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SCHAUSPIEL/008: "Moses" am Passionstheater Oberammergau (Ingolf Bossenz)


Massen. Mörder? Moses!

Christian Stückl inszenierte am Oberammergauer Passionstheater den Auszug der Israeliten aus Ägypten

Von Ingolf Bossenz, 11. Juli 2013



Vor dem Abmarsch wird noch aufgeräumt. Denn: »JAHWE befahl den Auszug. Sie aber wollten sich satt fressen an den Fleischtöpfen Ägyptens.« Nun sind sie tot. Erschlagen auf Geheiß des Moses: »Nicht weichen werden wir vom Herrn, weder zur Rechten noch zur Linken.« Exitus statt Exodus.

Die »Säuberung« der eigenen Reihen - sie wird den Weg der israelitischen Massen ins Gelobte Land prägen. Makel und Menetekel. Beim großen Zug Richtung Freiheit bleibt dem Einzelnen von Anfang an keine Freiheit der Wahl. Die toten Leiber, die den weiten Weg durch die Wüste säumen, sind nicht nur die von Kämpfern feindlicher Stämme: Es sind auch die der Zager, Zweifler, Abtrünnigen des eigenen Volkes. Wer nicht mit dem Herrn ist, ist gegen uns. »Der Eine Heiligste zieht aus zum Kriege«, spricht Moses.

Diesen Kriegszug kongenial in bewegte Bilder zu setzen, ist wohl kaum jemand so berufen wie der Oberammergauer Christian Stückl. Der international renommierte Regisseur und Intendant des Münchner Volkstheaters hat bereits drei Mal die ein Publikum aus aller Welt anziehenden Oberammergauer Passionsspiele inszeniert (1990, 2000, 2010).

Das Potenzial, das alle zehn Jahre unter Einsatz Hunderter Laiendarsteller der Gemeinde am Fuße des Kofel für Furore sorgt, speist nun auch in den Zwischenjahren Theaterereignisse, die an Opulenz und Originalität Ihresgleichen suchen: »Joseph und seine Brüder« nach Thomas Mann 2011, William Shakespeares »Antonius und Cleopatra« 2012. Regie auch hier: Christian Stückl.

Diesmal werden Vita und Wirken der wichtigsten Gestalt des Alten Testaments auf die 70 Meter breite, nach oben ins Offene gebaute Bühne gebracht - in einer Wuchtigkeit, die, ja, atemberaubend ist. Auch wegen der lodernden Flammen, zwischen denen Moses Gottes Willen erfährt und feindliche Heerscharen Tod und Verderben anheimfallen. Eine grandiose Firewall, die im Zeitalter exzessiver Cyber-Spionage mehr Respekt einflößt als Namensgleiches im Internet.

Den Funken, aus dem die Flammen schlugen, hat der deutsch-türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu an den Beginn des »Moses«-Dramas gestellt, das er gemeinsam mit seinem Koautor Günter Senkel exklusiv für das Oberammergauer Passionstheater verfasste. Es ist die Begegnung des am Hofe des Pharaos aufgewachsenen und sozialisierten Findelkindes Moses mit der Fron der Versklavten seines Volkes, der einst als Exilanten an den Nil gewanderten Hebräer. Moses' erste und gleichsam initiale Aktion: Einen ägyptischen Aufseher, der einen Israeliten misshandelt, erschlägt er. Die erste ungezählter Leichen, die fortan seinen Weg pflastern. Töten und töten lassen.

»Du befiehlst, dass wir nicht Leben nehmen. Aber ich töte und töte und töte - in Deinem Namen.« Moses ein Mörder? Mitnichten. Hat er doch durchweg gute Gründe für Grausames. Gottes Wille - der höchste Grund. Zugleich der tiefste Abgrund. »Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein«, schrieb Friedrich Nietzsche.

Über vierzig Jahre blickt Moses in diesen Abgrund. Lange genug, um ihn in sich selbst wiederzufinden. Treibend und getrieben, zweifelnd und verzweifelt, bewundert und befeindet, verehrt und verflucht. Ein zerrissener Mann führt ein zerrissenes Volk.

Carsten Lück, der bei der Passion 2010 mit einer überzeugenden Judas-Darstellung reüssierte, formt diese Zerrissenheit zu einer Figur, die fernab klischierter Bibelbilder einen durchaus zeitlosen Mann zeigt, der - muss. Egal, ob er will (oder nicht), ob er kann (oder nicht). »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe«, wird es - Jahrhunderte nach Moses - im Matthäus-Evangelium heißen. Das ist die Größe und zugleich die Tragik dieses Propheten. Er führt sein Volk aus Ägypten und in die Freiheit. Aber nicht, weil dieses Volk, sondern weil Gott es so will. Weil dieser seinem »auserwählten Volk« das Land Kanaan verheißen hat und es dahin führen wird - koste es, was es wolle.

Gemeinsam mit seinem Bruder Aaron, der Moses' und somit Gottes Willen in wirkungsvoll-würdige Rede setzt, erstickt Moses aufkommende Nostalgie, die die Wüstenwanderer mit Weichlichkeit zu zersetzen droht. Wo es um Gott, mithin um »die Sache« geht, ist kein Platz für Erinnerungen, wie man in Ägypten »im Schatten der Dattelpalmen« lebte, »die Süße von Honig und Feigen« schmeckte, »am Ufer des Nils« die Abendkühle genoss. Frederik Mayet (Jesus in der Passion 2010) gelingt es eingängig, als Priester Aaron das intellektuell-ausgleichende Element zum kantigen Charakter des Moses aus seiner Rolle zu destillieren. Ein Mann wohlgesetzter Worte.

