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BÜHNE/017: Die Geburt des politischen Kabaretts in Deutschland (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2021

"Was ist das, wenn's fertig ist?"
Die Geburt des politischen Kabaretts in Deutschland

von Dirk Kohn


"Dieses Berlin, kreisende Weltfabrik", schwärmte Else Lasker-Schüler zu Beginn der 1920er Jahre. Und tatsächlich: Tempo, Modernität und Weltoffenheit bestimmten das Leben in der Hauptstadt - einerseits; andererseits trieben aber auch Inflation und bitterste Armut viele Menschen in die Verzweiflung. "Golden" waren diese Jahre nur für die allerwenigsten. Und dennoch, ein Großteil der Menschen war nach wilhelminischem Korsett, Kriegsangst und überstandener Spanischer Grippe regelrecht vergnügungssüchtig. In Berlin schossen folgerichtig in wenigen Jahren unzählige Tanzpaläste, Revuen, Theater und Bars aus dem Boden. Politisch taumelte das Land zwar eher durch die Weimarer Republik und übte - frei nach Heinrich Heine - den "Tanz auf dem Vulkan", (unterhaltungs-)kulturell stand es aber - vor allem in der Hauptstadt - in voller Blüte.

Mittlerweile hatte sich auch, als Gegenentwurf zu den großen Revuen, die "Kleinkunst" in Berlin etabliert. Kurz nach der Jahrhundertwende schwappte das "Cabaret" nach Deutschland, mit dem die Besucher der Weltausstellung 1900 in Paris erstmals in Kontakt gekommen waren. Diese neue Form der Unterhaltung begeisterte breite Bevölkerungsschichten, bot meist Volkstümliches, aber mit Niveau. Persiflagen, oft improvisiert, satirische Chansons, Parodien, Tanz und Puppenspiel. Dass die großen Namen jener Zeit wie Emile Zola, Victor Hugo oder Eric Satie die Texte und Kompositionen lieferten, trug wesentlich zum Erfolg bei.

Auf dem Pariser Montmartre stand die Wiege des Cabarets und Aristide Bruant war einer ihrer ersten Stars. Zuerst noch als Ensemblemitglied im ersten Theater dieser Art überhaupt, dem Chat noir des Rodolphe Salis, tätig, präsentierte er ab 1885 auf eigener Bühne im Le Mirliton seine Chansons, die schon recht sozialkritisch und gegen die Bourgeoisie gerichtet waren. Berühmtberüchtigt waren aber vor allem seine Publikumsbeschimpfungen.

In Deutschland gebührt wohl den Elf Scharfrichtern in München "das Erstgeburtsrecht der deutschen Kabarett-Familie", wie Klaus Budzinski 1961 in Die Muse mit der scharfen Zunge vermerkt, der ersten Gesamtdarstellung der deutschen Kabarettgeschichte. Die Truppe, die am 19. April 1901 im Hinterzimmer einer Gaststätte ihr erstes Programm präsentierte, wurde allerdings ihrem provokanten Namen nicht wirklich gerecht. "Die Einschränkungen der Zensurbehörde hinderten sie daran, jenen kritischen Ton zu entwickeln, den wir heute mit dem Kabarett assoziieren", schreibt Judith Kemp 2017 in ihrer "Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett" (Ein winzig Bild vom großen Leben). Das sogenannte "literarische Cabaret" jener Zeit in Deutschland war ganz überwiegend noch frei von politischen Anspielungen.

Zum eigentlichen Zentrum der deutschen Kabarettszene entwickelte sich schnell Berlin. Ebenfalls 1901 eröffnete dort Ernst von Wolzogen mit dem Überbrettl die erste Kleinkunstbühne. In Anlehnung an Nietzsches "Über-Menschen" sollte es das gängige Brettl, also das rein unterhaltende Vergnügungsetablissement auf ein höheres literarisch-künstlerisches Niveau heben. Das gelang zwar, aber die meisten Bühnen hielten sich, meist aus finanziellen Gründen, nicht lange. Dennoch gab es zwei Jahrzehnte später allein in Berlin bereits fast 40 Kleinkunstbühnen, doch fehlte immer noch, im Gegensatz zum französischen Vorbild, der politische Biss. Die Zensur war zwar abgeschafft, "aber man merkt nichts davon", notiert Kurt Tucholsky noch 1919. Doch zu Beginn der 20er Jahre nehmen dann auch auf deutschen Bühnen die kritischeren Töne immer mehr zu. Warum?

Zum einen eröffnet die Weimarer Republik völlig neue Freiräume, zum anderen entwickelt sich nun aber auch der eigene Anspruch der Künstlerinnen und Künstler: Kabarett soll nun endlich nicht allein unterhalten, sondern auch zeit- und gesellschaftskritisch, politisch-literarisch anspruchsvoll daherkommen. So mancher konnte sich darunter noch nicht so recht etwas vorstellen. Friedrich Hollaender etwa, der große Komponist, Regisseur und Theaterleiter war zunächst skeptisch: "Ein politisch-literarisches Cabaret? (...) Schön, gut, fein, einverstanden, aber was ist das, wenn's fertig ist? (...) Alle drei Sachen auf einmal? Klingt wie: Hering ist gut, Schlagsahne ist gut - Wie gut muß das erst zusammen schmecken." Seine Skepsis wich aber bald der Begeisterung und Hollaender wurde in den Folgejahren musikalischer Leiter an mehreren Berliner Kabarettbühnen.

