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SCHAUSPIEL/005: "Der Stellvertreter" im Münchner Volkstheater (Ingolf Bossenz)


Passion eines Zeugen der Wahrheit

»Der Stellvertreter« im Münchner Volkstheater

von Ingolf Bossenz, 28.01.2012


»Ich habe nicht die geringste Illusion, dass ich da mit meinem Stück irgendetwas bewirke«, sagte Rolf Hochhuth, als er im April 1963 vom »Spiegel« zu den Plänen der katholischen Kirche befragt wurde, Papst Pius XII. selig- und heiligzusprechen. »Allerdings«, so ergänzte der damals 32-jährige Dramatiker, »bin ich überzeugt, dass man sich diesen Plan noch sehr lange überlegen wird.«

In der Tat: Heute, fast 49 Jahre später, ist Pius XII. immer noch kein Seliger, obgleich der aktuelle Pontifex maximus, Benedikt XVI., das Verfahren mit Hochdruck vorantreibt. Und noch immer steht Hochhuths Schauspiel »Der Stellvertreter« wie ein erratischer Block inmitten der kontroversen Debatten, die den Streit um das historische Bild dieses Papstes bestimmen, der sich während des Zweiten Weltkriegs zu keiner öffentlichen Verurteilung der Judenverfolgung und -vernichtung durch das NS-Regime bereit fand.

Allerdings sind 49 Jahre nach der Uraufführung in Westberlin (Regie: Erwin Piscator) Inszenierungen des »Stellvertreters« kein von Protest, Randale, Strafanzeigen sowie kirchlichen und politischen Interventionen umtoster Skandal mehr. Im Gegenteil: Bei der Premiere der Neuinszenierung im Münchner Volkstheater saßen am Mittwoch Autor Hochhuth und Vertreter der Erzdiözese München-Freising im Zuschauersaal.

Diese friedliche Koexistenz mag befördert worden sein durch den Regisseur, Volkstheaterintendant Christian Stückl, der als ausgewiesener Fachmann für das Katholische gilt und bereits dreimal als Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele brillierte (1990, 2000, 2010).

Doch wer die Hoffnung oder den Verdacht hegte, der 50-jährige Katholik Stückl werde den »Stellvertreter«, dieses Urstück der Papstanklage, entschärfen oder verwässern, musste diesen Irrtum spätestens an der Stelle erkennen, als der Jesuitenpater Riccardo Fontana den über die gegen Europas Juden laufende Massenmordmaschinerie bestens informierten Papst anklagte: »Ein Stellvertreter Christi, der das vor Augen hat und dennoch schweigt, aus Staatsräson, der sich nur einen Tag besinnt, nur eine Stunde zögert ... Ein solcher Papst ist - ein Mörder.« Mörder. Bei Hochhuth ist er ein »Verbrecher«. Es ist nicht nur eine Verschärfung, sondern vor allem eine Verdeutlichung

Denn eine Ursache des Vernichtungs-Antisemitismus der Nazis war der über fast zwei Jahrtausende gepredigte und praktizierte kirchliche Antisemitismus (der US-Politikwissenschafter Daniel Jonah Goldhagen nennt ihn eine »notwendige Ursache«). Dieser kirchliche Antisemitismus gründete in der Behauptung, die Juden als Volk seien die Mörder Christi. Mit seinem Mörder-Vorwurf gegen die höchste Autorität der katholischen Kirche zitiert Riccardo diese verhängnisvollste Doktrin, die bis heute in den Köpfen von Christen nistet.

Christian Stückl hat aus dem Mammutwerk Hochhuths ein dreistündiges Passionsspiel des 20. Jahrhunderts destilliert - über Bedrängnis, Leiden und Sterben in einem der größten Menschheitsinfernos. Das Schweigen des Papstes ist gleichsam die Folie, auf der sich die Tragödie, das - wie Hochhuth es nannte - »christliche Trauerspiel« entfaltet. Der junge Jesuit Riccardo, der den Heiligen Vater vergeblich zur Intervention für die verfolgten Juden drängt, stigmatisiert sich schließlich in seiner Verzweiflung selbst mit dem Davidsstern, um sich dem Transport der Todgeweihten anzuschließen - als Nachfolger jener testes veritatis (Wahrheitszeugen), die bei existenzieller Bedrohung die Wahrheit Gottes verkündigten.

