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BERICHT/030: TeZukA, Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui verneigt sich (SB)


TeZukA
Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui verneigt sich

Sadler's Wells London 6. - 10. September 2011

von Britta Barthel


Ein Mann sitzt am linken äußeren Rand der Bühne. Den Rücken hat er dem Publikum zugewandt. Die Performance hat eine Laufzeit von etwa zwei Stunden. Dieser Mann bleibt. Nahezu ununterbrochen sitzt der über siebzigjährige Tosui Suzuki an dem hier aufgestellten Tisch und arbeitet. Zum ersten Mal auf einer Bühne hat der Kalligraph aus Japan hier eine Schlüsselrolle inne. 'Eigentlich', so der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui, 'hat er ununterbrochen gearbeitet'. Cherkaoui spricht von dem Künstler, welchem dieses abendfüllende Werk gewidmet ist: Osamu Tezuka. In Japan wahrscheinlich jedem Kind ein Begriff, ist er auch hier in Europa nicht unbekannt. Das wahrscheinlich bekannteste Werk des Manga-Zeichners ist 'Astro Boy' - eine Serie um einen Roboter-Jungen, der als Außenseiter für das Wohl der Menschen kämpft. Es weckt Begeisterung auf der ganzen Welt und sein Hauptprotagonist ist auch der Charakter, um den sich Cherkaouis Homage drehen wird.

Tänzer vor Hintergrund mit roter Sonne - Foto: © Sadler's Wells

© Sadler's Wells

Und alles beginnt mit einem Buch. Ein Junge, wohl Anfang zwanzig, ist zu sehen, als das Licht angeht. Hinter ihm leuchtet in japanischer Symbolik eine rote Sonne. Vor ihm ist ein Taschenbuch. Präzise ausgedrückt klemmt es zwischen seinen Zehen - ein aufgeschlagener Comic. Es beginnt ein Solo, das wie vieles an diesem Abend, in die Geschichte absoluter Körperkontrolle eingehen sollte. Eigentlich jedoch bildet es eine Einleitung. Mit dem Buch zwischen den Zehen windet und rollt er sich, steht auf und geht wieder zu Boden und alles im absoluten Fluss der Kontrolle und scheinbar wie verschmolzen mit seinem Buch konzentriert auf dessen Inhalt, seine Welt.

Stück für Stück treten andere Charaktere in das Universum der Bühne ein. Schnell wächst an jeder Ecke hervor, was Cherkaoui in seiner Arbeit, wie auch zuvor in Stücken wie Dunas mit der Flamenco Tänzerin Maria Pagés, mit sich bringt: Die Leidenschaft für interdisziplinäre, intermediale Arbeit. So erscheinen schon bald von der Bühne hängende Schriftrollen und weiße Leinwände, auf denen die Schriftzeichen mit Schatten, die Bilder mit Rauch und der Rauch zu einem Ball verschmelzen, mit dem zwei der Tänzer spielen, bis sie in der Flut seiner Explosion zu ertrinken scheinen. Überhaupt scheinen die Tänzer eins mit dem Bühnenbild um sich zu sein. So blättern sie riesige Comicseiten auf Leinwänden um und verkörpern Papier, das direkt neben ihnen inspiziert und dann zerstört wird.

Tänzer vor Comic-Bühnenbild - Foto: © Sadler's Wells

© Sadler's Wells

Es ist ein gewaltiges Werk, durch welches konstant ein kleiner Astro Boy stiefelt, der herzerweichend unbeholfen mit einer atemberaubenden Körperkontrolle die Szenerie durchstreift. Andere Charaktere treten in den Vordergrund, nur um nach kurzer Zeit wieder ausgewechselt zu werden. So erzählt uns die etwas ungreifbare Gestalt eines androgynen Jünglings, der mal in Frauenkostümen, mal in neutraler Unterwäsche die Bühne einnimmt, etwas mehr von dem verstorbenen Künstler. Dessen Verkörperung - nur zur Erinnerung - sitzt noch immer am Bühnenrand und arbeitet, konstant, zuverlässig und lässt Gestalten, wie atemberaubende Kampfkünstler mit Dreistock oder ununterbrochen rezitierende Mediziner entstehen und aufleben.

