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BERICHT/007: KONTROLL/VER/LUST - ein Studienprojekt im Malersaal (SB)


Stadt aus Glas - Gemeinsam - Corpus Delicti

Foto: © 2009 by Schattenblick

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Im Rahmen eines Studienprojekts wurden vom 24. bis 27. April im Malersaal, der kleinen Bühne des Hamburger Schauspielhauses, fünf Theaterstücke aufgeführt. Unter Federführung der Theaterakademie Hamburg boten die Bühnenraumklasse der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, der Fachbereich Gestaltung/Kostümdesign und Medientechnik der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, das Department Darstellende Künste der Zürcher Hochschule der Künste und das Deutsche Schauspielhaus vier jungen Regisseurinnen und einem Regisseur die Gelegenheit, ihre Abschlußarbeiten zu präsentieren. Thematisch eingerahmt waren die Abende durch das mehrdeutige Begriffskonstrukt Kontroll/ver/lust, dessen hochgesteckter Anspruch, wie der Schattenblick sich am 25. April überzeugen konnte, nur bedingt eingelöst wurde.



STADT AUS GLAS
von Paul Auster

Der Abend begann mit einem Stück aus der New-York-Trilogie des US-amerikanischen Literaten Paul Auster. Das 1985 veröffentlichte Werk "Stadt aus Glas" ist als Detektiv- oder Kriminalroman nur unzureichend beschrieben, handelt es sich doch um ein Verwirrspiel zwischen Personen und Identitäten, in dem der Autor selbst auf verschiedene Weise in Erscheinung tritt. Die für die Bühne adaptierte Version beschränkt sich auf den Kern der Handlung um einen Mann namens Daniel Quinn, der, am Telefon als Privatdetektiv Paul Auster angesprochen, sich auf das Abenteuer einläßt, einen mysteriösen Fall zu übernehmen.

Er soll Peter Stillman vor einem Mordversuch seines gleichnamigen Vaters schützen, der lange Zeit in der Psychiatrie gesessen hat, weil er seinen Sohn neun Jahre in ein Zimmer eingesperrt und vollständig vom Kontakt mit anderen Menschen isoliert hat. Auf diese Weise wollte er verhindern, daß die Sprache Gottes durch die menschliche Sprache überlagert wird. Virginia Stillman, die Quinn den Auftrag gibt, den aus der Psychatrie entlassenen Vater zu beschatten, tritt zwar mit der genuinen Sorge um das Leben ihres Ehemanns in Erscheinung, macht Quinn aber dennoch Hoffnungen auf eine Liebesaffäre, was diesen auf desaströse Weise an den Fall bindet. Er ist, ganz anders als die klassischen Heroen des US-amerikanischen Detektivromans, nicht einmal annähernd Herr der Lage, sondern auf fatale Weise in Umstände verstrickt, die nichts als Opfer zu produzieren erscheinen.

So behauptet Peter Stillman als eine Art eigens für die Sprachwissenschaft geschaffener Kaspar Hauser, gar nicht Peter Stillman zu sein. Sein Monolog, mit dem er sich Quinn zu erklären versucht, dreht sich um Wörter, die praktisch wie von selbst über ihn kommen und die, sollte man das Wirken eines Gottes dahinter vermuten, nur Auskunft über dessen völlige Fremdheit allem Menschlichen gegenüber erteilen. Die Sprache Stillmans ist impulsiv und abgehackt, er scheint, von merkwürdigen Wortbildungen getrieben, im Wahn zu versinken, während Stillman senior, dem Quinn im Rahmen seiner Beschattung begegnet, von dem obskuren Drang besessen ist, den Dingen Namen zu geben, die nur er kennt.

Dank der zahlreichen inhaltlichen wie dramaturgischen Verweise auf die Rolle der Sprache erschließt sich dem Zuschauer bald, daß das Stück um Wörter, um Sprache und insbesondere um geschriebenen Text kreist. In Szene gesetzt wird dies durch den äußerst sparsamen Einsatz jeglicher Requisiten außer mehrerer Papierrollen, die mal von der Decke hängend, mal auf dem Boden liegend das Bühnenbild bestimmen. Sie geraten als Projektionswand für Darsteller, mit denen Quinn telefoniert, als Ort grafischer und textlicher Verweise auf die Bewegungen Qinns durch New York, als regelrechte Schriftrolle für den das Geschehen schreibend begleitenden Autor Paul Auster zu Symbolen der textuellen Verfaßtheit der Handlung.

