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BERICHT/045: Gefangen bei offener Tür (SB)


Die Frau, die gegen Türen rannte

Viel Applaus für die Premiere von Roddy Doyles Theaterstück am 14. Februar 2013 in Kiel



Wie kommt es, daß eine Frau 17 Jahre lang bei einem Mann bleibt, der sie schlägt, beschimpft, demütigt, ihr sie Zähne ausschlägt und die Knochen bricht und brennende Zigaretten auf ihrer Haut ausdrückt?

Paula Spencer ist so eine Frau. Aufgewachsen in prekären Verhältnissen, wird sie in die Sonderklasse eingeschult. Sie gilt von vornherein als dumm. Früh muß sie sich gegen sexuelle Übergrifflichkeiten ihrer Mitschüler zur Wehr setzen. "Du stinkst nach deinen Tagen!" - "Du stinkst nach Scheiße!" Die Schule erlebt sie als eine Institution, in der unter Aufsicht Erniedrigung als Bestandteil des Sozialkampfs untereinander und zwischen den Geschlechtern zum bleibenden Lerninhalt fürs weitere Leben übernommen wird. "Wir kamen als Kinder in die Schule und wurden dort zu Tieren gemacht."

Foto: © by Die Komödianten 2013

Anke Pfletschinger als Paula Spencer
Foto: © by Die Komödianten 2013

Das Mädchen Paula, das die ersten körperlichen Anzeichen einer werdenden Frau aufregend und schön findet, bekommt zu spüren, daß etwas undefinierbar Verwerfliches daran ist, weiblich zu sein. Ich war schon eine Schlampe, bevor ich in die fünfte Klasse kam, sagt sie. Eine Chance auf ein Selbstbewußtsein, das nicht von außenbestimmter Bewertung abhängt, hatte sie nicht.

Dann lernt sie in einer Kneipe Charlo kennen - und kriegt sofort weiche Knie. Nicht hübsch, kein Robert Redford, aber groß. Er stinkt nach Schweiß, Zigaretten und Alkohol, aber das macht ihr nichts, mit Jeans, Bomberjacke und Turnschuhen ist er "total lässig" - und gewalttätig. Paula fährt komplett auf ihn ab - und er auf sie. Als sie zum ersten Mal tanzen, spielen sie "Sugar Baby Love" von den Rubettes. "Frauen erinnern sich immer an die Musik", sagt Paula. Das erste Mal, als er sie nach Hause brachte, war das Beste, was sie je mit ihm hatte. An seiner Seite wird sie von ihrer Umwelt respektiert - endlich ist sie wer.

Den ersten Sex haben sie draußen, es gibt keine Picknick-Decke wie bei Robert Redford und nach Hause trägt er sie auch nicht. Paula und Charlo heiraten, sie bekommt vier Kinder. Schon bald fängt Charlo an, sie zu schlagen, er quält sie, spielt Spiele mit ihr, bei denen sie nicht gewinnen kann. Was auch immer sie sagt oder tut oder wie sie sich verhält - alles ist falsch. "Er haßte mich, weil ich lebe."

Aber sie gibt sich die Schuld, sucht Erklärungen für sein Verhalten. Er hatte Streß, klar, er hat die Beherrschung verloren, es war ein Ausrutscher. "Ich hätte den Tee ja auch kochen können, statt zu sagen: Mach dir deinen Scheiß-Tee doch selber!" Auch für die blauen Flecken werden Notlügen gefunden: Sie habe nicht aufgepaßt, sei gegen eine Tür gelaufen - immer wieder. Die Ärzte und Schwestern im Krankenhaus fragen nicht weiter nach. Wenn sie es doch täten - sie würde ihnen alles sagen. Aber es interessiert niemanden.

Paula flüchtet in den Alkohol. Natürlich könnte sie sofort damit aufhören, wenn sie wollte - wie alle Alkoholiker. Aber sie findet, daß es reicht, nüchtern zu bleiben, bis der Kleinste im Bett ist, auch wenn sie dafür die Uhr vorstellen muß, damit dieser Zeitpunkt früher eintritt.

Foto: © by Die Komödianten 2013

Foto: © by Die Komödianten 2013

Über die Lebensbeichte von Paula hat der irische Schriftsteller Roddy Doyle mit präziser und ungewöhnlich einfühlsamer Beobachtungsgabe einen Roman geschrieben. Oliver Reese, Intendant des Schauspiels Frankfurt, hat daraus eine Bühnenfassung gemacht. Markus Dentler, Theaterchef der Kieler Komödianten, hat das Stück in der Mainmetropole gesehen und an die Förde geholt, mit Anke Pfletschinger hervorragend besetzt und in Raija Ehlers eine exzellente Regisseurin gefunden. Am 14. Februar hatte das Stück in der Wilhelminenstraße in Kiel Premiere.

