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BERICHT/106: Heilig Abend - Fronten ... (SB)


Heilig Abend
Ein Kammerspiel von Daniel Kehlmann, aufgeführt am Theater Magdeburg

von Christiane Baumann, Dezember 2019



Ein großer, rechteckiger Tisch steht in der Mitte der Bühne. Einige Akten sind auf der einen Seite zu erkennen. Eine Frau und ein Mann sitzen sich an den Stirnseiten gegenüber. Über ihnen tickt eine überdimensionale Uhr. Es ist 22.30 Uhr. So beginnt Daniel Kehlmanns Stück Heilig Abend, das im Magdeburger Schauspielhaus als Übernahme vom TAK Theater Liechtenstein zu sehen ist. Sukzessive erschließt sich dem Zuschauer, dass es sich um ein Verhör am Heiligabend handelt. Die sich gegenübersitzen, sind Judith, eine Philosophieprofessorin mit einem Lehrstuhl zur Erforschung struktureller Gewalt, und der Ermittler Thomas, der die Staatsgewalt repräsentiert.


Bühnenbild: Die Protagonisten sitzten sich am Verhörtisch gegenüber - Foto: © by Julian Konrad

Gegenüber: Boglárka Horvàth als Judith und Thomas Beck als Ermittler Thomas
Foto: © by Julian Konrad

Dieser Heilig Abend, das wird schnell deutlich, ist ein Gegenentwurf zum in der christlichen Tradition höchsten Fest der Familie, dem bereits in Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks Zeichen des Verfalls eingeschrieben sind. In Henrik Ibsens Schauspiel Nora. Ein Puppenheim bricht am Heiligabend der Konflikt auf, der das Lügengebäude der bürgerlichen Familie zum Einsturz bringt. Gerhart Hauptmanns Stück Das Friedensfest führt am Heiligabend direkt in die Familienkatastrophe. Auch andere naturalistische Dramen spielen am Heiligabend, so Arno Holz' und Johannes Schlafs Familie Selicke. In diesen Stücken offenbart die Dekonstruktion des Weihnachtsfestes als Heiligtum der bürgerlichen Familie deren Verfall, der zugleich den desolaten Zustand der Gesellschaft symbolisiert. Der Titel Heilig Abend ist insofern symbolträchtig und weckt in der Schreibweise eher unheilige Erwartungen.

Dass der inhaltliche Bezug zu naturalistischer Dramatik kein Zufall ist, zeigt die formale Anlage des Zwei-Personen-Stückes. Die Geschichte wird von hinten aufgerollt. Die analytische Methode findet sich beispielhaft in Ibsens Dramen, auch in Nora, und wurde von naturalistischen Dramatikern übernommen. Der Zuschauer wird unmittelbar in eine Szene versetzt. Das Bühnengeschehen enthüllt nach und nach die Vorgeschichte, die zur gegenwärtigen Situation geführt hat. Judith wird am Heiligabend, den sie mit ihren Eltern verbringen wollte, von verdeckten Ermittlern aus einem Taxi gezerrt und zum Verhör geschleppt. Sie weiß nicht, was man ihr vorwirft. Während des Verhörs tritt zutage, dass die Ermittlungsbehörden sie beschuldigen, zusammen mit ihrem Ex-Mann an diesem Heiligabend um Mitternacht einen Terroranschlag zu planen. Dem Ermittler bleiben neunzig Minuten Zeit, um sie zum Geständnis zu bringen und das Attentat, wenn es ein solches denn tatsächlich gibt, zu verhindern.

Für Thomas ist Judith eine "tickende Zeitbombe". Das Ticken der Uhr symbolisiert den Wettlauf mit der Zeit. Erzählte Zeit und Erzählzeit sind deckungsgleich in diesem dichten, neunzigminütigen Dialog, den das Publikum Sekunde für Sekunde miterlebt, sozusagen im Echtzeitmodus. Die Technik des "Sekundenstils" stammt aus dem Naturalismus, der eine naturgetreue Wiedergabe der Vorgänge anstrebte. In der Magdeburger Aufführung wird das Ticken der Uhr sowohl visuell erlebbar, als auch akustisch zum Rhythmus, der die Inszenierung bestimmt. Das Ticken ruft die Bedrohung permanent ins Bewusstsein. Läuft dem Ermittler buchstäblich die Zeit davon, um den Anschlag zu verhindern, sieht sich Judith zunehmend als Opfer von staatlicher Willkür und Gewalt. Sie betrachtet das Vorgehen der Behörden als Freiheitsberaubung, als rechtswidrig und fordert: "Verhaften Sie mich, oder lassen Sie mich gehen! Wir leben in einem Rechtsstaat. Noch sind nicht alle Regeln aufgehoben", worauf der Ermittler entgegnet: "Bei konkreter Gefahr dürfen wir jetzt sehr viel."


