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BERICHT/005: "Der Fall Esra" auf Kampnagel (SB)


"Der Fall Esra"

von Julia Barthel


Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Oktober 2007, das nach Meinung vieler Künstler der Zensur von Literatur Tür und Tor öffnet, löste unter Schriftstellern in ganz Deutschland eine Welle der Empörung aus. Das Gericht entschied zu diesem Zeitpunkt, die Verbreitung und Veröffentlichung des Romans "Esra" von Maxim Biller endgültig zu verbieten und stellte damit das im Grundgesetz verankerte Recht auf Kunstfreiheit in Frage. Dieser Beschluss beendete einen Rechtsstreit, der bereits kurz nach der Erstveröffentlichung des Werkes im Jahr 2003 seinen Anfang genommen hatte. Damals hatte die Ex-Freundin des Autors den Literaten und seinen Verlag, Kiepenheuer & Witsch wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten verklagt. Das Buch handelt nämlich von der tragischen Liebesgeschichte zwischen einem jüdischen Schriftsteller und einer türkischstämmigen Frau und korrespondiert in großen Teilen mit der Biographie des Verfassers. Die ehemalige Freundin von Maxim Biller glaubte, sich selbst deutlich in der Hauptprotagonistin "Esra" wiederzuerkennen. Sie behauptete, daß in dem Text ihre intimen Gedanken ebenso wie private, sexuelle Begebenheiten zwischen ihr und Herrn Biller künstlerisch ausgeschlachtet wurden. Auch ihre Mutter fühlte sich als Vorbild für einen herrschsüchtigen, dominanten Charakter mißbraucht, den der Autor in seinem Werk zur Zielscheibe für Spott und Hohn stilisiert hat.

Indem der Streit zwischen den Klägerinnen und dem Schriftsteller jahrelang durch mehrere Instanzen ging, erlangte der "Fall Esra" eine große, mediale Aufmerksamkeit und aus dem Roman wurde ein juristischer Grenzfall. Das Gericht hatte unter großem Druck das Recht auf Schutz der Intimsphäre für Privatpersonen gegen das Grundrecht auf Kunstfreiheit abzuwiegen. Schließlich entschied man, das Werk zu verbieten, weil die Parallelen zwischen der Figur der Esra in der Geschichte und ihrem realen Vorbild zu offensichtlich und vertrauliche Einzelheiten aus dem sexuellen Bereich zu wenig fiktionalisiert waren. Neben dem Verbot der Veröffentlichung wurden Maxim Biller und der Verlag auch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Klägerin verurteilt. Nach Lesart vieler deutscher Schriftsteller handelte es sich bei diesem Urteil allerdings um einen skandalösen Fall von Zensur, für den es keine haltbare Begründung gibt.

Die Hamburger Theaterregisseurin Angela Richter hat anläßlich des jüngsten Gerichtsurteils in dieser Sache ein Stück inszeniert, in dem die öffentliche Auseinandersetzung um künstlerische Freiheit und Privatsphäre verarbeitet werden soll. Das emotionale und rechtliche Zerwürfnis aller Beteiligten für die Bühne aufzubereiten und daraus sogar ein überzeugendes Plädoyer für die Freiheit der Kunst zu machen, ist ein hoher Anspruch und weckte im Zuschauer natürlich große Erwartungen. Im Vorfeld war bereits deutlich geworden, daß es hier in erster Linie um die tragische Degradierung von Literatur zum Gegenstand einer öffentlichen und von engstirnigen Moralvorstellungen geprägten Diskussion ging.

Das Streben nach einer besonders ästhetischen, feinsinnigen Perspektive auf die Dinge manifestierte sich zunächst hauptsächlich im Bühnenbild der preisgekrönten Künstlerin Katrin Brack. Über 600 Glühbirnen hingen an vielen einzelnen Kabelsträngen von der Decke und tauchten den Raum in eine ebenso umfassende wie ungreifbare Helligkeit. Trotz der zarten Konstruktion erwies sich dieses strahlende Licht aus vielen Quellen jedoch schnell als sehr dominant. Es verschluckte die Darstellungen der Schauspieler zu großen Teilen und überforderte bald die Augen der Zuschauer. Dennoch konnte auch das Blendwerk der netten Beleuchtung nicht über das unverständliche Intro hinwegtäuschen, in dem fünf der sechs Darsteller minutenlang nahezu regungslos vor dem Publikum verharrten. Ab und zu rangen sich manche von ihnen einige subtile Gebärden zu tragender, melancholischer Musik ab. Lediglich jener Darsteller, der in sandfarbenem Anzug und mit dicker Brille ausgestattet, vermutlich Maxim Biller repräsentieren sollte, gab an seinem Standort mit unergründlicher Leidensmiene ein paar verkrampfte Bewegungen zum Besten. Möglicherweise sollte mit diesem spannungslosen Einstieg eine Atmosphäre von Nachdenklichkeit geschaffen werden, was jedoch gründlich mißlang.