In dem Moment, in dem der Zuschauer erfährt, daß Paul Auster nicht nur als Privatdetektiv in das Stück involviert ist, sondern als Autor höchstselbst das Geschehen diktiert, begreift man das Bühnenbild als eine Art Textwerkstatt, in der die Akteure von der Handlungslogik des Schriftstellers bisweilen regelrecht in die Defensive gedrängt werden. Natürlich steckt hinter jedem Theaterstück ein Autor, doch hier ist er auf eine Weise in die Handlung integriert, die diesen zum antagonistischen Entwurf seiner eigenen Ambitionen geraten läßt. Konfrontiert mit ihrem synthetischen Charakter machen sich die Akteure auf, dem Geschehen Kontur abzugewinnen, indem sie sich dem Fluß der Handlung auf irritierende und verstörende Weise in den Weg stellen.

Die sie antreibenden Motive bleiben darüber hinaus häufig rätselhaft, da sie offensichtlich ins Verderben führen. So läßt sich Quinn in der von ihm angenommenen Identität des Detektivs auf einen Handlungsverlauf ein, in dem ihm jegliche ohnehin nur imaginierte Kontrolle entgleitet, während beide Stillmans am Problem sprachlicher Zeichen und ihrer Bedeutung zugrunde zu gehen drohen.

Dem linguistisch vorgebildeten Zuschauer mag sich dies als Tanz zwischen Signifikant und Signifikat decodieren, wird doch die Frage nach dem Namen der Dinge äquivalent zu der nach den jeweiligen Identitäten der Akteure immer wieder aufgeworfen, um unbeantwortet auf der Strecke einer sich immer fataler gebärdenden Handlung zu bleiben. Deren Eigendynamik findet in dem kinetischen Zwang, mit dem eine einmal angestoßene Papierrolle ihren Weg über den Boden der Bühne nimmt, ihre bildhafte Entsprechung.

Wer Austers Hinwendung zur postrukturalistischen Sprachtheorie und der dort geübten Kritik an universalistischen Traditionen der Philosophie kennt, mag das Anliegen Stillmans, den Dingen Namen zu geben, die ihnen wirklich entsprechen, und seine exaltierten metaphysischen Spekulationen als Satire auf die Debatte um das Henne-Ei-Problem der Genese der Wörter begreifen, zumal das Ei eine zentrale Rolle in Stillmans verrückter Kosmologie einnimmt. Seine Verzweiflung darüber, daß die Dinge zerfallen und dabei ihres Nutzens verlustig gehen, ohne daß dies Ausdruck in ihrer Benennung findet, läßt ein geradezu obsessives Streben nach sprachlicher Ordnung im strikt nominalistischen Sinne erkennen. "Jeder Mensch ist ein beschränkter Gott. Jedes Ding die ganze Welt", lautet ein dem Stück im Ankündigungstext vorangestelltes Zitat des Philosophen der Monadologie, Gottfried Wilhelm Leibniz. Monaden von einer Selbstbezüglichkeit, die die Fremdheit des Anderen von der Fremdheit des Eigenen ununterscheidbar macht, lassen Paul Austers Stück durchaus als Sinnbild für die Atomisierung einer Gesellschaft erscheinen, deren sozialdarwinistischem Kontinuum man durch regressive Fluchtmanöver nicht entkommen kann.

Die Begegnung zwischen Quinn und Stillman senior auf einer arg mitgenommenen Parkbank kulminiert in einem Wechselspiel aus tiefgründigen Überlegungen und anekdotischen Zitaten, das ahnen läßt, wie sehr Paul Auster Samuel Beckett, den er während seiner Jahre in Paris persönlich kennenlernte, verehren muß. Stillmans Versuch, dem Verfall der Dinge durch die sprachliche Würdigung ihrer Nutzlosigkeit einen Sinn zu geben, wirkt im Kontext der Vergeblichkeit, die das Handeln aller Akteure in zunehmendem Maße bestimmt, weniger wahnsinnig, als das von ihm demonstrierte Selbstverständnis eines gottgleichen Sprachschöpfers suggeriert. Schließlich sind alle Personen des Stücks inklusive des für seine Genese verantwortlichen Textproduzenten Paul Auster, der an einer Theorie über die literarischen Hintergründe Don Quixotes arbeitet und es dabei ebenfalls mit einem Vexierspiegel an Identitäten zu tun hat, mit Fragen beschäftigt, die an Gewißheiten rütteln, die nicht minder haltlos sind als ihre Negation.