Doch wenn Worte nicht reichen, ist kein Raum für Zimperlichkeit. So nach der orgiastisch-ordinären Anbetung des Heidengottes Baal, des Goldenen Kalbes - das wohl faszinierendste der schaurig-schönen Bilderarrangements der Inszenierung. Wie vom »Höllenbrueghel« geschaffen. Endend in einer Orgie der Vernichtung. »Wer beim Herrn ist, komme zu mir«, verfügt Moses. Und: »Blut soll fließen!« Die Bibel schreibt dazu: »Die Söhne Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und es fielen an dem Tage vom Volk dreitausend Mann.« Baal-Last ist Ballast. Es gibt nur einen Gott. Und eine Lehre, die allmächtig ist, weil sie wahr ist.

Dreitausend Tote. Längst nicht genug für den »Einen Heiligsten«, der »sein« Volk weiter durch die Wüste treibt, vier Jahrzehnte, der Lügner und Lästerer tot umfallen und seinen »Gesandten« Moses in der Willkür des Gottes-Wahns nicht zur Ruhe kommen lässt: »Was tat ich, dass der Herr mich straft? Was ließ ich ungetan?« Da hilft nur: trial and error. Ein teures Verfahren, das Moses in immer neue Widersprüche und Gegensätze bringt. Die Macht ist sein Los. Aber allein ist er machtlos. Gewalt im Namen Gottes bringt ihm Lob, Liebe nicht. Dass Moses sogar verdächtigt wird, den eigenen Bruder Aaron erwürgt zu haben, ist da nur folgerichtig. Vergniauds deprimiertes Diktum, die Revolution fresse, Saturn gleich, ihre eigenen Kinder, könnte aus der Zeit des Exodus stammen.

Am Ende des Stücks ist das Gelobte Land in greifbarer Nähe. Moses selbst darf, wie ihm verheißen, nur hinübersehen, betreten darf er es nicht. Während seine Führer ihre Krieger sammeln und weiterziehen, bleibt Moses allein zurück. Am Ufer des Jordan. Inmitten erschlagener Feinde. Der Krieg hat erst begonnen.

»Moses« am Passionstheater Oberammergau ist kein religiöses Erbauungsstück. Obwohl, oder wohl gerade weil die Autoren Zaimoglu und Senkel nicht nur aus dem Alten Testament schöpften, sondern auch aus jüdischen Legenden und Überlieferungen. Dies in einer Sprache, für die die Charakterisierung »alt und schön« nicht banal, sondern das angemessene Prädikat ist. In Spiel umgesetzt von Darstellern, denen schauspielerische Leidenschaft keine Profession, aber Passion ist. Dies gilt besonders für die neben Moses und Aaron prägenden Personen wie den machtbesessen-ignoranten Pharao (charismatisch-kalt: Stephan Burkhart) und den in allen Lagern umtriebigen Magier Balaam (verschlagen-listig: Andreas Richter). Von den Frauenrollen sei die zwischen Zuneigung und Züchtigung schwankende Moses-Ziehmutter Bithiah (fürsorglich-streng: Andrea Hecht) genannt. Dass der gesprochene Text in dem überdachtem Zuschauerraum (2000 Plätze, beim Passionsspiel: 5000) der als weltgrößte geltenden Freilichtbühne bisweilen akustisch schwer verständlich ist, sollte den Ehrgeiz der Tontechniker herausfordern.

Gesamtkunstwerk ist, zumal im Wagner-Jahr, ein großes Wort. Oberammergau ist ein kleines Dorf. Dass beides - immer besser - zusammenpasst, ist Verdienst der Spielbesessenen, die, choreografiert von Regisseur Christian Stückl, ihrem großartigen Haus Sommertheater bescheren. Sommertheater, das mittlerweile undenkbar ist ohne Bühne und Kostüme Stefan Hageneiers. In »Moses« sind es verschiebbare Wände mit Wüstenlandschaft, die im Mittelteil den Blick auf eine Säulenhalle freigeben, aus deren Dunkel die Handelnden auftauchen und entschwinden. Die dominierende Farbe ist warmes Rostrot - wie die Berge des Sinai, aber auch wie geronnenes Blut. Hell die Kostüme der Israeliten, dunkel die Kleidung des Pharaonenhofes. Klare Farben, klare Fronten.

Die Kompositionen von Markus Zwink sind längst musikalisches Markenzeichen der Passion und geben (mit Chor und Orchester) auch »Moses« das Flair von - in bestem Sinne - großem Kino.

Doch damit nicht genug: Luis Trenker schrieb einmal über das Passionsspiel in Oberammergau, »das Dorf gehört dazu und der Wald und die Luft und der Atem der Berge. Es ist alles eins.« Das gilt auch für »Moses«. Ein Gesamtkunstwerk eben.

Nächste Aufführung am 19. Juli

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Juli 2013
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 13.05.2013
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/827095.massen-moerder-moses.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2013