Max Reinhardt, der große Mann des deutschen Theaters, eröffnete im Dezember 1919 im Keller des Großen Schauspielhauses mit seinem Schall und Rauch das erste Kabarett dieses neuen Typs. Die Programme spiegelten bereits eine kritisch-linke Haltung wider, doch die Kritik war noch sehr verhalten. Das Kabarett ist zwar "das Protestgenre schlechthin", so Judith Kemp in Lied und populäre Kultur, doch bis in die "20er Jahre richtete sich der Protest (...) in erster Linie gegen das Bürgertum mit seinen - aus Sicht der Kabarettisten - überkommenen Werten. Erst mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung und der Gründung linker Kabarett- und Agitpropgruppen erfuhr die Kleinkunst eine völlig neuartige agitatorische Ausrichtung".

Hinzu gesellte sich der feministische Zeitgeist jener Jahre, die "neue Frau" betrat die Bühne, die sich in der Zeit der Abwesenheit der Männer an der Kriegsfront weitgehend emanzipiert hatte - zumindest in den Metropolen. Und so verwundert es auch nicht, dass 1920/21 die Kabarettprogramme nicht nur politischer wurden, sondern dass zwei Frauen die prägenden politisch-kritischen Bühnen in Berlin etablierten: die Schauspielerinnen und Sängerinnen Rosa Valetti und Trude Hesterberg.

Die Jüdin Valetti, "eine kompromisslose Kämpferin gegen Militarismus und Reaktion" (Ute Scheub), begann am 23. Dezember 1920 mit der Eröffnung des Cabaret Größenwahn am Kurfürstendamm. Sie beschäftigte als Hausautor Kurt Tucholsky, dessen Antikriegstexte sie als Lieder musikalisch vertont auf die Bühne brachte. So schrieb er beispielsweise für sie die Rote Melodie (Musik: Friedrich Hollaender), die vor einer neuerlichen Kriegsbegeisterung warnte und den reaktionären General Ludendorff ins Visier nahm. Daneben gab es auch Chansons über Menschen am Rande der Gesellschaft (Obdachlosenasyl oder Hollaenders Lieder eines armen Mädchens), weshalb der Kritiker Max Herrmann-Neiße über Valetti urteilte: "Ihr besonderes Gebiet ist dort, wo aus einer missachteten oder misshandelten Kreatur der große Aufschrei der Empörung, des Hasses oder Trotzes dringt (...)." (Deutsches Kabarettarchiv). Für die "Rote Rosa" kamen Kompromisse nicht infrage. Schnell avancierte daher das Cabaret Größenwahn zum Inbegriff des linksengagierten Kabaretts, musste allerdings 1922 aus wirtschaftlichen Gründen auch schon wieder schließen. Rosa Valetti flüchtete 1933 vor den Nazis nach Wien, starb dort 1937.

Anfang der 1920er Jahre nahm das Chanson noch eine so zentrale Rolle im Kabarett ein, dass es kaum verwundert, dass auch Trude Hesterberg zuerst als Chansonniere und Operettensängerin auftrat. Doch Anfang der 1920er Jahre galt ihr Hauptaugenmerk einem eigenen Haus. Auf der Suche nach einer geeigneten Location stieß Hesterberg in der Berliner Kantstraße auf den vormaligen Restaurationsbetrieb des Theaters des Westens. Optisch sagte ihr die "Künstlerkneipe" überhaupt nicht zu, glich doch das sogenannte "Parsifalzimmer" mit seiner wagnerianischen Innenausstattung eher einem Kuriositätenkabinett. Ungeachtet dessen eröffnete sie hier am 15. September 1921 die Wilde Bühne und wurde so mit 29 Jahren jüngste Theaterleiterin Berlins.

Die Wilde Bühne entwickelte schnell eine zuvor ungekannte Schärfe, sie "(...) war einesteils das Podium, auf dem wir alles, was uns an der aufgedonnerten Raffkezeit nicht paßte, zur Sprache brachten, und gleichzeitig war sie auch die frechste Plattform für scharfe Zeitkritik, für die Auseinandersetzung mit allen politischen und sozialen Problemen jener Zeit", erinnerte sich Trude Hesterberg später.