Der Aufbau einer von numinosen Zwängen und fremden Interessen bestimmten Handlung krankt denn auch daran, daß die Quinn im Ankündigungstext des Stückes zugeschriebene Suche "nach dem Sinn gebenden Prinzip" schon durch dessen Unterstellung überdeterminiert ist. Quinns Verwirrung, die darin gipfelt, daß er Stillman noch beschattet, nachdem dieser längst gestorben ist, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der alltäglichen Fremdbestimmung, die jeder Lohnarbeiter zu erleiden hat, der seine Zeit und seine Leistungsfähigkeit für ihm völlig fremde Zwecke verkaufen muß. Um nach einem Sinn, nach einer Ordnung, nach einem kausalen Verlauf zu suchen, hat man sich bereits auf das Finden vorgegebener Wahrheiten eingelassen. Wer nicht vergessen kann, daß es sich dabei um interessengebundene Befestigungen im Rahmen eines Verwertungssystems handelt, das individuelles Überleben zu Lasten der Existenz anderer ermöglicht, wird sich gar nicht erst auf eine solche Suche begeben.

Was Auster immer wieder als Niedergang New Yorks zu einem "Schrotthaufen" beklagt, verkörpert das generelle Problem menschlicher Reproduktion eines den verwertbaren Nutzen tendenziell übersteigenden Verbrauchs. Der Absturz in eine von ihrer sozialen wie materiellen Umgebung ausschließlich negativ beeinflußte Monadenexistenz, die der zentrale Akteur in "Stadt aus Glas" erleidet, entspricht der Entropie aller postulierten Zustände höherer Differenz. Das bei Auster hervorstechende postmoderne Verständnis einer in ihren Beständen und Verläufen fragmentierten und disparaten Welt beruht auf einem Ordnungsanspruch, der sich aller Handhabbarkeit entzieht, weil er konstitutiver Faktor jeder auf Vergleich und Unterscheidung basierenden Methode der Erkenntnis und Bewältigung ist.

Bezogen auf das dem Studienprojekt übergeordnete Strukturprinzip der Kontrolle zeigt sich bei diesem Stück, daß ihr Fehlen so schmerzhaft wie ihr Joch erstickend ist. Fremdheit dominiert das Feld einer von Zweck und Nutzen bestimmten Gegenseitigkeit, in der niemand das Heft des Handelns in die Hand bekommt, nicht weil er dies nicht könnte, sondern weil der andere lediglich als Reflex - oder, um in der Sprache postmoderner Weltanschauung zu bleiben, als "Zeichen" - auf dem Schirm eigener Projektionen in Erscheinung tritt. Triebe man die Frage nach der Kontrolle über die Grenze linguistischer Analyse hinaus, dann hätte man es womöglich mit Fragen zu tun, deren erkenntnissprengender Charakter den hier inszenierten Wahn vollends als längst eingelösten und vergessenen Anspruch auf einen bescheidenen Platz in der Ordnung des Universums dechiffrierte.

Der fremdbestimmten Zwangsläufigkeit gemäß endet das Stück in einem furiosen Akt der Zerstörung, der Quinn unter den zerrissenen und zerknüllten Textrollen begraben zurückläßt. Aus der Hauslosigkeit einer Tonne, die dem verarmten und obdachlosen Beobachter einer längst verwehten Episode im Leben fremder Menschen letzte Heimstatt war, gibt es kein Entkommen mehr, so daß Quinn sich in einem letzten, verzweifelten Akt der Rebellion gegen die ihn bestimmende Handlungsanweisung des Textes selbst auflehnt. Wenn es stimmen sollte, daß die Schrift, frei nach Jacques Derrida, die relative Unabhängigkeit der Sprache vom menschlichen Subjekt manifestiert, dann ist es an der Zeit, daß sich der Mensch auf das wenige, was ihm an die Hand gegeben ist, besinnt und den Faden der Subjektivität durch die Labyrinthe ihrer vergesellschafteten Zweckbindung zurück zum Ausgangspunkt autonomer und widerständiger Handlungsfähigkeit verfolgt. Bevor er sich übersetzbarer, verwaltbarer und durch Dritte verfügbarer Zeichen bedient, bemächtigt sich der Mensch des Sprechens, einem in seinem Vermögen zur Überwindung intersubjektiver Distanzen weithin unterschätzten Medium.

Mit: Charlotta Bjelfvenstam, Andreas Frucht, Mike Hoffmann, Volker Matzen, Jörg Reimers, Alexander Wipprecht; Regie: Iris Matzen; Dramaturgie: Miriam Sievers; Bühne: Eylien König; Licht: Vincent Krohn; Kostüm: Annemaria Bulla; Komposition & Ton: Sebastian Kemper.


Foto: © 2009 by Schattenblick

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GEMEINSAM
von Martina Clavadetscher

Mit dem Thema Kontroll/ver/lust eher nicht verknüpft überzeugt das zur Uraufführung gebrachte Zwei-Personen-Stück "Gemeinsam" mit einer Darbietung zwischenmenschlicher Widrigkeiten, die inhaltlich so unprätentiös wie in der Entwicklung des Gegeneinanders zwischen Frau und Mann präzise geschildert wird. Das von der Regisseurin Sophie Stierle inszenierte Werk dreht sich um die wiederholten Versuche eines Paares, das Ideal von Liebe und Gemeinsamkeit zu erfüllen, um, wie zu erwarten, an der Unerreichbarkeit des Anspruchs zu scheitern.

