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BERICHT/048: Versuch über die Frau im Tanz - eine Bühnenbotschaft (SB)


Suche nach Sinn und Sinnlichkeit

Premiere des Tanzorchesters Suse Tietjen mit "Frauenzimmer"
am 24. und 25. Mai im Hamburger Sprechwerk


Dass eine Frau nicht immer nur ein Gesicht hat, dürfte allgemein bekannt sein, aber wie viele Seiten kann man in einer Frau von heute finden? Die Charmante, die Ehrgeizige, das Mädchen von nebenan ...
Bestimmt durch ihre Umwelt, ihre Gedanken, Mitmenschen und vieles mehr, kann alles dazu beitragen, dass von einer Minute auf die andere auf einmal eine ganz andere Frau in Erscheinung tritt. Frauen sind unberechenbar, selbst die scheinbar Berechenbare, und das macht sie so wundervoll und lässt sie mit allen Umständen ihrer Zeit fertig werden.
Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Dieses Zitat aus dem Programmheft versuchte, wenngleich auf wenig klischeefreie Weise und ein längst vergangenen Zeiten zu gewähntes Bild - das der Unberechenbarkeit - bemühend, mit dem sich auch heute noch Frauen freiwillig in einer Position halten, die sie zwar unselbständig macht, dafür aber mit dem Duft des Wunderbaren umgibt und das auf die Lebenswirklichkeit der meisten Frauen nicht zutreffen dürfte - das Thema einer Tanzpremiere zu umreißen, die am Abend des 24. und 25. Mai im Hamburger Sprechwerk stattfand.

18 Tänzerinnen, 18 starke Persönlichkeiten und ein Thema: "Die Frau!" - das war das Grundkonzept der neuen und nun bereits vierten Produktion des "Tanzorchesters Suse Tietjen", das bereits im Jahr 2011 gegründet wurde und nun mit "Frauenzimmer" auf die Bühne trat.

Die Choreographinnen Melanie Holt, Magdalena Erdmann und Jamila Franzen hatten das abendfüllende Stück in drei Teilen erarbeitet. Die Premiere war bis auf den letzten Platz ausverkauft, so dass noch weitere Stühle hinzu gestellt werden mussten, damit alle 170 Zuschauer (nicht nur Frauen) einen Platz fanden, und doch mussten immer noch einige stehen.

Das Tanzorchester ("TO") hatte die Proben im Januar diesen Jahres mit neuen Gesichtern begonnen. Da die Gründerin Suse Tietjen momentan für zwei Jahre in London lebt und dort Choreographie studiert, hatte sie sich die bereits im letzten Jahr choreographierenden Melanie Holt und Jamila Franzen und neu dazu Magdalena Erdmann engagiert, um das Tanzorchester während ihrer "körperlichen, jedoch keineswegs geistigen Abwesenheit" (Melanie Holt) zu führen und zu stützen.

Wer bereits frühere Stücke von Suse Tietjen (wie beispielsweise "Stimmen der Wasser") erleben konnte, merkte zwar einen deutlichen Unterschied zwischen den Choreographien der Kompaniegründerin selbst und den nun entstandenen drei Stücken der "neuen" Choreographinnen, doch passten sich die Tänzerinnen in "Frauenzimmer" ebenso gut dem übergeordneten Thema an, wie bei den vorherigen Produktionen des Tanzorchesters. Sie schlüpften in die verschiedensten Rollen, waren in schwarzen Hosen und schlichten Oberteilen genauso überzeugend wie in pinken Kleidern und gaben dem Zuschauer das Gefühl, dass sie ihr Thema "Frau" ernst nahmen und sich wirklich damit auseinander gesetzt hatten.

Die Choreographien "era (f.)" von Jamila Franzen, "mensch!" von Magdalena Erdmann und "Sie trägt rot" von Melanie Holt beinhalteten ganz unterschiedliche Auffassungen des Themas und überzeugten jedes auf eine eigene Art, durch die verschiedensten Umsetzungen in Bezug auf die Bewegungsqualitäten, die Musik, die Anzahl der Tänzer sowie auch die Kostüme, sodass immer wieder komplett neue Bilder entstanden.

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Das erste Stück "era (f.)" wurde von nur fünf Tänzerinnen getanzt, die in langen grauen Röcken und roten Socken mit Sprache (drei der Tänzerinnen zählten zeitweise laut von eins bis acht) und Klappstühlen Bewegungsabläufe zeigten, in denen sie ihre Requisiten ebenso gut wie die Bühne selbst miteinbezogen, indem sie den Raum durch sogenannte "Levelchanges" von tief (auf dem Boden) bis hin zu hoch (in der Luft) ausgiebig nutzten. Durch eine Musik, die die Bewegungen durch ihren konstanten Beat unterstützte und teilweise einfache Bewegungsfolgen, gemixt mit interessanten Stuhlelementen (beispielsweise einem Radschlag über den Stuhl), entstand eine in sich stimmige Choreographie, der Programmheftbeschreibung zu Jamila Franzens Stück entsprechend: "...vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber diese ist die unsere..." (Jean-Paul Sartre). Deutlicher als der Titel des Stückes, vermittelte dieses Zitat dem Zuschauer, dass die Choreographin eine auf die Zeit bezogene Choreographie erschaffen wollte, in der sich die Tänzerinnen einen eigenen Platz in ihrer Welt ergattern - und dies gelang ihr auch.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Musiker Neil Huggett
Foto: © 2013 by Schattenblick

