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INTERNATIONAL/014: William Kentridge - The Head & the Load (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 4, Juli-August 2018

Südafrika: Theater
The Head & the Load

von Jürgen Langen


William Kentridges neues Werk in der Tate Modern in London uraufgeführt. Skulptur, Gesang und Schattenspiel erzählen die Geschichte von 1,5 Millionen Afrikanern, die während des ersten Weltkrieges als Träger und Boten gearbeitet haben. "The head and the load are a trouble for the neck" / "Des Nackens Leid sind Kopf und Last", ist ein altes ghanaisches Sprichwort, das William Kentridge zum Titel seines neuen Projektes inspirierte.


Der Erste Weltkrieg ist anlässlich des 100. Jahrestages seines Endes besonders in den angelsächsischen Medien allgegenwärtig. Dass der Krieg auch in Millionen Opfer in Afrika forderte, ist kaum noch präsent. Nicht in Europa und auch nicht in Afrika.

Rund zwei Millionen Menschen aus ganz Afrika haben die Europäer während des Ersten Weltkriegs direkt in ihre Kampfhandlungen einbezogen - in Europa oder auch auf afrikanischem Boden. Anfangs gab es noch Afrikaner, die sich wegen der Aussicht auf ein bescheidenes Einkommen freiwillig meldeten; ab 1915 gingen die Europäer jedoch dazu über, tausende afrikanische Männer zwangsweise zu verpflichten. Allein die Franzosen schickten aus ihren Kolonien in West- und Nordafrika 450.000 afrikanische Soldaten an die Front gegen Deutschland.

Der südafrikanische Künstler William Kentridge erzählt jetzt in einem mutigen und schwer zu klassifizierenden Theaterstück in der Tate Gallery of Modern Art (Tate Modern) in London die Geschichte der hunderttausenden Afrikaner, die vornehmlich als Boten und Lastenträger am Krieg teilnehmen mussten.

The Head & the Load ist bisher wohl William Kentridges am schwersten einzuordnendes Projekt bzw. installative und szenische Musiktheaterarbeit. Der Künstler verbindet eine Neukomposition von Philip Miller, die New Yorker Orchesterformation "The Knights", ein internationales Ensemble von Performern, Tänzern und Sängern, ein Grammophon, sich überschneidende Filmprojektionen und Schattenspiel zu einer gigantischen Prozession, die jeder Genrezuweisung widerstrebt und die in einem traditionellen Theaterraum nicht gezeigt werden könnte.

Der aus Johannesburg stammende Kentridge hat sich schon früh mit sozialem und ethischem Unrecht in seinem Heimatland auseinandergesetzt. Die Apartheid und die Folgen der Apartheid sowie allgemeiner: Kolonialismus, Rassismus und Totalitarismus waren und sind seine Themen in der Bildenden Kunst wie in seinen Theater- und Opernarbeiten. Erst arbeitete er mit Animationsfilmen und Zeichnungen. Später auch mit Skulpturen, Filmen, Videos und Installationen. Die Möglichkeiten von Theater und Oper nutzt er brillant.

William Kentridge stammt aus einer jüdischen Familie, die als Rechtsanwälte Schwarze in Apartheids-Prozessen vertraten. Seine Mutter Felicia Kentridge war Mitbegründerin des Legal Resources Centre, sein Vater Sydney Kentridge unter anderem Verteidiger im Treason Trial. William Kentridge studierte in Südafrika und Europa, stellte Kunst in Galerien aus und arbeitete in Theater-Projekten des Resistance Art Movement.

1976 schloss Kentridge ein Studium der Politik und Afrikanistik an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg ab. 1976 bis 1978 studierte er an der Art Foundation in Johannesburg. In den 1980er-Jahren ging er an die Theaterschule Ecole Jacques Lecoq in Paris und betätigte sich als Schauspieler, Designer und Theaterregisseur.

Für "The Head & the Load" arbeitete er mit den Komponisten Thuthuka Sibisi und Philip Miller zusammen, um an die weitgehend unbekannte Episode der jüngeren Geschichte zu erinnern.