Die zwischen den beiden Akteuren aufgebaute Spannung ist bereits in der Aufteilung der Bühne in eine der Frau und eine dem Mann vorbehaltene Seite angelegt. Man begegnet sich an einem die ganze Tiefe des Raumes querenden Tisch, um dort die Rituale einer Gemeinsamkeit durchzuspielen, die schon durch den Versuch des Abgleichs individueller Vorlieben und Abneigungen durch elementare Gegensätzlichkeit sabotiert werden. Was auf spielerische Weise Harmonie stiften soll, scheitert an den gegenseitigen Vorhaltungen, man habe früher, als alles besser war, andere Urteile getroffen als im Stadium fortgeschrittener Schadensbegrenzung.

Immer wieder münden die von beiden Partnern unternommenen Bemühungen, dem anderen durch besondere Arrangements gemeinsamen Erlebens entgegenzukommen, in die Disparität unterstellter Wünsche und Hoffnungen. Das Vorher, auf das sich beide stets beziehen, ist nicht wiederherzustellen, weil es, durch gewollte Wiederholung kontaminiert, der Spontanität des originären Erlebens beraubt wird. Anstatt sich zu fragen, was man voneinander will und miteinander zu tun hat, greifen die Akteure zu Substituten ihres emotionalen Anliegens und erschöpfen ihre Leidenschaft in den Vorbereitungen, derer es zu einem gelungenen Beisammensein vermeintlich bedarf. Das gemeinsame Essen bei Kerzenschein mündet in gegenseitige Vorhaltungen, mit weiblichem Sinn für atmosphärische Stimmungen dargebotene Stimulantien wie Räucherwerk und Blütenduft werden vom tumben Mann als Gestank diffamiert, und der Wechsel der Kostümierungen kann nicht verbergen, daß sich hinter der verführerischen Maskerade immer noch die gleiche Person verbirgt.

Der Aufbruch zu neuen Ufern der Gemeinsamkeit, vollzogen als gemeinsamer Urlaub in Spanien, um noch einmal "so wie damals" den Rausch des Exotischen und Außergewöhnlichen zu erleben, fördert ein geradezu reaktionäres Bestehen auf die Unveränderbarkeit eines Ideals zutage, das sich zusehends als Bürde erstarrter Bezichtigungen erweist. Auch der xte Versuch der Rettung des vermeintlich Erreichten scheitert am reprojektiven Charakter einer Erwartungshaltung, von der nur Warten auf die nächste Gelegenheit zur Vergeblichkeit bleibt. Die Wiederbelebung dahingeschiedener Gefühle produziert, wie könnte es anders sein, Klischees der Gemeinsamkeit, die, in zahllosen Filmen und Liebesromanen endlos reproduziert, längst in der Warenförmigkeit ihrer kulturindustriellen Zurichtung verbraucht wurden.

All das findet in einem Ambiente leicht verstaubter Bürgerlichkeit statt, das ältere Zuschauer an die Zeiten bourgeoiser Selbstzufriedenheit erinnern könnte, in denen Fragen der materiellen Bemittelung keine nennenswerte Rolle spielten und Lebensqualität an der Verfügbarkeit von Luxuskonsum bemessen wurde. Noch einmal wird der Mythos "Casablanca" hervorgeholt, um den Edelmut aus Verzicht geborener Liebe zu verklären, die, im Separee cineastischer Vereinzelung bezeugt, nichts als die schale Wehmut hinterläßt, die den Betrachtern wahrer und echter Größe bleibt.

In Szenen wie diesen ist der durchweg flott und spritzig inszenierten Tragikkomödie ein subversiver Grundton nicht abzusprechen. Wenn ein gutbürgerlicher Lebensstandard, den die beiden wie selbstverständlich in Anspruch nehmen, schon die Minimialvoraussetzung für das Flicken in die Brüche gegangener Liebesbeziehungen sein soll, dann kann sich dem Zuschauer durchaus die Erkenntnis aufdrängen, daß Liebe in den Zeiten von Hartz IV ein geradezu unmögliches Unterfangen ist. Wo miteinander eine Wohnung teilende Menschen amtlicherseits daraufhin überprüft werden, ob es sich bei ihnen um eine Bedarfsgemeinschaft handelt, der man Leistungsbezüge kürzen kann, kehrt sich die Notwendigkeit der materiellen Bemittelung vollends gegen das zarte Pflänzchen einer Liebe, die nur unter optimalen Bedingungen gesellschaftlicher Reproduktion gedeihen will.