© Sadler's Wells

© Sadler's Wells

Auch der mysteriöse französische Intellektuelle gewährt uns sehr klare Einblicke in die Hintergründe dieses Werks. In französischer Sprache erzählt, lesen wir so auf Bildschirmen am Rand der Bühne vom japanischen Trauma. Wir lesen von Tezuka, der im Umfeld des zweiten Weltkrieges aufwuchs. Vom unumstößlichen Einfluss der nuklearen Unglaublichkeiten, welche die Insel wie der Teufel immer und immer wieder heimsuchen, welche die japanische Seele auf immer beeinflussten, ja veränderten und welche mit Sicherheit nicht zuletzt dem gewaltigen Werk des Künstlers eine Richtung gaben. Eine, die die oft angebrachte Umschreibung als 'Japans Walt Disney' bitter grotesk wirken lässt ob der überraschenden Tiefe, die die Mangas dieses der Kultnische entwachsenen Künstlers bergen.

Eine Weltpremiere ist dieses Stück. Zweifellos birgt es auch Ecken und Kanten, beispielsweise die Frage, wie man das Geschehen auf der Bühne verfolgen soll, während man die Informationen des Bildschirms absorbiert. Oder ob die Menge dessen, was sich mit den Tänzern kreuzt, nicht zu viel ist, wenn an einigen Stellen zu sehen ist, dass nicht sie die Bilder bewegen, sondern eine Synchronizität entstehen sollte und die rechte Perfektion noch nicht vorhanden ist.
Es kommen jedoch in dieser Welt, in welche man zweifellos vom ersten Moment an entführt ist, keine Zweifel auf, dass hier ein weiteres geniales Stück des sensiblen Choreographen geboren ist.

Sidi Larbi Cherkaoui - Foto: © Sadler's Wells

Sidi Larbi Cherkaoui
Foto: © Sadler's Wells

Ruhig, fast schüchtern wirkend, sitzt er vor dem Publikum, als die Diskussionsrunde nach der Aufführung beginnt. Und er weiß es auch. Ganz klar formuliert er den Gedanken der Erstaufführungen aus. 'Sie seien wie Babies', sagt er. 'Kommen auf die Welt und dann wachsen sie, entwickeln sich.' Auch eine weitere Vermutung findet sich schnell bestätigt. Dieses Stück ist sehr persönlich. 'Eine Homage ist es', so Cherkaoui. 'Als ich realisierte, wie gewaltig und umfangreich das Werk dieses Künstlers ist, wusste ich, dass nichts als eine Homage die angemessene Behandlung des Stoffes ist.' Ein Stoff, der seine Kindheit begleitete, hat er doch Tezukas Mangas von frühester Zeit an geliebt.

Auch eine andere persönliche Komponente bestimmt den Farbton dieses Stücks: Als das verheerende Erdbeben und die darauf folgende nukleare Katastrophe Japan im März dieses Jahres heimsuchten, befand sich Cherkaoui mit seiner Company in Tokio. Die Spuren dieses Erlebnisses und der folgenden Zeit, in der er dort verweilte, weil, so Cherkaoui, 'mit seinem japanischen Partner dort sein Leben war', bringen nicht nur noch mehr persönliches in diese Arbeit. Sie erzählen auch von einem grausigen Dejavu, mit dem sich das japanische Bewusstsein aber vor allem Unterbewusstsein auseinandersetzt.

Szene mit Kalligraphen - Foto: © Sadler's Wells

© Sadler's Wells

Tezuka, der Künstler, das Kriegskind, die japanische Manga-Ikone stirbt im Jahr 1989.
Dies ist einer der wenigen Momente, in denen Kalligraph Suzuki seinen Platz verlässt. Noch immer beschäftigt mit seiner Arbeit und umgeben, beschützt von seinen Figuren, bricht er nun zusammen.
Verloren sitzt der kleine Junge auf der Bühne, seinen Vater im Arm. Astro Boy ist nicht geschaffen, solchen Situationen gewachsen zu sein. Es wird ihm abgenommen. Und so trägt der Denker, der Mediziner, den Urvater schlussendlich von der Bühne.

'Man könnte zu jeder einzelnen Facette all seiner Geschichten ein ganzes Stück kreieren', schließt Cherkaoui in der Diskussionsrunde. 'Ich hoffe nur, dass ich ein paar Zuschauer inspiriere, diesen großartigen Mann zu lesen.'
Diese Anmerkung jedoch, war schon lange nicht mehr nötig.

Sadler's Wells Theatre London - © 2011 by Schattenblick

© 2011 by Schattenblick

15. September 2011