Schattenblick → INFOPOOL → THEATER UND TANZ → REPORT


BERICHT/061: Umtanz und Decken ... Klamaukkissen (SB)


JungerTanzHamburg
Lucia Glass: WAS UNS BEWEGT, WAS WIR BEWEGEN
Premiere am 19. September 2015 - [k]KAMPNAGEL


Mit dem "S s s sss s s" einer Fliege auf den Lippen taucht eine Tänzerin in gestreiftem Top und kurzer Hose auf der Bühne auf. Sie folgt dem Gesumse nicht nur mit den Augen. Plötzlich wird es still. Die Fliege hat sich niedergesetzt. Die junge Frau stupst sie an. Sumsend erhebt sich das Getier in die Luft. Diesmal umkreist sie offensichtlich ihre Verfolgerin, die mit ihren immer schneller werdenden Bewegungen den Flug nachzeichnet. Dann verebbt das Summen. Wo versteckt sich das Insekt? Ist es im Publikum? Erneut neckt die Fliege die Darstellerin und läßt sich nicht fangen. Wieder Stille. Ist jetzt endlich Ruhe eingekehrt? Jeder erwartet den nächsten Angriff ...

Mit der Reihe JungerTanzHamburg will das choreographische Zentrum K3 Künstlern die Möglichkeit geben, Tanzstücke für Kinder und Jugendliche zu entwickeln und aufzuführen. [1] In diesem Rahmen wurde am 19. September "Was uns bewegt, was wir bewegen" für Kinder ab fünf Jahren uraufgeführt. Das Stück entstand in der Zusammenarbeit zwischen der Hamburger Choreographin Lucia Glass und der in Berlin lebenden Textildesignerin Nadine Goepfert, die das Bühnenbild entwarf. Eine Dreiviertelstunde lang führt die schwedische Tänzerin Eva Svaneblom das Publikum in eine Welt voller Phantasie.


Die Tänzerin steht aufrecht und streckt eine Hand in die Höhe, ihr Gesicht ist bedeckt von einem Tuch in gleichem Ton wie ihre nackten Arme und Beine - Foto: © 2015 by Maximilian Bartsch

Eva Svaneblom - nur vier Finger an jeder Hand
Foto: © 2015 by Maximilian Bartsch

Eva Svaneblom ist die einzige Person auf der Bühne. Durch ihr mal tänzerisches, mal pantomimisches Bewegungsspiel und ihr erstaunlich mimisches Können wird die Umgebung in eine phantastische Landschaft verwandelt. Geräusche wie Klopfen oder Vogelgezwitscher und dezent eingesetzte Musik unterstützen ihre Aktionen.

Die Tänzerin führt die Kinder und Erwachsenen in ein fremdes Universum aus Farben und Strukturen. Hier herrschen andere Bedingungen und Perspektiven. Die Landschaft besteht aus bunten Farben, die vom Boden aus an der Hinterwand nach oben kriechen - oder umgekehrt? Dem tanzenden Wesen fehlt ein Finger - der Daumen ist zur Handmitte eingeklappt. Wer ist sie jetzt? Was stellt sie dar?


Die Tänzerin versteckt sich hinter ihren Armen, lugt aber neugierig zwischen ihnen hindurch - Foto: © 2015 by Maximilian Bartsch

Der Körper ist Versteck und Versteckter zugleich
Foto: © 2015 by Maximilian Bartsch

Klopfgeräusche ertönen. Eva Svaneblom kommentiert sie mit Bewegungen ihrer Finger im Gesicht und am Körper. Es ist, als benutze sie eine besondere Art von Zeichensprache. Der Betrachter versucht, ein Muster zu erkennen.

Es gibt keine Worte in diesem Universum. Selbst der sparsam eingesetzte Gesang einer Frauenstimme beschränkt sich auf die Silben "Dudabdedida ...". Töne wie O und A stehen hier stellvertretend für Worte und Sätze. Eva formt mit ihrem Mund ein riesiges O und läßt es erklingen. Dabei führt sie Bewegungen aus, steht auf einem Bein oder rutscht über den Boden. Die ganze Zeit wendet sie sich nicht vom Publikum ab, fixiert es. Ihr Mund bleibt o-förmig offen. Dieses O drückt Erstaunen aus, verwandelt sich in Entzücken und wird zum Ausdruck von Ekel, bis es am Ende Erschöpfung zeigt. Ein einziges O kann mimisch so unterschiedlich viel ausdrücken, wie es klanglich ebenso vielschichtig anzuhören ist.

Auch das A ist wandelbar. Eva formt diesen Buchstaben ebenfalls mit den Lippen. Ihr Mund bleibt wieder die ganze Zeit über weit aufgerissen. Sie entlockt ihm die verschiedensten Formen und Empfindungen, zu denen ein A imstande ist. Es wird deutlich, daß Sprache nicht nur aus Worten besteht, sondern den Körper ganz und gar mit einbezieht. Auch Hände sprechen.