Das Stück "Gemeinsam" überzeugt insbesondere durch die Empathie, mit der die beiden Darsteller ihre Rolle ausfüllen, als wäre es eine Geschichte aus ihrem eigenen Leben. Was der auf tiefschürfende Dialoge abonnierte Zuschauer vermissen mag, wird durch die Leichtigkeit des Spiels und das hohe Tempo der Inszenierung mehr als wettgemacht. So, wie der Wechsel der Kostüme und Requisiten vor aller Augen am rechten und linken Rand der Bühne stattfindet, so sind die Regieanweisungen auf eine Weise in das Geschehen integriert, die dem Handlungsverlauf zusätzliche Dynamik verleiht. Indem die Schauspieler sich praktisch selbst inszenieren, entsteht der Eindruck eines Provisoriums, das den künstlerischen Wert der Darbietung noch einmal unterstreicht.

Es spielen: Nadia Migdal, Antoine Monot, Jr.; Regie: Sophie Stierle; Text: Martina Clavadetscher; Bühne: Mokaa Bautz; Kostüm: Astrid Noventa; Licht- und Tondesign: Eva Bertold, Annegret Jeser, Karl Schaper.


Foto: © 2009 by Schattenblick

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CORPUS DELICTI
von Juli Zeh

Wie kann ein Stück vor dem Einlaß des Publikums beginnen, mochte sich mancher Zuschauer fragen, der beim Betreten des Malersaals nach der zweiten Pause im Wettrennen um die besten Plätze des restlos ausverkauften Hauses seinen Augen und Ohren nicht trauen wollte. Die ganze Bühne mit plastiküberzogenen Turnhallenmatten ausgelegt absolvierten sportlich gekleidete junge Leute zu dröhnendem Discobeat eine Choreografie gymnastischer Leibesübungen. Sie liefen im Kreis, bildeten eine Kette, lösten die Figur in separate Positionen auf und kehrten schließlich wieder in die Ausgangsposition zurück, so daß sich bald ein wiederkehrender Ablauf erkennen ließ. Unentwegt in Bewegung skandierten sie in einem Chor auf- und abschwellender Stimmen rhytmisch die Worte "Vita - Vitae - Vitalis", wobei sei einander an Freude und Begeisterung schier überboten. Verharrten sie aber im Zuge ihres unermüdlichen Tanzes für einen kurzen Augenblick am vorderen Bühnenrand, sah sich der Zuschauer Auge in Auge mit einer Begeisterung, die das Gesicht in einer Botschaft grenzenlosen Glücks und Wohlergehens erstrahlen ließ.

Da inzwischen alle Zuschauer Platz genommen hatten und das Ensemble auf der Bühne nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen erkennen ließ, wußte man natürlich, daß das dritte Stück des Abends längst begonnen und das Publikum in den Bann seines Schlachtrufs geschlagen hatte, der sich bis zur allerletzten Sekunde immer wieder Bahn brechen sollte. Hatte man anfangs noch amüsiert und unwillkürlich im Takt mitwippend das in seiner betonten Überzeichnung skurrile Geschehen genossen, so nahm man im Laufe der Zeit immer stärker den bedrohlichen Übergriff dieser gemeinsamen Leibesübung wahr, die nicht freundlich zum Mitmachen animierte, sondern sich geradezu aufdrängte und Unterwerfung zu erzwingen suchte.

Nun kristallisierte sich das Maschinenhafte der stereotypen Bewegungen heraus, während man die Ohren vergeblich vor dem alle Zweifel niederbrüllenden Slogan zu verschließen suchte und zugleich die diesem Marschtakt innewohnende Gewalttätigkeit erkannte. Selbst wenn im Vordergrund ein Dialog die Handlung vorantrieb, vollführte der Rest der Truppe hinten im Halbdunkel mit unentwegt leuchtenden Augen und breitestem Lächeln unablässig seine Körperübungen, was schon für sich genommen nach Anerkennung dieser bemerkenswerten Leistung verlangt.

Der mattenbedeckte Boden diente freilich nicht nur sportlichen Zwecken, sondern symbolisierte zugleich eine klinisch saubere Unterlage, auf dem sich zum Zwecke des Kontrasts zusehends große Pfützen aus einem Wasserspender bildeten. Wasser durfte angeboten und getrunken, doch keinesfalls verschwendet oder gar zu einer Brutstätte für Krankheitskeime werden. Unter Verwendung einfacher Requisiten setzte die Aufführung ein Gesundheitsregime in Szene, das die Verfassung des Körpers zum höchsten Prinzip erhebt und zugleich Berührung, Schmutz und Gerüche als ekelerregend und gefährlich verbannt.

