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BERICHT/016: Lady, Lady on the Sea-Shore auf der Kampnagel Bühne (SB)


Ein Stück über den unvergleichlichen Reiz wahrer Geschichten

von Julia Barthel


Als moderne Menschen in einem Zeitalter der Mobilität und des flexiblen Daseins halten wir uns gerne für die einzig wahren Globetrotter der letzten Jahrhunderte. Weil wir günstiger als je zuvor mit dem Flugzeug ferne Länder besuchen können, im Urlaub die Strände einiger sonniger Inseln abgeklappert haben und das Zentrum der einen oder anderen europäischen Hauptstadt kennen, glauben wir, echte Weltenbummler zu sein. Die Wahrheit ist jedoch, daß wir im Vergleich zu unseren Urgroßeltern und Großeltern eher muffelige Stubenhocker sind. Wirft man einen Blick auf die Lebensgeschichten seiner Vorfahren, stößt man unverhofft auf wahre Helden, Abenteurer, Gauner und Überlebenskünstler. Ein fester Glaube, grausame Kriege oder die große Liebe führten sie rund um die Welt oder quer durch Europa und zwar ganz ohne Navigationsgerät und Reiseplan. Das glauben Sie nicht? Dann war es Ihnen wohl nicht vergönnt, die fabelhafte Inszenierung von "Lady, Lady on the Sea-Shore" zu sehen in der Evgeni Mestetschkin mit einer Truppe von sehr begabten jungen Darstellern die Biographien ihrer Vorfahren auf der Bühne zum Leben erweckte. In Kooperation mit dem Hamburger Verein Mook Wat e.V. stellte er für das Projekt JuMBO (Junge MigrantInnen - Beruf und Orientierung) eine Theaterproduktion auf die Beine, bei der arbeitslose junge Leute mit Migrationshintergrund ihre verborgenen Talente als Schauspieler, Sänger und Tänzer voll entfalten konnten. Am 15. und 16. November war es dann nach monatelangen, harten Proben endlich soweit, daß "Lady, Lady on the Sea-Shore" vor Publikum aufgeführt werden konnte. Es ist bereits die fünfte Regiearbeit, die der erfahrene und experimentierfreudige Mestetschkin mit einem JuMBO Ensemble verwirklicht hat und dieses Stück avancierte zum Überraschungshit des Simple Life Festivals.

Der Regisseur Evgeni Mestetschkin - © 2010 by Schattenblick

Der Regisseur Evgeni Mestetschkin
© 2010 by Schattenblick

Mit leisen Tönen und beruhigendem Bühnenbild werden die Zuschauer zunächst behutsam darauf eingestimmt, Augen und Ohren für jene Erzählungen zu öffnen, die hinter den noch unbekannten Gesichtern der schlafenden Darsteller schlummern. Auf dicken, weichen Kissen und Decken liegen sie über die ganze Bühne verstreut, so friedlich wie frisch gefallener Schnee. Nicht ahnend, welch wilde Achterbahnfahrt einem noch bevorsteht, läßt sich das Publikum auf die beruhigende Szene ein, man lauscht dem angenehmen Spiel einer Flöte von der Bühnenseite, das sich mit drolligen Schlafgeräuschen mischt. Schnell ist die Welt außerhalb des abgedunkelten Raums vergessen, das Hirn entspannt sich und ist voll aufnahmebereit. Zur Rechten geht eine kleine Lampe auf einem hohen Podest an. Im spartanischen Lichtkegel der Schreibtischbeleuchtung sitzt ein blasser Mann mittleren Alters, der mit dem Niederschreiben von Daten beschäftigt ist. Überzeugend mimt der Schauspieler einen leicht angestaubten Beamten, der mit nachdenklicher Stimme vom Leben seines Großvaters mütterlicherseits zu erzählen beginnt. Der hieß mit Vornamen Wolf und lernte als hoffnungsvoller junger Mann in Moskau seine große Liebe kennen. Aus ihrer Verbindung ging die Mutter des Erzählers hervor, bevor der zweite Weltkrieg die Familie trennte und der Großvater in jahrelange Kämpfe auf dem europäischen Festland verwickelt wurde. Diese Geschichte bildet den Rahmen des gesamten Stücks. Von Anfang bis Ende wird die laufende Handlung immer mal wieder von dem unscheinbaren Mann am Schreibtisch unterbrochen. In einzelnen Brocken wird die bewegte Lebensgeschichte seines Großvaters erzählt, der als Kriegsheld und Überlebender eine weite Reise zurücklegen mußte. Auf eine herrlich trockene Art konstatiert der Erzähler dabei, daß sich dieser Weg wie ein Routenplaner durch ganz Europa liest.

Dann nimmt das Stück Tempo auf. Einer der schlafenden Haufen erwacht und die Darstellerin erklärt unvermittelt, daß ihre Großeltern höchst gläubige Menschen waren und sich in Afrika kennen lernten. Um diese Tatsache zu unterstreichen, stellt sie dabei geräuschvoll eine hölzerne Axt vor sich auf, die offensichtlich von dort stammt. Dieser plakative und gleichzeitig ironische Einsatz von anschaulichen Requisiten zieht sich durch alle folgenden Erzählungen und ist mehr als nur ein komödiantisches Element. So, wie die ulkigen Gegenstände das Publikum unerwartet zum Lachen bringen, helfen sie auch dabei, dem rasanten Erzählfluß der Schauspieler zu folgen. Später stellt man fest, daß Äxte, Schottenröcke, Plastikpuppen und andere plastische Hilfsmittel dazu führen, daß es viel leichter fällt, sich an all die spannenden Familienverhältnisse und Reisestationen zu erinnern.

