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BERICHT/077: Die Fragen der P. Bausch ... (SB)


Nicht Mehr und nicht Weniger

Das Tanztheater Wuppertal mit 'Viktor' am 29.01.2017 auf Kampnagel


Ich habe eine Theaterkarte. Heute Abend werde ich das Tanztheater Wuppertal auf Kampnagel in Hamburg sehen. Der Haken: Ich habe eine Pressekarte. Hier gibt es einiges zu beachten, denn mit einer Pressekarte für einen Tanztheaterklassiker von Pina Bausch ist man sogleich angetreten, etwas Kritisches zu den Pressestimmen über eine der größten Ikonen nicht nur des Tanzes, sondern wahrscheinlich des ganzen Genres der Bühnenkunst beizutragen. Ein Schwergewicht, könnte man sagen, in ihrem Einfluß und ihrer Genialität nicht antastbar.
Und ganz plötzlich ist da nur noch ein Gedanke: Finde den Fehler. Im Bild. Im Ganzen. Im Publikum. Oder auch ganz einfach auf der Bühne. Welche ist die richtige Frage. Wie wird das alles dekonstruiert?
'Viktor' ist nicht nur ein Klassiker, weil er in der Blüte des Schaffens der in 2009 verstorbenen Choreografin lag. Vielmehr macht diese Arbeit gebündelt das aus, was auch die Choreografin verkörperte. Die Frage nach dem Menschen. Seinem Inneren und seinem Gegenüber. Bunt in scheinbar zusammenhanglosen Fragmenten fegt dieses Werk mit seinen DarstellerInnen über die Bühne. Meine Augen fegen mit, mein Geist sucht die Frage. Auf der rechten Seite der Totengräber, verstrickt in dem Versuch, eine durchaus hübsche, jedoch wahnsinnig brabbelnde, junge Frau in einem Blumenkleid zum Schweigen zu bringen. Kurz zuvor, sowie zeitgleich, die Frau in Rot ohne Arme, aber mit einem freundlichen Herren an ihrer Seite, der ihr fürsorglich den Pelzmantel um die Schultern legt. Nicht zu vergessen die dritte Frau, welche eingewickelt in einem Teppich im hinteren rechten Eck der Bühne liegt. Die Begegnungen sind schnell und sie wechseln, genau wie ihr Zusammenspiel im Gesamtbild der Bühne.


Tänzerin mit Requisiten - Foto: © 2016 by Laszlo Szito

Julie Shanahan
Foto: © 2016 by Laszlo Szito

Da, auf einmal in Minute X, halte ich inne. Ich halte inne in meiner Suche und für einen kurzen Moment sehe ich einen Marktplatz vor mir. Einen ganz gewöhnlichen Marktplatz in einer ganz gewöhnlichen Stadt. Über ihm liegt nicht etwa ein Schleier. Dort liegt eine große schwarze Decke. Diese Decke heißt Anstand und Benimm. Sie heißt Schein und Kampf und sie heißt Versteck. Diese Decke wird entrissen und da haben wir es: Pina Bauschs Werk auf einem ganz gewöhnlichen Marktplatz in einer ganz gewöhnlichen Stadt.
Das ist alles. Denn das war sie.
Und so schnell der Wunsch nach Dekonstruktion und Kritik kam, so schnell war er auch wieder verschwunden.
Denn während man durchaus zu Recht skeptisch ist, wenn die große Masse scheinbar kritiklos in einer Einigkeit der Bewunderung schwelgt, gibt es auch die kleine Chance, dass dahinter ein wahrer Zauber steckt, der scheinbar einfacher nicht sein könnte, mir jedoch allerhöchste Bewunderung entlockt.
Pina Bausch war keine 'Instagram-Künstlerin'. Auch nicht eine der 70er, 80er oder 90er Jahre. Sie war einfach da. An einem Ort. Mit sich und ihren Fragen. Und die hat sie gestellt. Nicht mehr und nicht weniger. Die Bühne war ihr Forschungsfeld, ihre Tänzer ihr Material. In dieser Einfachheit liegt er, der Zauber, welcher genau so Raum fand und folglich Platz schuf, den größten Ängsten, aber vor allem den größten Fragen des menschlichen Daseins zu begegnen. 'Viktor' ist eine Momentaufnahme auf diesem Weg.

30. Januar 2017


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