Da das sauberste System aller Zeiten klinische Sterilität zum Selbstzweck erhebt, tabuisiert es Schmutz auch im übertragenen Sinn. Trauer, Zweifel oder gar Pflichtvergessenheit sind Abweichungen, die zunächst durch Mahnungen, dann durch Rügen und bei anhaltender Renitenz durch immer drakonischere Strafen geahndet werden. Diese bittere Erfahrung macht eine junge Biologin namens Mia Holl, die stets fit und lächelnd das Gesundheitsparadies zunächst vehement verteidigt. Zielt nicht biologisches Leben immer darauf ab, Schmerz zu vermeiden und Wohlbefinden zu erreichen? Ein System, das diesen Zielen dient, kann folglich nur sinnvoll und legitim sein. Wurde nicht ihr Bruder als Kind sogar von Leukämie geheilt?

Obgleich sie ursprünglich in keinem Widerspruch zu diesem System steht, gerät sie in Folge bestimmter Ereignisse in die Zwänge des Apparats und sieht sich einer Hexenjagd ausgesetzt. Ihr Bruder wird beschuldigt, eine Frau getötet zu haben, und auf Grund einer DNA-Analyse verurteilt. Er beharrt jedoch auf seiner Unschuld und nimmt sich in der Gefängniszelle das Leben. Mia Holl, die einfach nicht glauben kann, daß ihr Bruder ein Mörder sein soll, versucht die Hintergründe aufzuklären, und betätigt sich dabei als Einzelkämpferin, die ihre Position zwischen Sündenbock und Gegner des Systems definieren muß.

In ihre Trauer mischen sich aufkeimende Zweifel, die zunächst darin ihren Ausdruck finden, daß sie die geforderte Disziplin der Lebensführung vernachlässigt. Sie reicht ihren Schlafbericht nicht ein, mißt ihren Blutdruck nicht und läßt ihre sportliche Leistungskurve absacken. Da Pflichtvergessenheit gegenüber sich selbst jedoch als Vergehen an der Gemeinschaft ausgelegt wird, nach deren Doktrin der Einzelne als kleinste Funktionseinheit ständiger Kontrolle bedarf, wird die Delinquentin zunächst verwarnt und in der Folge immer schärfer sanktioniert.

Während sie sich in der Öffentlichkeit anfänglich keine Blöße gibt, kommt sie insgeheim immer mehr in Kontakt mit jener anderen Welt, die ihren Bruder so faszinierte, daß er die herrschende Ordnung in Zweifel zog. Die zunehmende Aufweichung strikter Normen und Überzeugungen im Denken und Handeln der Mia Holl wird zunächst mit Verhaltensweisen ins Bild gesetzt, die sie im privaten Umfeld auslebt. Wenn sich die Darsteller auf dem Boden wälzen, herumtoben, sich berühren, ja sogar rauchen, steht dies in scharfem Kontrast zu der stets zackig fitten Bewegungsweise und distanzierten Freundlichkeit der übrigen Figuren, die steif und funktional ihre Pflichten als Bürger und Funktionsträger erfüllen.

Natürlich bleibt abweichendes Verhalten in einem Regime, das selbst die Körperfunktionen aller Menschen durchgängig kontrolliert und Hausgemeinschaften von Denunzianten heranzüchtet, nicht unbemerkt. Für ihr Versagen und ihre Abweichung wird Mia Holl immer härter bestraft, während ihr Versuch, lautere Absichten geltend zu machen, immer aussichtloser wird, je tiefer sie in das Bezichtigungsgefüge der Justiz gerät. Man verhaftet sie schließlich als mutmaßliche Terroristin der Gruppe RAK (Recht auf Krankheit) und drangsaliert sie solange, bis sie in einer Art Schlußplädoyer tatsächlich dem System das Vertrauen entzieht.

Corpus Delicti erzählt von der Zurichtung des Körpers im Namen einer staatlichen Ordnung, die den Bürgern ein unablässiges Handeln abverlangt, das die bestehenden Verhältnisse um keinen Preis gefährden darf. Mia Holl macht sich des Abfalls von dem herrschenden Funktionalismus schuldig und kann anhand ihres Körpers überführt werden, der durch implantierte Datenchips kontrolliert wird, während die Behörden die Abwässer jedes Hauses auf giftige Substanzen wie Nikotin untersuchen und auch andere Genußmittel wie Alkohol natürlich streng verboten sind. Eine zentrale Partnervermittlung prüft die Kompatabilität der DNA, wenn man eine Verbindung eingehen will.

