"To a simple rock 'n' roll ... song", so lautet das Stück des einstigen Tanzrebells Michael Clark, das am 10. August zur Eröffnung des diesjährigen Kampnagel Sommerfestivals Deutschlandpremiere feierte. Ob beim gemeinsamen BBC-Auftritt 1984 mit Mark E. Smiths Post-Punk-Truppe The Fall oder 1991 als Caliban in "Prospero's Books", Peter Greenaways avantgardistischer Kinoversion von Shakespeares "Sturm", an der Seite von Schauspiellegende John Gielgud, stets war Clarks Arbeit zukunftsweisend im Sinne des Niederreißens von Barrieren und der Verschmelzung von E- und U-Kultur. In seinem jüngsten Werk wagt der 1962 in Schottland geborene Choreograph jedoch den Blick zurück und läßt sozusagen das eigene Leben Revue passieren. Den Anlaß, über die Vergänglichkeit zu sinnieren, gab der letztjährige Tod des von Clark und der gesamten Kunstgemeinde Großbritanniens bewunderten David Bowie.
Die Produktion besteht aus drei Teilen. Im ersten bewegen sich die acht Tänzer - vier Frauen und vier Männer - zu Klavierstücken des französischen Komponisten Erik Satie aus dem Jahr 1889. Satie ist deshalb ein Bezugspunkt, weil sein musikalisches Schaffen großen Einfluß auf Clarks wichtigste Mentoren, die beiden Choreographen Merce Cunningham und Karole Armitage sowie den Komponisten John Cage, hatte. Die Satie-Kompositionen sind streng bis minimalistisch. Entsprechend sind die Tanz-Arrangements gehalten.
Der ausgerichtete Mensch
Foto: © 2017 by Schattenblick
Die Tänzer in ihren hautengen schwarz-weißen Körperanzügen strecken sich in alle Himmelsrichtungen, bilden die extremsten Winkel, drehen sich, während sie auf einem Fuß stehen, und blicken geistesabwesend in die Ferne.
Bruce Lee läßt grüßen
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Die übersteigerten Leistungsanforderungen und die symmetrischen, trigonalen Formationen erinnern an den Exerzierplatz, Turnvater Jahn und den mit einem Oscar ausgezeichneten Kinostreifen "Chariots of Fire" ("Die Stunde des Siegers").
Der Körper als Winkelinstrument
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Im zweiten Teil liefert das neuneinhalbminütige Epos "Land" der Punkdichterin Patti Smith von ihrem 1975 erschienenen Erstlingsalbum "Horses" den musikalischen Hintergrund. Hier sind Atmosphäre und Rhythmus völlig anders.
Let's Groove Tonight
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Es herrscht die dionysische Zügellosigkeit der New Yorker Lower East Side der siebziger Jahre. Vor einer Breitwand-Videoinstallation von Clarks langjährigem künstlerischen Wegbegleiter Charles Atlas mit Namen "Painting by Numbers", in der angelehnt an Vor- und Nachspann der "Matrix"-Filme ganze Zahlenuniversen entstehen, miteinander kollidieren, um zu kollabieren und sich aufs Neue Bahn zu brechen, bewegen sich die Tänzer freier, geschmeidiger und ungehemmter.
Vorsichtige Annäherung
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Die sexuelle Anziehungskraft ist allgegenwärtig und wird durch die Kostümierung - weiße, ärmellose T-Shirts und schwarze Lederhosen mit Schlag à la Robert Mapplethorpe - unterstrichen.
Männliches Aufrichten
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Der dritte und letzte Abschnitt ist Bowie, und zwar weniger dem Glamrock-Charttopper als vielmehr dem genialen Verwandlungskünstler, der sich stilistisch immer wieder neu zu erfinden wußte, gewidmet. Zu den Klängen des erschütternden Abschiedslieds Blackstar von 2016 sowie experimentierfreudiger Ausschnitte der Alben Aladdin Sane von 1973 und Diamond Dogs von 1974 wird das klassische Bowie-Thema des Raum- und Zeitfahrers Mensch bemüht.
In den Fängen der Schwerkraft
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Clarks Tänzer tragen Ganzkörperanzüge aus silbernem Latex, auf denen Licht, Schatten und Farben intensiv reflektieren. Gegen die Schwerkraft bäumt sich die Truppe mal gemeinsam, mal in Einzelaktionen auf. Zwischen ihren Reihen geistert eine schwarzgehüllte Todesfigur - stellvertretend für den Sensenmann, der jeden von uns irgendwann vom irdischen Dasein abnabeln wird.
Strike A Pose
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"To a simple rock 'n' roll ... song" markiert der Eintritt Clarks in einen ruhigeren, nachdenklicheren Lebensabschnitt. Die wilden Jahre der Drogenexzesse, des Aufbegehrens gegen alle Einschränkungen sind schon länger vorbei. Geliebte Vorbilder von einst wie Bowie haben die Bühne bereits verlassen. Mit der Ernennung zum Commander of the Order of the British Empire (CBE) durch Ihre Majestät Elizabeth II. vor drei Jahren ist Clark im Establishment gelandet.
Das Leben pulsiert
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Es gilt dennoch aus dem bisher Erfahrenen neue Zeichen zu setzen. Auch wenn die Vermählung klassischer Ballett-Formen mit der Pop-Musik inzwischen zum Standardrepertoire der Unterhaltungsproduktion gehört, tritt Clark mit seinem neuesten Stück weniger auf der Stelle, als daß er innehält und zum Nachdenken anregt, um wohl demnächst wieder zu neuen Ufern aufzubrechen.
Applaus dankend angenommen
Foto: © 2017 by Schattenblick
17. August 2017
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