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BERICHT/052: ACTING - Omega, Alpha, Obsession (SB)


Theaterspiel im Knast - mit Kunst Mauern einreißen

Deutsche Erstaufführung von Xavier Durringers ACTING im Kieler Theater der Komödianten am 5. Juni 2014



Der französische Dramatiker Xavier Durringer ist dafür bekannt, daß er sich mit seinen Stücken gern an den Rand der Gesellschaft begibt, nicht nur was die Themen und Inhalte, sondern auch was die Auswahl seiner Spielstätten betrifft. Mit Stücken wie "Ganze Tage, ganze Nächte", "Schnitt ins Fleisch", "Bal-Trap" und "Die Gelobte" hat er sich weit über Frankreichs Grenzen hinaus einen Namen gemacht und gilt heute als einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Theaterautoren des Landes.

Die Schauspieler sitzen nachdenklich nebeneinander auf dem Boden ihrer Zelle - Foto: © 2014 by Thomas Eisenkrätzer

Thomas Bosch als Robert (lks.), Ivan Dentler als Gepetto
Foto: © 2014 by Thomas Eisenkrätzer

Sein 2012 entstandenes Stück ACTING, das am 5. Juni 2014 in deutscher Erstaufführung im Theater der Komödianten in Kiel Premiere hatte, spielt im Knast. In seiner Zelle wartet Gepetto auf einen neuen Häftling. Auf welche kriminelle Neigung wird er bei dem zukünftigen Zellengenossen treffen, mit welchen Eigenheiten die Intimität eines kleinen Raumes für lange Zeit teilen müssen? Zwei Charaktere treffen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Robert (Thomas Bosch), Schauspieler in der Krise, der wegen Mordes verurteilt wurde und Gepetto (Ivan Dentler), ein Gelegenheitsbetrüger. Und doch verbindet die beiden eine Leidenschaft, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Motiven: die Schauspielerei. Während Gepetto, fasziniert vom Gewerbe, in den Schauspielern alle Träume des Erfolges erfüllt sieht, ist Robert frustriert von der Theaterwelt. Ihm gilt die Kunst, die auszuüben er keine Gelegenheit hatte, mehr als die Anerkennung. Jetzt, im Knast, spürt er eine neue Aufgabe: seinen Mitgefangenen im Schauspiel zu unterrichten.

In knapp 20 Bildern entspinnt sich zwischen dem zunächst verschüchterten, dann immer leidenschaftlicheren, zuletzt fast manischen Robert und dem anfangs eher naiven, wenngleich auch lebenslistigen Gepetto ein intensiver Dialog um das, was Schauspielerei ausmacht. Desillusionierende Einblicke in den Beruf des Schauspielers für den, der sich bislang mit den Klischees der Zunft zufrieden gab: Warten auf die nächste Rolle, ständig neue Bewerbungen, ein Nichts und Niemand in Abhängigkeit von Regie und Produktion. Die ständige Sorge um die eigene Existenz, zu viel Konkurrenz und zu wenige Rollen.

Robert und Gepetto am Tisch ihrer Gefängniszelle - Foto: © 2014 by Thomas Eisenkrätzer

Intensive Gespräche
Foto: © 2014 by Thomas Eisenkrätzer

Gepetto aber bleibt bei seiner Begeisterung. Der von Kunst und Kultur weitgehend Unbeleckte soll nun den Hamlet lernen. Der Meister des Faches lehrt ihn die Grundlagen des Spiels, wie man atmet, wie man sich bewegt, wie man auf verschiedene Arten geht, er treibt ihn an und über sich hinaus. Die bravouröse Selbstverständlichkeit, mit der Thomas Bosch agiert, läßt die Grenzen zwischen dem Schauspieler und der Rolle, die er an diesem Abend spielt, verschwimmen. Gepetto ist gefordert, sich bis zur vollkommenen Entblößung mit seiner Nichtigkeit und seinem Nicht-Können zu konfrontieren. Die Arbeit an Hamlets Monolog, der man im anfänglichen Geplänkel kaum eine Chance auf Erfolg einräumt, weckt Emotionen, die einen Plan reifen lassen.