Wer nichts zu verbergen hat, dem kann auch nichts passieren, lautet die klassische Vorspiegelung einer angeblich freien Gesellschaftsordnung, die auf unabweislicher Vernunft und uneingeschränkter Freiwilligkeit beruht. Daß diese Erosion des Denkvermögens geradewegs in die Diktatur mündet, versucht Corpus Delicti aufzuzeigen. Dabei hat das System, das hier stets als "Methode" bezeichnet wird, verführerische Argumente auf seiner Seite. Die Welt vor Errichtung der neuen Ordnung war geprägt von täglich neuen Schreckensmeldungen über Krankheit, Kriege und Katastrophen. Angst und Schmerz waren den Menschen zu ständigen Wegbegleitern geworden, Ausweglosigkeit hatte alle Hoffnung aus dem Feld geschlagen.

Die Methode repräsentiert den ersehnten Ausweg aus dieser Not, indem sie den Menschen ein absolut sicheres, gesundes und sorgenfreies Leben nicht nur verspricht, sondern garantiert. Dieses System gründet sich auf die enge Verbindung von persönlichem und allgemeinem Wohl. Nur durch das Wohlbefinden des Einzelnen läßt sich das Wohl des Kollektivs gewährleisten, während dieses umgekehrt auf der einwandfreien Verfassung aller Bürger beruht.

"Wenn wir vernünftig denken", erklärt die Richterin der angeklagten Mia Holl, "schuldet die Gemeinschaft Ihnen Fürsorge in der Not. Dann aber schulden Sie der Gemeinschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden. Ist das nachvollziehbar?" Die Erpressungslogik des Utilitarismus läuft darauf hinaus, die Abweichung in Gestalt des aus der geforderten Rolle fallenden Menschen zu beseitigen. Wie die Angeklagte im Laufe ihres Prozesses herausfindet, ließ der Indizienbeweis gegen ihren Bruder einen wesentlichen Gesichtspunkt außer acht, der seine Unschuld beweist. Sie ist damit zwar am Ziel ihrer Suche, was deren ursprünglichen Anlaß betrifft, doch hat ihre eigene Positionsbestimmung gerade erst begonnen.

In ihrem im Sommer 2007 im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführten und 2009 in Buchform erschienenen Theaterstück Corpus Delicti entwirft die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh eine geschichtspessimistische Utopie, die heute bereits deutlich erkennbare Tendenzen einige Jahrzehnte in die Zukunft fortdenkt. Es geht dabei um ein Staatsverständnis, in dem der Bürger über das Recht und die Pflicht, gesund zu sein und zu bleiben, definiert wird. In einer Welt ohne Gott und Ideologie setzt diese Doktrin menschliches Glück mit einem leidens- und störungsfrei funktionierenden Körper gleich, so daß der Mensch nur noch als Physis, jedoch nicht mehr als geistiges Wesen angesprochen wird, das sich am gesellschaftlichen Diskurs beteiligt. Einzig verbindendes Element zwischen den Menschen bleibt damit der bloße Überlebenswille, der aller kulturell geprägten, ideellen und ideologischen Elemente entkleidet oder beraubt ist.

Freilich bleiben Gesundheit und Krankheit in der hier thematisierten Form als Begriffe ungeklärt, wenn ein Recht auf Krankheit eingefordert wird. Als Mia ihren Bruder fragt, was er gegen die Methode einzuwenden habe, die einst sein Leben gerettet und es seither erhalten hat, erwidert dieser, man dürfe dem Menschen das Recht nicht nehmen, sich seinen Schwächen und Leiden zu stellen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese Aussage ignoriert die Lage des unter Schmerzen leidenden Menschen auf zynische Weise, indem sie seine Qual zur wünschenswerten Lektion persönlicher Entwicklung erklärt. Zudem kann sich die Forderung nach einem Recht auf Krankheit nur an dieselbe höhere Gewalt wenden, die man zuvor mit dem repressiven System identifiziert hat.

Wenngleich Gesundheit in Corpus Delicti als alles beherrschendes und bestimmendes Konzept eines fiktiven, aber bestehenden gesellschaftlichen Entwicklungen entlehnten Systems der Zukunft präsentiert wird, bleibt doch unhinterfragt, was darunter zu verstehen sei. Der Verdacht, daß lediglich administrative Zuordnungen und Verfahrensweisen mit ungeprüften Konzepten körperlichen Wohlergehens verrührt werden, wenn man so dicht am Konsens navigiert, drängt sich jedenfalls auf: Wo der sterilen Sauberkeit der Wunsch, ein Schmuddelkind zu sein, gegenübergestellt wird, mag der Struwwelpeter zwar als Schreckgespenst für Bürgerstuben ausreichen, doch sollte man nicht vergessen, daß er für brave Kinder erfunden wurde.

