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BERICHT/034: White - und die Frage, was übrig bleibt. Choreographie von Lin Hwai Min (SB)


White

...und die Frage, was übrig bleibt.
Eine Choreographie von Lin Hwai Min

Sadler's Wells London 9. bis 12. November 2011

von Britta Barthel


1998 uraufgeführt wurde 'White' augenblicklich als Meisterstück tituliert, einfach aufgrund seiner außergewöhnlichen Schönheit. Und tatsächlich wird Choreograph Lin Hwai Min in jeder Phase dieser Arbeit seinem Ruf gerecht als Künstler, der Bewegung schafft, an der man einfach nicht vorbei kommt. Sie hat eine fraglos einzigartige Qualität. Man könnte es wagen zu behaupten, dass eine Hauptzutat in dieser Kreation eines neuen Tanzes die Ernsthaftigkeit und Stringenz ist, mit der sich der Taiwanese in die Bewegungsforschung begeben hat. Seine Fusion aus Zeitgenössischem Tanz und alten asiatischen Bewegungstechniken wie Tai Chi und Chi Gong wurde schon mit früheren Arbeiten wie Cursive oder Moon Water weltberühmt und die Vorgehensweise, zu Zeiten mit seinen Tänzern fast wie im Kloster eng zusammen gelebt zu haben, gaben den so entstandenen Arbeitsweisen bestimmt nicht zuletzt diese außergewöhnliche Kraft.
Soviel zur Geschichte. Nun ist die erste Version von 'White' schon im selben Jahr wie Moon Water und lange vor Cursive entstanden.

Und es ist weiß. Die Bühne ist es. Und die Tänzerin ebenfalls, welche den Abend im Zentrum der Bühne in schlichtem weißen Kostüm in diesem wohlbekannten, hochkonzentrierten Bewegungsstil zu tanzen beginnt, der Lin Hwai Mins Arbeit zu eigen ist. Nach innen gerichtet, stark und doch zugleich erzählend haben diese Bewegungen einen unumstrittenen Zauber. Mit freiem Oberkörper und in altmodisch langem Tutu betritt ein weiterer Tänzer die Bühne. Hier jedoch ist er der Musiker. Er hält eine traditionelle chinesische Flöte in Händen und spielt darauf eine Melodie, die, sollte es so etwas überhaupt geben, fast wie ein buddhistisches Schlaflied wirkt. Er überquert einfach die Bühne und gibt unserer Tänzerin sowie zwei weiteren, die in Folge erscheinen, einen Boden, auf dem das Wasser ihrer Bewegungen dahin fließt; in ureigenster Schönheit. So erschließt sich dieser Teil, genannt White I, für den Zuschauer tatsächlich als Schönheit - rein, überwältigend in der Präzision der Bewegung, die mit Kraftfokus nach unten nicht nur die Bühne einnimmt. Das ist alles.

Ein Tänzer in höchster Präzision - Foto: © Sadler's Wells

Foto: © Sadler's Wells

Der Vorhang fällt.

White II wurde Jahre später erarbeitet, als Fortsetzung der schon existierenden kurzen Arbeit. Nach der Pause also präsentiert sich einem ein ganz anderes Bild. Und dann wieder auch nicht - ist doch die beabsichtigte Gegensätzlichkeit nicht sofort zu erkennen - findet man dann schnell die weiß gekleideten Tänzer in der dunklen Atmosphäre wieder. Der Vorhang öffnet sich also und Metall dominiert die Bühne. Es sind die Lichtstangen, die bis auf den Boden heruntergelassen die Atmosphäre einer düsteren Industrieromantik entstehen lassen. Erst sind es nur die Silhouetten zweier Tänzer im Hintergrund, die zu erkennen sind. Und nun gerät dieses riesige Ungetüm an Metall in Bewegung. Langsam erhebt es sich über die Tänzer und mit ihm ein gewaltiges Tuch, eine schwarze Wolke, die, als die Stangen stoppen, gerade hoch genug über den Tänzern zum Stillstand kommt, um sie nicht zu bedecken. Wie diese schwarze Wolke über ihren Köpfen dominiert auch die dazugehörige bedrohliche Stimmung die Essenz ihrer Bewegung. Unter dem Einfluss nun abstrakter modern klassischer Klänge bewegen sich diese Körper hektisch, in Gruppen allein oder gegeneinander fegen sie über die Bühne. Der erdige Fokus verliert sich und wird ersetzt durch die Virtuosität zeitgenössischer Technik in höchster Präzision. Und doch, trotz allem, bleibt die Eigenart der Energie erhalten, für die dieses Ensemble weltberühmt ist.
Das Licht ist düster und in einem Akt, der wirkt wie kontrollierte Zerstörungswut, scheint es, dass die Tänzer den Tanzboden in Streifen auseinandernehmen. Dabei bilden sich Linien, wie Zäune beherrschen sie die Bühne und spiegeln sich mit den gradlinigen Armgebilden der Tänzer, welche mehr und mehr in den Vorendgrund des Bewegungsrepertoires geraten.

Sieben Tänzer mit gradlinigen Armgebilden - Foto: © Sadler's Wells

Foto: © Sadler's Wells

Die Bühne klärt sich, ein mattes Licht herrscht plötzlich über allem und von der schwarzen Wolke ist nun keine Spur mehr. Viel mehr ist wieder Boden in die Tänzer gekommen. In teils schneller, aber nicht unruhiger, Interaktion bewegen sie sich nun über die Bühne. Allein, in Gruppen und im Wechsel kommen sie wieder zu der bodenhaftenden Kunstfertigkeit ihrer Bewegung zurück.
Das ist alles.

Trocken scheint es, nicht wahr? Nun, es war wunderschön und düster und voller Spannung. Als Lin Hwai Min am Kunsthimmel erschien, war er einer der innovativsten, vielversprechendsten und faszinierendsten Choreographen und vor allem Bewegungskünstler seiner Zeit.
Und handelt es sich um eine Spannung in der Luft seiner neuen/alten Arbeit, die geradezu greifbar scheint, entpuppt sie sich doch als ein leerer Raum, ein Luftschloss, das keine Geschichte verbirgt. In etwa wie die Freiheit, welche einem von Coca Cola so herzerweichend in den Kopf gepflanzt wird, von der - kommen wir ihr aber näher - einzig ein süßlicher Nachgeschmack übrig bleibt, im besten Falle der Empfindung noch Zahnschmerzen.
Und tatsächlich hinkt der Vergleich mit Cola leider nur sehr wenig. Kommt einem doch die perfekt ein-choreographierte Verbeugungszeremonie am Ende der Vorstellung sehr stark wie ein asiatischer Schönheitswettberwerb vor, wie ihn sich die amerikanische Filmindustrie vorstellt.
Und auf einmal sind wir meilenweit entfernt von dem atemberaubenden Zauber, von der Philosophie, die einen innehalten ließ, ohne dass sie sprechen musste, denn sie war echt. Es steckte ein Glaube dahinter, eine Idee, eine Kunst. Wo ist dieser Künstler geblieben, der Hand in Hand mit seiner Arbeit und seiner Idee ging. Ohne zu wissen, was oder ob etwas dahinter steckt, kann ich zum Abschluss nur dies sagen:
An diesem Abend habe ich ihn nicht gesehen, allenfalls eine Reflexion von der Vorstellung, wie es hätte gewesen sein können.

Sadler's Wells Theatre London - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

18. November 2011