Das Bühnenbild ist denkbar sparsam: drei Flaschen Wasser, eine Schaukel, auf der Paula die Geschichte ihrer Liebe zu Charlo erzählt, die kahle Wand als Ort, an dem sie sich an die Schulzeit und die Zudringlichkeiten ihrer Mitschüler erinnert, von der Decke herabhängende Papierstreifen, auf die späterhin Fotos aus Paulas Vergangenheit projiziert werden, die in das Spiel um Gewalt und Verzweiflung geschickt miteinbezogen werden.

Ich bin Puristin, bekennt die Regisseurin Raija Ehlers nach der Premiere in einem Gespräch mit dem Schattenblick, das fordere der Schauspielerin allerdings einiges ab. Sie muß die ganze Bühne allein mit ihrer Person füllen. Und das gelingt Anke Pfletschinger in dem 70-minütigen Monolog mit großer Präsenz und Vielfältigkeit. Zwischen Selbstvorhaltungen und Selbstlügen, Alltagsbewältigung und Verdrängung verkörpert sie eine Frau, deren Lebenssituation in aller Widersprüchlichkeit sicher manche Zuschauerin angesichts der hier in Szene gesetzten Spiegelung eigener Erfahrungen hat fragen lassen: Warum lasse ich mir das eigentlich gefallen?

Der Wechsel zwischen den Zeiten, Schauplätzen und Perspektiven in Paulas Leben erfolgt schnell und mühelos nachvollziehbar. Paula schwelgt in romantischen Erinnerungen, schimpft, schreit, lacht, singt und tanzt, räsoniert und rationalisiert. Pfletschingers differenziertes, ausdrucksstarkes Spiel, das eher auf leise Töne setzt, macht deutlich, daß es kein Entweder-Oder von Traum und Realität gibt, sondern daß beide unentwirrbar miteinander verbunden und gleich wahr sind.

Auch brutale Passagen und eine sexualisierte Ausdrucksweise gelingen deutlich, ohne ins Ordinäre abzurutschen. Es ist eine Lebensbeichte ohne Moral, eher nüchtern und bisweilen komisch, immer voller Musik und voller Leben. Auf die Frage des Schattenblicks, wo sie mit ihrer Inszenierung die Schwerpunkte gesetzt habe, antwortet die Regisseurin, ihr sei es weniger um eine Zuordnung zum Genre Tragödie oder Komödie gegangen, sondern darum, die Person Paula Spencer zu finden. Mit Anke Pfletschinger habe es eine überaus fruchtbare Zusammenarbeit gegeben. "Wir haben sehr viel über Frauenleben diskutiert und über Gewalt."

Denn Paula ist kein Einzelfall. Laut Terre de Femmes leben Frauen zu Hause am gefährlichsten. Weltweit ist das so, auch in Deutschland. Häusliche Gewalt ist die häufigste Ursache von Verletzungen bei Frauen: häufiger als Verkehrsunfälle und Krebs zusammen genommen. Und damit sind nur die körperlichen Mißhandlungen genannt. Jede vierte Frau ist betroffen.

Es gibt keinen Kostümwechsel, kein Hochzeitskleid wie in der Nürnberger Inszenierung vom Dezember und auch keine Perücke wie im Programmheft noch sichtbar. Lediglich das Haarband, mal hochgeschoben, mal um den Hals, mal vor die Augen gezogen, symbolisiert die verschiedenen Gemütsverfassungen und Stimmungslagen, ansonsten bleibt es bei einem roten T-shirt unter braunem Nicki-Hausanzug.

Foto: © by Die Komödianten 2013

Foto: © by Die Komödianten 2013

Als Charlo anfängt, die älteste Tochter Nikola auf eine ganz bestimmte Weise anzuschauen - erst da schmeißt Paula ihn raus. Mit der Bratpfanne, dem alten Stück - "es war ganz leicht und er ist sofort gegangen." Wie oft schon war sie selbst an der Tür gewesen, war fast schon draußen, hatte aber immer wieder einen Grund, warum es jetzt noch nicht günstig sei - und dann war alles plötzlich so einfach.

Inzwischen ist Charlo tot, von der Polizei erschossen, und Paula liebt ihn immer noch. Wie es jetzt weitergeht, will die Tochter wissen. Paula hat darauf keine Antwort - aber die Türen stehen offen.

Den Komödianten möchte man wünschen, daß sie dieses Stück fest in ihr Programm aufnehmen. "Es hängt", sagt Pressesprecherin Petra Bolek, "auch vom Publikum ab". Das quittierte diesen sehr gelungenen und nachhaltig wirkenden Theaterabend mit einem begeisterten und nicht enden wollenden Applaus.

18. Februar 2013