Die Dominanz des Ermittlers wird an seiner Geste deutlich - Foto: © by Julian Konrad

Das Ausmaß staatlicher Überwachung
Foto: © by Julian Konrad

Das Verhör macht das ganze Ausmaß staatlicher Überwachung sichtbar, dem Judith seit Jahrzehnten ausgesetzt ist. Sie, die historische Strategien struktureller Gewalt erforscht und in Seminaren diskutiert, sieht sich plötzlich in einem unvorstellbaren Maße mit staatlicher Gewalt konfrontiert. Ihre Kindheit und Jugend in gutbürgerlichen Verhältnissen, der Bruch mit dem Elternhaus und das Sympathisieren mit kommunistischen Freiheitsbestrebungen in Südamerika, die Beziehung zu ihrem Ehemann, aus der sie sich trotz Scheidung nicht lösen kann - nichts blieb den Sicherheitsbehörden verborgen. Für Judith liefert diese Bespitzelung im Namen der Sicherheit bis hin zum Kidnapping am Heiligabend einmal mehr den Beweis für den Missbrauch des Gewaltmonopols durch den Staat, wobei sie das kapitalistische System mit seiner Verteilungsungerechtigkeit als ursächlich betrachtet und für die Schere zwischen Arm und Reich in den westlichen Ländern und für die Armut in der dritten Welt verantwortlich macht. Sie beruft sich als Kronzeugen auf den französischen Schriftsteller und Politiker Frantz Fanon (1925-1961) und seine bedeutendste antikolonialistische Schrift Die Verdammten dieser Erde, in der er die Gegengewalt der Unterdrückten als legitimes Mittel gegen koloniale und strukturelle Gewalt verteidigte. Fanon schrieb: "Die nackte Dekolonisation läßt durch alle Poren glühende Kugeln und blutige Messer ahnen. Denn wenn die letzten die ersten sein sollen, so kann das nur als Folge eines entscheidenden und tödlichen Zusammenstoßes der beiden Protagonisten geschehen."

Die Protagonisten in Kehlmanns Stück, in dem die "Stütze(n) der Gesellschaft" (Ibsen) und die Systemkritikerin aufeinandertreffen, überleben die Konfrontation. Anders als bei der alttestamentarischen Judith, die Holofernes enthauptet, ist der Kampf noch nicht entschieden. Vermutlich wird der Ermittler, ungläubig wie der Apostel Thomas, weiter nach Beweisen suchen, die die staatliche Überwachung rechtfertigen. Das Thema des Stückes ist aktueller denn je. Die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff veröffentlichte jüngst ihr Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, in dem sie eine wehrhafte Zivilgesellschaft fordert, um der zunehmenden Bespitzelung durch die Wirtschaftsgiganten Einhalt zu gebieten. Zugleich sieht sie den Staat in der Pflicht, über gesetzliche Regelungen die Souveränität der Demokratie wiederherzustellen. Kehlmanns Stück stellt eine solche Position in Frage, bleibt aber Antworten schuldig. Es ist schlüssig, wenn der Autor die Verhörszene am Schluss einfach ausblendet. Er macht, wie naturalistische Dramatik, auf soziale Missstände aufmerksam, klagt an. Lösungen gibt es nicht.

Die Aufführung des TAK Liechtenstein mit Boglárka Horvàth als Judith und Thomas Beck in der Rolle des Ermittlers Thomas, für die der Magdeburger Schauspieldirektor Tim Kramer Regie führte, lässt den Zuschauer neunzig Minuten Judiths Alptraum miterleben. Beide Protagonisten glänzen in ihren Rollen und lassen in ihrem Dialog nicht nur die Spannung zwischen politischer Macht und Opposition, sondern auch zwischen der intellektuellen, selbstbewussten Frau und dem dienstbeflissenen Beamten spürbar werden, der sich mittels Akten in Judiths Leben eingerichtet hat und zugleich um Distanz zu seinem Überwachungsobjekt ringt.


Foto: © by Julian Konrad

Die Spannung zwischen der intellektuellen, selbstbewussten Frau und dem dienstbeflissenen Beamten
Foto: © by Julian Konrad

Daniel Kehlmann (*1975), bekannt geworden mit seinem Bestseller Die Vermessung der Welt (2005), landete jüngst mit seinem Roman Tyll (2018) einen großen Erfolg. Heilig Abend ist sein vierter dramatischer Text, der 2017 in Wien uraufgeführt wurde. In diesem Jahr erschien eine Buchausgabe seiner Stücke. 2020 soll Heilig Abend als Verfilmung in der Regie von Matti Geschonneck ins deutsche Fernsehen kommen. Das Drehbuch schreibt Kehlmann selbst. Man darf gespannt sein.


Zitate:
Programmheft Heilig Abend von Daniel Kehlmann. Premiere Theater Magdeburg.


23. Dezember 2019


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