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BERICHT/095: Das befreite Puzzle ... (SB)


Fractus V - Eine Symphonie von Ahnung und Gewissheit der Gewalt


Sidi Larbi Cherkaoui gehört zu den Großen. In einer Riege mit Choreograph/innen wie Anne Theresa de Keersmaker oder Akhram Khan, ist er einer von den Künstlern der Tanzwelt, der über ihre Grenzen hinweg bekannt ist. So ist es auch immer ein großer Moment, wenn man Karten für eines seiner Stücke in den Händen hält. Denn genau so viel Ruhm wie er genießt, besitzt er auch an Demut der Welt, dem Tanz und dem großen Ganzen gegenüber, das spürt man in dem, wie er spricht, was er entwickelt und wie er tanzt.

Alles in allem weiß man, ein Abend mit Sidi Larbi ist ein magischer. Und so kam es dann auch, als das Licht ausging und die Bühne zu leben begann. Die Tänzer stehen auf selbiger, einer von ihnen vor einem Mikrophon. Man sieht ihn an, wartet auf das Wort, den Ton. Und sie kommen, von allen außer ihm. Er wirft das Mikro um, beginnt den Fluss der Bewegung, während die anderen, welche man in seiner Erwartung übersah, das Wort übernehmen; und den Ton.


Foto: © Filip van Roe

Foto: © Filip van Roe

Am hinteren Bühnenende stehen weiße Stühle gerade in einer Reihe. Links und rechts in dunklerem Licht ist die Musik, in Form von Instrumenten, neu wie alt. Das ist der zweite Punkt, der Cherkaoui ausmacht. Er geht über Grenzen. Musikalisch wie physisch und auch intellektuell. Der Akademiker säße möglicherweise mit der Frage im Publikum, wie der Künstler nun die Fusion japanischer sowie arabischer als auch westlicher Musikkultur inhaltlich vertrete und in ein relevantes Verhältnis zum Thema positioniert. Als Betrachter an dieser Stelle wäre meine Antwort, daß in der Welt, die in Tradition und Kultur aus allen Ecken liebt und hasst, kämpft und kommuniziert oder auch ignoriert, die Frage nach einer Erklärung keinerlei Berechtigung hat und eher die Einspurigkeit einer einzelnen Kultur einer Erklärung bedarf.

Sidi Larbi ist ein Choreograph der Fusion. Er schafft es, Ausnahmekünstler miteinander zu vereinen und auf der Bühne in einer Symphonie zu verbinden.

Mit 'Fractus V' wird ein weiteres Mal klar, daß diese geschaffenen Symphonien nicht nur schön, sondern auch mit Substanz gefüllt sind. 'Fractus V', sowie das vorangegangene Trio 'Fractus', welches 2014 zum 40. Jubiläum des 'Tanztheater Wuppertal Pina Bausch' uraufgeführt wurde, behandeln das Thema der Manipulation. Es geht um die bewusste Manipulation von Bevölkerung und Bürgern durch Regierungen mit den Mitteln der Presse und Indoktrination. Diese seit 'Trump' und 'Fake News' inzwischen alltäglich diskutierten Praktiken, reichen in ihrer erforschten und bewusst eingesetzten Form der heutigen westlichen Kultur zurück bis zum ersten Weltkrieg. "Das Konzept der Fake News ist keine neue Erfindung. Es handelt sich dabei keinesfalls um ein neues Problem,...", so Cherkaoui im Interview mit Melanie Zimmermann. Als kritischer und sensibler Geist ist der Blick hinter diese Kulissen für jemanden wie ihn, der zwischen mehreren Kulturen sowie im kritischen Raum vom männlichen, schwulen Tänzer mit weißer Hautfarbe und arabischen Wurzeln lebt und aufgewachsen ist, das Bewusstsein für diese Themen wohl implizit.


Foto: © Filip van Roe

Foto: © Filip van Roe

Zum Schluss einer Lobhymne auf 'Fractus V' und dessen Schöpfer soll hier doch noch eine Frage in den Raum gestellt werden, welche augenscheinlich den Akademikern vorbehalten ist, allerdings jedem, der mit der Kunst der Bewegung vertraut ist, doch wichtig erscheinen muss: Wie steht es mit der Relevanz der Bewegung im Verhältnis zu Wort, Bühne und Musik?

Ohne Frage ist Sidi Larbi einer der größten Künstler der Bewegungssprache und ein maßgeblicher Vorreiter vieler Strömungen und Ideen des heutigen Tanzes.

Aber - und diese Frage steht einzig und ohne Antwort im Raum - war der Tanz dem Wort und der Musik ebenbürtig? Wer hat in dieser Arbeit den Zuschauer im Herzen und auf den Schwingen der Kunst erreicht?


Fractus V
Premiere 11.10.2017 auf Kampnagel, Hamburg
Choreografie: Sidi Larbi Cherkaoui
Musikkomposition: Shogo Yoshii, Woojae Park,
Sidi Larbi Cherkaoui, Johnny Lloyd, Soumik Datta
Dramaturgie: Antonio Cuenca Ruiz
Text: Noam Chomsky, Alan Watts


13. Oktober 2017


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