Magdalena Erdmann bezog in ihrem Stück "mensch!" auch den Livemusiker Neil Huggett mit ein. Er sollte mit Hilfe seiner Instrumente spontan auf die Tänzerinnen reagieren und eine unterstützende Musikatmosphäre schaffen. Im Endeffekt wirkte es zwar eher so, als ob die 12 Tänzerinnen auf ihn reagierten, doch das tat dem Stück keinen Abbruch. So wirbelten sie zu den Klängen eines Schlagzeuges, einer E-Gitarre und anderer Musikinstrumente umher, darunter auch ein eigentliches Kopfmassagegerät, bei welchem der Musiker die metallenen Massagestäbchen wie eine Art Glockenspiel benutzte. Das verlieh der Choreographie den Charakter eines Regentanzes, unterstrichen noch durch die bunten Röcke aus einer Art Regenschirmstoff. Das im Programmheft abgedruckte Motto zum Stück: "Ja mensch, und die Männer... die geben ihren Sssenf dazu", mag diese Rollenverteilung von Tänzerinnen und musikalischem Kommentator gemeint haben, wirklich zu erkennen war es innerhalb der choreographischen Umsetzung aber kaum, da auf der Bühne aus der Perspektive des Zuschauers zwar viel Chaos herrschte, doch die "Männer" nicht als Personen dargestellt wurden, was den Gedanken hinter dem ausgewählten Zitat hätte deutlicher machen können. Somit blieben am Ende die Frage nach der Intention der Choreographin und das bunte Geraschel der Kostüme zurück.

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Nach der farbfröhlichen zweiten Choreographie des Abends folgte eine zwanzigminütige Pause, in der die Gründerin des Tanzorchesters, Suse Tietjen, die extra aus London eingeflogen war, um ihre Kompanie tanzen zu sehen, eine kleine und sehr emotionale Rede hielt. Sie bedankte sich herzlich bei ihren Choreographinnen und Tänzerinnen, die sie trotz der momentanen Entfernung so sehr unterstützten. Man merkte, wie auch in einem späteren Interview mit der derzeitigen Leiterin des TOs Melanie Holt, wie eng die Kompanie miteinander verbunden ist und welchen Halt sich die Mitglieder untereinander geben, auch ohne dass sie räumlich beieinander sind.

Die Gründerin des Tanzorchesters auf der Bühne - Foto: © 2013 by Schattenblick

Suse Tietjen während ihrer Dankesrede
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die zweite Hälfte des Abends startete mit dem dritten und letzten Stück "Sie trägt rot" von Melanie Holt. Das weiblichste Stück des Abends stellte von Anfang bis Ende genau das dar, was die Choreographin damit ausdrücken wollte - Sinnlichkeit. Die wechselnden Kostüme der Tänzerinnen von schwarzen Hosen und rosaroten, schwarzen und blauen Bodies zu hellpinken, schlichten doch wirkungsvollen Kleidern mit einem einfachen weißen Taillengürtel, unterstrichen ganz das Thema des Abends und auch den Inhalt der Choreographie.

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Die Programmheftbeschreibung des Stücks "Wir sehen. Wir hören. Wir tasten. Wir riechen. Wir schmecken. Sind wir nun sinnlich?" griffen die Tänzerinnen auf, indem sie ihre fünf Sinne durch deutlich an diese Empfindungen angepasste Bewegungen unterstrichen, sich beispielsweise ihre Ohren zuhielten oder sich mit ihren Händen über den Mund fuhren. Es entstand ein wunderschönes, manchmal laszives und doch starkes, rundum gelungenes Abschlussstück des Abends. Die besonders ausdrucksstarken Soli und Duette, in denen die Tänzerinnen durch ihre Bewegungen fast schon optisch miteinander verschmolzen, da sie so synchron waren, spiegelten - unterstützt von unterschiedlichstem und teilweise außergewöhnlichem Licht - das hohe Niveau wider, auf dem sich das Tanzorchester generell bewegt. Eindrucksvolle Bilder entstanden auch, als alle 16 Tänzerinnen in einer Reihe an der Rückwand der Bühne im Freeze standen und die Zuschauer einfach nur ansahen. Dies geschah bei einigen Tänzerinnen mit einem so intensiven Blick, dass man eine Gänsehaut bekam.

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Foto: © 2013 by Winfried Deblitz

Ein weiteres imposantes Bild ergab sich, als sich vier einzelne Tänzerinnen zu den Klängen von Marlene Dietrichs "Nimm dich in Acht vor blonden Frauen" bewegten. Drei von ihnen tanzten mit der vierten (blonden) Tänzerin, auf welcher das Augenmerk dieses Teils des Stückes lag und "halfen" ihr, sich zurecht zu finden, indem sie sie und ihre Bewegungen "führten". Dieses Zusammenspiel der Gruppe, aber auch der Text des erwähnten Liedes im Zusammenhang mit den Bewegungen der Tänzerinnen, brachte alle Zuschauer zum Schmunzeln.

Wie bei den vorangegangenen beiden Stücken unterstützte auch in Melanie Holts Choreographie die Musik - ein Wechsel aus mystischen Klängen, konsequentem Beat und einem bekannten Schlager - die Tänzerinnen in ihren Rollen.

Am Ende wurde der Abend vom Publikum mit johlendem Applaus und Standing Ovations honoriert, vier 'Vorhänge' gab es für Tänzerinnen und Choreographinnen.

Die Choreographinnen verbeugen sich nach dem Stück gemeinsam vor dem Publikum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die zufriedenen Choreographinnen Magdalena Erdmann, Jamila Franzen und Melanie Holt (v.lks.)
Foto: © 2013 by Schattenblick

Man kann sagen, dass sich die Gründerin des Tanzorchesters drei vielversprechende Choreographinnen mit ins Boot geholt hat, von denen man wohl auch im nächsten Jahr etwas Spannendes zu erwarten hat, woran dann natürlich auch die Tänzerinnen wieder nicht ganz unschuldig sein werden.


4. Juli 2013