Bühnenbild

Bühnenbild

Nachdem das Tempo des Stückes so von vornherein auf Null gedrosselt worden war, zogen die Akteure die Geheimwaffe der Inszenierung aus dem Hut. In verschwörerischem Flüsterton wandten sie sich an das Publikum und fragten nach, ob heute eine der Klägerinnen oder gar Maxim Biller selbst anwesend seien. Davon hinge nämlich ab, was in dem Stück gesagt oder getan werden dürfe, ohne daß man mit dem Verbot des Romaninhaltes in Konflikt geriete. Natürlich tat diese oft bemühte Methode, sich mit dem Publikum auf eine konspirative Weise zu verbünden, zuverlässig ihre Wirkung. Doch obwohl die Darsteller durch diesen Trick aus dem Kasperletheater einige Lacher auf ihre Seite bringen konnten, gelang es ihnen nicht, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten.

Statt dem Anspruch des Stückes auf eine kontroverse Ausarbeitung des Grundkonfliktes zwischen Kunstfreiheit und Zensur gerecht zu werden, verstieg sich die Inszenierung nun auf die Verhöhnung der Privatpersonen, welche sich im Buchtext wiedererkannt hatten. Angeblich aus der Erinnerung, beziehungsweise aus der geweißten Ausgabe des Romans, wurden nun eben jene Passagen zitiert, durch die sich die Klägerinnen angegriffen gefühlt hatten. Dabei wurde der Eindruck erweckt, daß die überaus negative Darstellung einer Person, welche im übrigen nicht einmal satirische Qualitäten aufwies, ein legitimer Teil der künstlerischen Freiheit sei. Natürlich wurde hier darauf abgestellt, daß der Humor auf Kosten eines Charakters im Buch nur der guten Unterhaltung des Lesers dient.

Danach mußten die spießigen Moralvorstellungen unserer Gesellschaft als Argument für die Enthüllung privater Gefühle und das hemmungslose Beschreiben intimer Erlebnisse herhalten. Jene Szene, in welcher der Ich-Erzähler Adam Sex mit seiner schwangeren Freundin hat und sich dabei hinlänglich in pornographischen Details ergeht, wurde genußvoll vorgetragen. Während dessen setzten zwei Frauen in zarten Kleidchen das Geschehen stöhnend und sich windend auf der Bühne um. Offenbar sollte diese übertriebene Darstellung den Eindruck vermitteln, die literarischen Ergüsse von Herrn Biller seien hauptsächlich deswegen zensiert worden, weil man Anstoß an den offenen, schonungslosen Sexszenen genommen hatte. Man soll glauben, daß es bei dem Verbot des Romans nur im zweiten Rang um die tatsächliche Verletzung von Persönlichkeitsrechten ging. Zeitgleich wurde auch auf den Voyeurismus der Medien und der Allgemeinheit verwiesen, der durch den Schauspieler Sebastian Blomberg verkörpert wurde. Dieser schlich während des Vortrags der erotischen Textstelle fieberhaft um den Vorleser herum, um jede Einzelheit der anrüchigen Schilderung gierig in sich aufzusaugen.

Obwohl in dieser kleinen Persiflage eine der wenigen guten, schauspielerischen Leistungen in dem Stück zur Geltung kam, verfehlte sie als Begründung für die leichtfertige Veröffentlichung intimer Erlebnisse jedoch ihre Wirkung. Möglicherweise mag sich eine breite Leserschaft im stillen an der direkten, kompromißlosen Wortwahl des Autors ergötzt haben, und man kann die Scheinheiligkeit manch öffentlicher Kritik anprangern, aber die Frage nach dem Recht auf Intimsphäre hat damit nichts zu tun.

Schließlich wurde zur Verstärkung der Argumentation für die Freiheit der Literatur, alles sagen und jede Erfahrung ausschlachten zu dürfen, noch ein weiterer Kunstgriff ins Feld geführt. Beispielhaft für das Recht auf radikale Selbstentblößung für künstlerische Zwecke begann der Schauspieler Sebastian Blomberg, sich lauthals in Erinnerungen an eine eigene, verflossene Beziehung zu ergehen. Zur Erheiterung der Zuschauer wurden die triebhaften, unmoralischen Details der gesammelten Erfahrungen besonders ausgebreitet. Gewürzt wurde diese "offene Ansprache" mit ein wenig "name dropping", womit Namen wie Veronica Ferres und Udo Walz ins Spiel kamen und die Vorstellung von respektloser Enthüllung noch imposanter machen sollten. Wieder glückte es, das Publikum durch die komödiantische Darbietung auf durchschaubare Weise zu unterhalten und zu belustigen. Im Grunde wurde hier aber versucht, das Preisgeben von intimen Erfahrungen oder persönlichen Gedanken zu bagatellisieren, indem diese zum Teil einer Performance gemacht wurden. Dummerweise griff auch dieses Plädoyer für absolute Kunstfreiheit am Ende ins Leere, da der unausgesprochene Vergleich mit der Situation der Klägerin im "Fall Esra" hinkt. Diese hatte nämlich als Privatperson von vornherein nicht die Absicht, ihre innersten Gefühle oder den nackten Körper in der Öffentlichkeit auszubreiten, doch diese Entscheidung wurde ihr von anderen abgenommen.



14. April 2009