So blieb es denn beim bloßen Versuch, am Schluß des Stücks durch Verlesung aktueller sicherheitsstaatlicher Entwicklungen den Bezug zwischen Theater und gesellschaftlicher Realität herzustellen und in die Debatte möglicher Konsequenzen einzutreten. Die Darsteller erörterten mit verteilten Rollen beiderseits des Zuschauerraums die Frage, was zu tun sei und ob man das könne und wolle, bis die Unmöglichkeit, im Abtausch der Ansichten und Meinungen auf einen grünen Zweig zu kommen, zuletzt in das altbekannte "Vita - Vitae - Vitalis" mündete, nämlich die Warnung vor dem, was kommen könnte.

Mia: Henrike Richters; Moritz/Ideale Geliebte: Andreas Bichler; Kramer: Philipp Meier von Rouden; Rosentreter: Moritz Grabbe; Richterin Sophie: Katrin Bethke; Litz/Staatsanwalt Bell: Wolfgang Erkwoh; Lebertsche/Amtsärztin: Jacqueline Maria Rompa; Driss/Polizist: Gabriel Rodriguez-Silvero; Regie: Anne Sophie Domenz; Bühne: Johanna Fritz; Kostüme: Cläre Caspar, Anna Sophia Röpcke; Musik: Gladbek City Bombing; Dramaturgie: Meike Schmitz; Lichtdesign: Lukas Gössling, Hans Riekehof, Jonathan Pietrzyk; Ton: Holger Kress; Video: Saskia Senge, Andreas Kleemann.


Foto: © 2009 by Schattenblick



KONTROLL/VER/LUST

Um zu verstehen, warum diese so unterschiedlichen Stücke ins Bild des Foucaultschen Panoptikums als einer Metapher für gesellschaftliche Kontrollmechanismen gesetzt werden mußten, hätte es zumindest einer einleitenden oder abschließenden Erläuterung bedurft. Ansonsten kann der Zuschauer eigentlich nur zu dem Schluß gelangen, daß mit einem sich aufgrund allgegenwärtiger Herrschaftspraktiken anbietenden und zudem diskurstheoretisch arrivierten Topos der Eindruck erweckt werden sollte, man habe es bei den präsentierten Theaterstücken mit avantgardistischer Gesellschaftskritik zu tun.

Diesem Anspruch wird schon der im Ankündigungstext des Studienprojekts zu entnehmende kurze Text zum Thema "Kontrolle" kaum gerecht. Der dort aufgespannte Antagonismus zwischen der vermeintlichen "Kontrolllust" permanent von unsichtbaren Beobachtern überwachter Menschen und dem daraus angeblich resultierenden Verlangen nach "Kontrollverlust" bemüht sich gar nicht erst darum, die an dieser Gemengelage beteiligten Faktoren so auseinanderzudividieren, daß das zugrundeliegende Gewaltverhältnis als solches in Erscheinung tritt.

So wird keineswegs klar, wer überhaupt Lust an der durch panoptische Observation bedingten Internalisierung fremder Interessen empfinden sollte. Staat und Kapital fungieren als durchweg rationale Akteure, deren Interessen durch psychologistische Metaphern bestenfalls verharmlost werden. Die Ohnmacht der Objekte der Beobachtung mit S/M-Attributen zu verklären wiederum gelingt nur, wenn man eigene Anteile an diesem Gewaltverhältnis hält und schützt.

Im Feld gesellschaftlicher Bedingungen kann Kontrollverlust kein subjektiver Vorgang etwa nach Art eines Psychodramas sein, mit dem man sich entwicklungspsychologisch konditionierter Verhaltensweisen entledigt. Hier wäre eher der Begriff der Befreiung oder des Widerstands vonnöten, wollte man tatsächlich etwas gegen die fortschreitende Aufhebung bürgerlicher Grundrechte durch fremdbestimmte Kontrollmechanismen unternehmen.

Ein Theater, das einem in seiner allgemeinen Verwendung so vielschichtigen als in seiner herrschaftstechnischen Konnotation eindeutigen Begriff wie dem der Kontrolle, der im Endeffekt Wesen jeder Vergesellschaftung ist, nicht auf den Grund geht, bleibt in den Konzeptionen stecken, die es zu bestreiten beansprucht. Die im Ankündigungstext aufgeworfene Frage "Wie können wir uns in diesem System noch frei bewegen? Ausbrechen, abhauen, aussteigen?" fällt schon hinter die zuvor formulierte "totale Kontrolle" zurück und scheitert zudem an der Aporie eines angeblich noch vorhandenen inneren Freiraums, aus dem man auszusteigen trachtet. Die Forderung nach einem präzisen und entschiedenen Umgang mit der Sprache für überspitzt zu halten, mag der Kontingenz postmoderner Weltanschauung entsprechen, bedeutet jedoch auch, den Anspruch auf herrschaftskritische Wirksamkeit der Kunst aufzugeben.

28. April 2009