In einem Interview anlässlich der Uraufführung des Stückes sagte Kentridge: "Zwischen einer und zwei Millionen Afrikaner waren am Ersten Weltkrieg beteiligt, aber nur wenige von ihnen waren Soldaten als solche. In erster Linie handelt es sich um Boten oder Träger ... Der europäische Krieg hatte ein größeres Echo in Afrika, als man denkt ­..."

Die Ursprünge des neuen Projekts liegen in Kentridges, wie er selbst bemerkte, mangelnder Kenntnis über den 1. Weltkrieg. Schnell fand er bei seinen Recherchen heraus, dass wegen der Tsetsefliege keine Lasttiere benutzt werden konnten. Anstatt also Kanonen auf den Rücken von Maultieren zu legen, wurden sie demontiert und auf den Rücken von Männern gelegt.

Um ein Boot zu transportieren, wo es keine Eisenbahnlinie gab, musste es in tausende und abertausende Einzelteile zerlegt und dann von Menschen geschleppt werden. Die Bedingungen, unter denen die schwarzen Träger zu leiden hatten, waren unvorstellbar und die Gewaltmärsche oft tödlich.

Mitkomponist und Musikdirektor des Projekts Thuthuka Sibisi unterstreicht, dass der Konflikt zwischen den europäischen Mächten und ihre Begegnung mit den afrikanischen Kulturen eine hoch inspirierende musikalische Palette bot. Afrikanische Soldaten kämpften für die britische Krone oder auch für die Deutschen oder die Belgier - Grundlage für komplexe musikalische Kompositionen, ja musikalische Gespräche. Traditionelle afrikanische und Kriegsgesänge treffen auf moderne und westliche Musik, indem sie organisch weiterentwickelt wurden, oder Walzermelodien, auf afrikanische Hymnen. Heraus gekommen ist schließlich eine musikalische Collage. Manchmal mehr Kollision als Komposition.

Die wohl musikalischste Sequenz ist, wenn "God Save the King", gesungen von einer einzelnen Sopranstimme, sich zu einem traditionellen Zulu-Chor transformiert.

Kentridge ist davon überzeugt, dass erst der 1. Weltkrieg die Ziele der Berliner Kongo-Konferenz von 1884/1885 wirklich manifestierte und die Konferenz zu einem für die Kolonialmächte erfolgreichen Abschluss brachte. Man konnte Deutschland erfolgreich beim "Rennen um die afrikanischen Kolonien" ausbooten.

Es wird vermutet, dass etwa 100.000 Männer bei der Arbeit als Waffen- und Munitionsträger für die Deutschen - und ebenso für die Briten - starben. Aber es gibt bisher wohl keine allgemein akzeptierten Zahlen.

Das Stück zeigt auch, dass viele Afrikaner damals glaubten, dass die gegenüber den Kolonialherren bewiesene Loyalität während des Krieges erste Schritte in Richtung Unabhängigkeit am Ende des Krieges bringen könnte - ein fataler Irrtum. Im Stück muss diese Erfahrung eine der Hauptfiguren, der antikoloniale Aktivist John Chilembwe, schmerzvoll machen.

Afrikas Führer dachten lange, sie würden mehr Landrechte bekommen, besser behandelt werden und Afrika würde beginnen, sich zu verändern, wenn sie am Krieg der Europäer teilnähmen. Das Stück zeigt, dass die Enttäuschung über die Nichtanerkennung der Kriegshilfe durch die europäischen Kolonialmächte nur den Samen für Veränderung hergab. Bis zur Befreiung und Unabhängigkeit war (und ist) es noch ein langer Weg.

Das Werk war in Deutschland während der Ruhrtriennale im August zu sehen und wird im Dezember in New York ausgestellt, aber William Kentridge freute sich besonders auf die Premiere in der riesigen Turbinenhalle der Tate Modern mit seiner fast 60 Meter langen Bühne, die der langen Prozession hin zum Krieg genügend Raum gibt.

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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
46. Jahrgang, Nr. 4, Juli-August 2018, S. 40-41
Herausgeber: informationsstelle südliches afrika e.V. (issa)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2018

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