Für beide ist es eine Wandlung. Robert, der "draußen" in der quotengesteuerten Theater- und Fernsehwelt nicht zurechtkam, findet zur alten Leidenschaftlichkeit zurück, die am Ende des Stückes eine wahnsinnige Zuspitzung erfährt, Gepetto bringt Seiten zum Vorschein, die er vorher selber noch nicht kannte, entdeckt ganz neue Sichtweisen und Gedanken bei diesem Spiel und entwickelt eine Chance und Perspektive für die Zukunft. Das Ziel: Gepetto soll und will einer der ganz Großen werden, das Bekenntnis Roberts zur Schauspielkunst in die Welt tragen. Dabei entdecken Robert und Gepetto, daß zwischen Schauspielerei und Betrug der Unterschied so groß nicht ist, hier wie da geht es darum, anderen etwas erfolgreich vorzuspielen.

Auch wenn die bisweilen sexualisierte Sprache schnelle Lacher provoziert, spürt der Zuschauer bald, daß es im Spiel um Ernstes geht: um die Leidenschaft, die Verletzlichkeit, das Wagnis zu vertrauen, um eigene Gefühle und Lebenserfahrungen, die ein Schauspieler zum Einsatz bringen und mit denen sich zu konfrontieren er den Mut haben muß, um eine Rolle zu füllen. Und um die Kunst des Beobachtens. Gepetto soll lernen, Kopf, Kehle, Bauch, Herz und Wut einzusetzen. "Du hast Potential", quittiert Robert dessen wachsende Bemühungen im siebten Bild.

Die Häftlinge im Etagenbett ihrer Zelle: Gepetto (oben) blickt mißtrauisch auf das Textheft, Robert (unten) schaut ihn gespannt an - Foto: © 2014 by Thomas Eisenkrätzer

Was soll mir der Hamlet?
Foto: © 2014 by Thomas Eisenkrätzer

In der Enge einer Zelle, die, mit sparsamsten Mitteln ausgestattet, durch den Einfallsreichtum der Regie äußerst variantenreich in immer andere Schauplätze verwandelt wird, erlebt das Publikum ein in Dichte und Dramatik sich steigerndes Stück, sowohl inhaltlich als auch was die spielerische Bandbreite der Protagonisten betrifft: teils zärtlich sensibel, teils gewalttätig aggressiv, voller Mißtrauen, aber auch Hingabe, spielerisch und psychologisch hintergründig, lebenserfahren und banal.

Die Inszenierung ist eine mitreißende und überzeugende Hommage an das Theater und die Schauspielerei, das Komische wie das Tragische. Aus Roberts Lektionen werden intensive theatrale Momente - die Zelle verwandelt sich in eine Theaterbühne - in einen kreativen Raum, heißt es zu Recht in der Ankündigung zur Premiere. Es ist aber auch ein Stück über menschliche Möglichkeiten zur Entwicklung und Entfaltung, auch unter engsten Bedingungen, oder vielleicht gerade da. Hier sind wir frei, sagt Robert, dem es erst in der Zelle gelingt, sich ohne Vorgaben, ohne zeitliche Begrenzung, ohne Konkurrenz nur der Kunst zu widmen. Die Frage, was soll aus mir werden, hier stellt sie sich nicht mehr.

Daß sich Ivan Dentler mit ACTING erstmals an die Regie gewagt hat, erscheint am Ende auch als logische Konsequenz des Stückes, kennen doch beide Darsteller das Leiden an der Schauspielerei aus eigenem Erleben. In der Auswahl des Stückes, der Besetzung seines Counterparts mit Thomas Bosch, aber auch in der technischen Umsetzung hat er dabei eine mehr als glückliche Hand bewiesen.

Beim Applaus auf der Bühne mit Rosen in der Hand - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gelungene Premiere: v.lks. Regieassistent Ulrich Weiss, Thomas Bosch, Ivan Dentler, Co-Regisseurin Christina Dobirr
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Erweiterung des Programmspektrums der Komödianten um Ausflüge ins etwas ernstere Fach scheint sich ganz offensichtlich auch mit dieser Produktion zu bewähren und das Publikum des kleinen Zimmertheaters, das sonst eher Komödiantisches gewohnt war, voll und ganz mitzunehmen. Mehr Applaus kann ein Stück am Ende nicht haben. Chapeau!!!

Zu erleben ist ACTING freitags und samstags um 20 Uhr am 13.6., 14.6., 20.6., 21.6., 27.6., 28.6.2014 und noch einmal im August am 29.8. und 30.8.2014


Fußnote:

Interview mit Ivan Dentler und Thomas Bosch im Schattenblick unter:
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INTERVIEW/016: ACTING - Extremfall Bühnenspiel, Ivan Dentler und Thomas Bosch im Gespräch (SB)

12.Juni 2014