Pascal Riedel spielt diesen Wahrheitszeugen in einer atemlosen, nachgerade besessenen Weise, die einen von Gott und Gewissen Getriebenen bis in die letzten Fasern den Widerstreit zwischen seiner selbst gewählten Mission und seiner abgrundtiefen Verzweiflung auskämpfen lässt. Einer Verzweiflung, der er an dem der Menschlichkeit fernsten Ort (»Wer hier erst weint, der ist verloren«) durch das Rezitieren von Paul Celans »Todesfuge« Ausdruck gibt.

Stückls Inszenierung macht aus der bisweilen dokumentarisch-agitatorisch überladenen Vorlage Hochhuths ein mit jeder Szene an Tempo gewinnendes Bühnenspiel, dessen furioses Finale in der Konfrontation zwischen Riccardo und dem sadistisch-intellektualistischen »Doktor« kulminiert. Ein dialogisches Duell in der Hölle von Auschwitz. Für Regisseure eine Gratwanderung, deren Gewagtheit nicht selten zur Streichung dieser Szene führte (Hochhuth selbst schrieb für die Aufführung in Basel 1963 einen anderen Schluss). Stückl besteht die Gratwanderung grandios. Vor allem wegen der ihr gesamtes Spielvermögen - und das ist in der Tat gewaltig - umsetzenden Akteure Pascal Riedel und Oliver Möller (Doktor).

Das Ringen zwischen Riccardo und dem Doktor gewinnt an zusätzlicher Brisanz, da Möller auch Darsteller von Pius XII. ist. Die Abfuhr, die sich der Jesuit beim Papst holte, wird nun noch dadurch gesteigert, dass ihn ausgerechnet der Herr der Krematorien hohnlachend auf die Scheiterhaufen verweist, die die Kirche über Jahrhunderte für die von ihr Verfolgten entzündete. Riccardo ist am Ende zerstört ob dieses Ausmaßes an personifiziertem Bösen, an Unmenschlichkeit und - Gottesferne. Halb nackt, geschunden, desillusioniert steht er vor seinem Peiniger, der sich zum Ankläger der Kirche aufschwingt. Ecce homo.

Die Hoffnung, die Riccardo bleibt, kommt denn auch eher aus dem Glauben an den Menschen denn aus dem Glauben an Gott, als er dem Doktor sagt: »Sie siegen nie, das macht Sie so geschwätzig: Ihresgleichen triumphiert nur - vorübergehend.«

Die Passion Riccardos, des Mannes, der sich selbst zum Juden erklärt (als Stellvertreter), wird im Stück zum Gleichnis der Passion der europäischen Juden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Verlassen, ausgeliefert, dem Tode geweiht. Das gelingt Stückl überzeugend, obwohl er mit der Italienerin Julia (Kristina Pauls) nur eine einzige der jüdischen Figuren in dem Schauspiel beließ. Durch diese Reduzierung hat die Aufführung zweifellos gewonnen.

Das Original, das in seinem beeindruckenden Umfang eine Vorstellung von rund acht Stunden beanspruchen würde, war seinerzeit mit seiner umfassenden Sicht durchaus geeignet, als unliebsam verdrängtes historisches Hintergrundwissen mit einem quantitativen Höchstmaß an emotionaler Darstellung zu vermitteln.

Stückl hat es durch behutsamen Einsatz von Mitteln und Konzepten des modernen Regietheaters verstanden, den Kernkonflikt (das Schweigen des Papstes) in keiner Weise abzuschwächen, ihn aber dennoch nicht plakativ in den Mittelpunkt zu stellen. Der Philosoph Karl Jaspers schrieb 1963: »Ich würde meinen, der Anspruch Hochhuths - nicht schweigen - gilt so intensiv für uns heute, dass ich fast sagen möchte, es wird ja viel zu viel geschwiegen. Nicht aus Angst vor dem Tode, sondern aus Angst vor Nachteilen, vor Unbequemlichkeiten.« Insofern sind die Figuren des Riccardo und des SS-Offiziers Kurt Gerstein (Max Wagner), der den Vatikan über die Judenvernichtung informierte, als Konterparts des schweigenden Papstes von ungebrochener Aktualität. Das unterstrich Stückl nicht zuletzt dadurch, dass er den Personen zwei heutige Studenten hinzufügte, deren eine die Passion Riccardos in einer Zeitreise als sein Alter Ego durchläuft.

Das Premierenpublikum honorierte das Angebot zum Nachdenken mit minutenlangem Applaus. Die Seligsprechung von Pius XII. wird das nicht verhindern. Die anwesenden Prälaten konnten ruhigen Gewissens mitklatschen.

Nächste Aufführungen: 30. und 31. Januar


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Januar 2012
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 28.01.2012
http://www.neues-deutschland.de/artikel/216832.passion-eines-zeugen-der-wahrheit.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2012