Die Bewegungen der Tänzerin sind mal geschmeidig, mal wirken sie eher technisch, fast roboterhaft, dann wieder weich und verspielt. Wie vielfältig unsere Bewegungsmöglichkeiten sind - nicht nur hier im phantastischen Raum! Bewegungsszenen wiederholen sich, bieten dem Zuschauer eine Art Wiedererkennen und damit etwas Beruhigendes in dieser Welt der unterschiedlichen Perspektiven.

Lucia Glass zeigt mit "Was uns bewegt, was wir bewegen", wie sich Körper und Objekte verändern, indem sie miteinander in Interaktion treten, wie sich ihre Eigenschaften wandeln oder sie ihre Funktionen tauschen. Was uns bewegt, sind Geräusche und Dinge, die uns in Aufruhr versetzen und zum Handeln treiben. Unsererseits beeinflussen wir die Dinge ebenfalls, plazieren sie an anderen Orten und entlocken ihnen ihre leisen oder vollen Klänge bis hin zu schrillen Tönen.

Die Choreographin, die sonst vorwiegend für Erwachsene gestaltet, nahm das Angebot von K3, ein Stück für Kinder zu entwickeln, gern als spannende Herausforderung an. Seit 2009 leitet sie bereits neben ihren Projekten Workshops für Kinder und Jugendliche und arbeitet mit ihnen in Schulen und Theatern. An den Vorbereitungen zum Stück waren seit Mai auch Kinder beteiligt. Sie konnten Fragen stellen und dazu beitragen, Ideen weiterzuentwickeln. Auf der Bühne selber wirken sie nicht mit. Die aufrechterhaltene Distanz soll helfen, das Geheimnis der Bühne zu bewahren, damit die eingefangene Magie des Augenblicks bestehen bleibt.

Nadine Goepfert, erfolgreiche Textildesignerin, hat es nicht bereut, sich in unbekanntes Gebiet hinein zu wagen. Für "Was uns bewegt, was wir bewegen" schuf sie ihr erstes Bühnenbild, bestehend aus zwei Stellwänden, bemalt mit Körperteilen wie Füßen und Händen in klaren Farben; verteilten bunten Stofflappen auf dem Boden; keine 'quadratisch, praktisch' geformten Kissen, in Gelb, Blau und Hautfarbe, getigert und gestreift.

Die Kissen sind in schwungvollen Formen genäht und lassen Freiraum für Assoziationen von Wolken oder Wellen bis hin zu Tieren. Alles ist möglich. Wie Puzzleteile lassen sich die Kissen aneinander fügen. Jedes weist ein Loch in der Mitte auf. Von Loch zu Loch springt die Tänzerin, als habe sie das Hüpfspiel "Himmel und Hölle" auf den Boden gemalt. Die Löcher benutzt sie außerdem, um sich die Kissen überzuhängen, als ob sie ein neues Gewand trüge. Die Materialien und die scheinbar von ihnen ausgehenden Töne überraschen die Betrachter, passen sie doch so gar nicht in ihre normale Erfahrungswelt.

Alle Objekte wurden eigens für das Stück gewirkt. Wichtig waren Glass und Goepfert, daß die Requisiten selbst gemacht sind. Ihr Appell an Kinder: Selbst tätig werden, selber etwas entwickeln und Eigenes verwirklichen.


Die stehende Tänzerin trägt alle Kissen über ihrem Kopf, der darunter völlig verschwindet - Foto: © 2015 by Maximilian Bartsch

Kissen statt Köpfchen
Foto: © 2015 by Maximilian Bartsch

Der Wechsel des Lichts verändert die Landschaft auf der Bühne. Der Saal erscheint düster, die Farben jedoch wirken paradoxerweise leuchtender. Die Kinder reagieren, werden still, dann unruhig und entspannen sich wieder. Am Ende der Vorstellung kehrt ein bekanntes Geräusch zurück, das die Zuschauer in ihre gewohnte Umgebung heimführt. Es ist die Fliege, die wieder Einzug hält.

Von den Kindern erfuhren Lucia Glass und Nadine Goepfert im Laufe der Probenzeit viel Zuspruch. Während der Premiere schienen sie eher zurückhaltend. Bei den Eltern und Begleitern waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Von "mal was ganz anderes", über "bunt und ausdrucksstark" bis hin zu "ich habe eine durchgehende Geschichte mit Anfang und Ende vermißt, das hätte ich mir für meine Kinder gewünscht."

Der zurückhaltende Applaus am Schluß war vielleicht auch Ausdruck für ein noch nicht Bereitsein für die Realität, in die alle zurückkehren mußten - aufmerksam gemacht und geworden auf etwas, was unseren Alltag bestimmt, ohne daß wir uns dessen bewußt werden, wie wir die Welt und die Dinge um uns bewegen und von ihnen bewegt und beeinflußt werden.



Anmerkung:

[1] K3 - Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg auf Kampnagel ist Ansprechpartner für zeitgenössischen Tanz und Choreographie:
http://www.k3-hamburg.de/de/ueber_k3/residenz/
http://www.hamburg.de/tanz-ballett/4306944/k3-zentrum-fuer-choreographie-tanzplan-hamburg/

5. Oktober 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang