizeit- oder Gesundheitssportlern stehen, die zum Beispiel gerade die auf allen gesellschaftlichen Ebenen orchestrierte Sanktionspolitik der Bundesregierung und ihrer VorzeigesportlerInnen auszubaden haben.

Fußnoten:

[1] https://athleten-deutschland.org/wp-content/uploads/AD_Warum-ist-es-uns-das-wert_140822.pdf. 15.08.2022.

[2] https://athleten-deutschland.org/ein-neuer-gesellschaftsvertrag-fuer-den-spitzensport-athleten-deutschland-legt-analyse-zur-gretchenfrage-der-staatlich-gefoerderten-spitzensportentwicklung-vor/. 15.08.2022.


18. September 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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