Die größte Attraktion aber sind die witzigen und tragischen Anekdoten aus dem Fundus der Memoiren. Mit besagtem Schottenrock in den Händen gibt die junge Schauspielerin Kristin Johnstone die Story zum besten, daß ihre schottische Oma so dünn war, daß sie eines Tages von einem heftigen Windstoß über einen Zaun geweht wurde und sich dabei ein Bein brach. Aus dem Mund der ebenfalls sehr fragilen Darstellerin klingt die Geschichte umso komischer. Bei solchen und vielen anderen Gelegenheiten haben wir während der Aufführung buchstäblich Tränen gelacht.

Diesem kurzweiligen Debüt folgten noch viele andere, höchst unterhaltsame Auftritte. Unvergessen wird wohl die wahnsinnig witzige Performance von Evelina Feser bleiben, in welcher sie Einzelheiten aus dem beschwerlichen Leben ihrer Urgroßmutter nachspielt. Statt sich nur auf Worte zu beschränken, schlüpft Evelina in einem aberwitzigen Tempo in immer neue Verkleidungen, ist mal der Urgroßvater mit Hut und Jackett, dann wieder die Oma im geblümten Rock und immer unterwegs mit eins, zwei, drei Plastikpuppen, die deren Kinder verkörpern. Es ist kaum zu glauben, wie sie das ständige Anplünnen und Ablegen von diesem gewaltigen Kleiderhaufen mit einer fließenden und spontanen Wiedergabe von Lebensgeschichten verbindet, als wäre es eine Leichtigkeit. So mancher verkrampfte Comedian aus dem Fernsehen könnte sich von dieser saukomischen Darbietung eine dicke Scheibe abschneiden. Bei all der Leichtigkeit, den köstlichen Pointen und dem mühelosen Witz, die an diesem Abend auf der Bühne zum Einsatz kommen, vergißt man schnell, daß die jungen Protagonisten keine professionellen Darsteller sind, sondern größtenteils zum ersten Mal schauspielern. Gerade deswegen gelingt es ihnen auch, so mitreißend und spontan zu agieren, weil sie ohne Scheuklappen und weit entfernt von vorhersehbarer Routine einfach drauflos spielen.

Sie schaffen es, selbst den einfachsten Geschichten einen unschuldigen Zauber zu verleihen. Auf wunderschöne Weise beschreibt eine junge Frau ihre Kindheit in einem kleinen, abgelegenen Dorf in Osteuropa. Sie half dort, die Kühe zu melken und bahnte sich im Winter den Weg durch tiefsten Schnee zum Haus ihrer allseits unbeliebten Tante, der sie ihre ganze Zuneigung schenkte. Freimütig beschreibt sie ihre schlichte, aber tiefe Liebe zu den Kühen aus der alten Heimat und läßt das poetische Bild einer tief verschneiten Landschaft vor uns auftauchen: "Als hätte jemand ein Blatt genommen und in Zucker getaucht." Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, greift sie dabei zu einem verblüffenden Hilfsmittel. Aus einem Beutel holt sie nach und nach die Häuser und Kühe aus ihrer Geschichte hervor, die aus durchsichtigem Plastik gebastelt sind. Stück für Stück haucht die junge Frau den transparenten Formen Leben ein, indem sie vorsichtig Luft hinein bläst. Während dessen vertraut sie uns die traurige Geschichte ihres kleinen Brüderchens an, das als Baby verstarb und nun als geisterhafte, kleine Luftpuppe neben den Kühen und Häusern an einem hölzernen Stecken hängt. Eindrücklich zeigt die Darstellerin hier, wie im Leben eines Menschen schöne und tieftraurige Dinge direkt nebeneinander existieren können. Immer wieder tauchen in dem Stück fantastische kleine Requisiten auf, die total unerwartet von den Darstellern aus der Trickkiste geholt werden.

Es sind nicht zuletzt diese überraschenden Elemente, die "Lady, Lady on the Sea-Shore" zu einem einfallsreichen Feuerwerk aus komischen Knallern und bunten Wundertüten machen. Dieses Stück ist eine herrliche Mischung aus Comedy, Theater und Zaubershow in der nicht eine einzige Sekunde Langeweile aufkommt. Ein echtes Highlight ist dabei die musikalische Begleitung von Spiel und Tanz durch die virtuose Musikerin Anne Wiemann. Sie ersetzt tatsächlich im Alleingang ein ganzes Orchester, während sie live auf der Bühne zwischen verschiedenen Flöten und Saxophonen wechselt, die freihand mit Samples und mundgemachten Geräuschen gemischt werden. Scheinbar mühelos spielt sie in allen möglichen Stilrichtungen auf, je nachdem, was die Szene auf der Bühne gerade fordert. Es wird mir und anderen Zuschauern wohl ein Rätsel bleiben, wie Anne Wiemann das präzise Timing, die vielen Wechsel und Kombinationen zustande bringt, mit denen sie uns an diesem außergewöhnlichen Abend beglückt hat. Diese Vorstellung strotzt nur so vor Talent und Überraschungen. Manche Stories wirken, als wären sie aus einem Kinofilm geklaut worden, man hört von schmuggelnden Großmüttern und Gangsterverwandten bis einem klar wird: Die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben. Umso bedauerlicher ist der Umstand, daß für "Lady, Lady on the Sea-Shore" nur kümmerliche zwei Vorstellungstermine angesetzt wurden. Es wäre schade, wenn es dabei bliebe, denn so ein spannendes, innovatives Stück ist eine Seltenheit, die lange gefeiert werden sollte.

© 2010 by Schattenblick

© 2010 by Schattenblick

18. November 2010