Zwischen Wedding und Montmartre

Zwei Monate nach Eröffnung beschreibt Joseph Roth einen Abend in der Wilden Bühne im Berliner Börsen-Courier so: "Das literarische Kabarett Berlins fängt hier an, sich eine eigene Physiognomie zu schaffen. Noch ist jede einzelne Nummer ein Versuch. Noch schwankt man zwischen Wedding und Montmartre und schlägt zwischendurch einen harmloseren Ton an, den das Publikum auch gerne hört. Aber aus all den gepfeffert-erotischen, sozial-revolutionären und anspruchslos-heiteren Elementen entwickelt sich deutlich ein eigener deutscher Kabarettstil, weniger akademisch als der Montmartre und dennoch literarisch wertvoll. (...) Das deutsche Kabarett muß sich nun endlich entschließen, den didaktischen Ton abzulegen. Das Kabarett ist pointierte öffentliche Kritik, wie ein literarisches Witzblatt, und keine Besserungsanstalt." (walter-mehring.info)

Trotz der anfänglich etwas moralisierenden Tastversuche brachten diese neuen Bühnen aber doch einen frischen Wind in die Kabarettlandschaft, nicht zuletzt auch, weil Trude Hesterberg wie auch Rosa Valetti, vielen jungen und unbekannten Künstlern eine Chance gab. So veröffentlichte Erich Kästner auf der Wilden Bühne unter dem Pseudonym Ernst Fabian erste Texte. Und Bertolt Brechts erster Berlinauftritt fand ebenfalls dort statt - und blieb vielen lange in Erinnerung: "Es wurde ein solider, handfester Skandal mit Pfiffen und allem Drum und Dran", so Hesterberg in ihren Erinnerungen: "Als er wieder nach vorn kam, sich ruhig auf seinen Stuhl setzte und mit der Strophe begann: 'Und als der Krieg im vierten Lenz / Keinen Ausblick auf Frieden bot / Da zog der Soldat die Konsequenz / Und starb den Heldentod.' ging der Tumult los. Ich mußte notgedrungen den Vorhang fallen lassen, um dem Radau ein Ende zu machen, und Walter Mehring ging vor den Vorhang und sagte jene bedeutsamen Worte: 'Meine Damen, meine Herren, das war eine große Blamage, aber nicht für den Dichter, sondern für Sie! (...)'"

Drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und des Deutschen Kaiserreiches kam ein satirisch-kritischer Umgang damit bei vielen noch nicht gut an. Die Legende vom toten Soldaten wurde damals von der politischen Rechten als Beleidigung des deutschen Frontsoldaten empfunden. Doch derlei Gegenwind konnte der Wilden Bühne nichts anhaben, die 175 Plätze waren immer besetzt und Finanznöte kannte das Haus nicht.

Dennoch erlosch der hellste Stern am Berliner Kabaretthimmel jener Zeit schon nach gut zwei Jahren wieder. Eine schadhafte Sicherung löste am Vormittag des 16. November 1923 einen Kabelbrand aus und das Theater brannte völlig aus. Trude Hesterberg fehlten in der Folgezeit die Kraft und auf dem Höhepunkt der Inflation auch die Mittel für einen Wiederaufbau. Sie gab auf und nahm wieder Engagements als Sängerin und Schauspielerin an. Der Komiker Wilhelm Bendow wurde ihr Nachmieter, führte die gerade erst begonnene Kabaretttradition mit seinem Tütü fort. Schließlich leitete Friedrich Hollaender von 1930 bis zur Zwangsschließung durch die Nazis hier sein Tingeltangel-Theater. Aber das politisch-literarische Niveau der Vorgängerin erreichten sie nicht mehr.

Vor 100 Jahren hielt das Politische zwar Einzug ins Kabarett, dennoch war es in den 1920er Jahren unpolitischer als sein Ruf, den es später bekam. Die Idee des rein politisch-literarischen Kabaretts konnte sich zu jener Zeit noch nicht wirklich gegen die Konkurrenz der reinen Unterhaltungstheater durchsetzen, die kleinen Bühnen agierten zumeist finanziell am Abgrund. Das finanzstärkere Publikum verirrte sich nur selten dorthin, weil es ja oft selbst zur Zielscheibe des Spotts wurde, für den anderen Teil wiederum war ein Kabarettbesuch aufgrund von Inflation und Arbeitslosigkeit oft ein unbezahlbarer Luxus. Einige, wie das Schall und Rauch, richteten daraufhin ihr Programm am Massengeschmack aus und gingen ihres politisch-künstlerischen Niveaus und ihrer Bedeutung schnell verlustig.

Die Weimarer Republik brachte in der Folgezeit noch eine Reihe weiterer politisch-literarischer Kabaretts hervor, etwa die 1929 von Werner Finck und anderen in Berlin gegründete Katakombe oder die noch am 1. Januar 1933 von Erika und Klaus Mann, Therese Giehse und Markus Henning in München ins Leben gerufene Pfeffermühle. Nach und nach wurden diese Häuser aber geschlossen oder gingen ins Exil, wo die meisten auch nicht lange überlebten. Erst nach 1945 erwachte die deutsche Kabaretttradition, auch mit Unterstützung der Alliierten, zu neuem Leben.


Dirk Kohn, Redaktion NG/FH, ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2021, S. 76 - 79
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

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