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INTERVIEW/002: Choreograph Royston Maldoom - Tanzen kann dein Leben verändern (SB)


"Man muß Integration nicht machen, damit sie geschieht."


Am Rande einer Lesung aus seiner soeben erschienenen Autobiografie "Tanz um dein Leben - meine Arbeit, meine Geschichte" am 20. März im Hamburger Monsun-Theater im Rahmen des diesjährigen Festivals "100 Prozent made in Hamburg" hatte der Schattenblick Gelegenheit zu einem kurzen Interview mit Royston Maldoom. Der Tanzpädagoge und Choreograph, der mit seinen Projekten von und für Menschen am Rande der Gesellschaft weltweit Anerkennung erlangt hat, sprach über seine Arbeit mit Laientänzern, das Geschenk des Versagens, den Zusammenhang zwischen Tanz und Politik, eigene Vorbilder und die Kunst zu faulenzen.

SB-Redakteurin im Gespräch mit Royston Maldoom

SB-Redakteurin im Gespräch mit Royston Maldoom

Schattenblick: Sie haben über Jahre ausschließlich mit Profis zu tun gehabt, bevor Sie anfingen, vorwiegend mit Laientänzern zu arbeiten. Gab es dafür eine Initialzündung, irgendein Erlebnis oder eine besondere Erfahrung, die Sie zu dieser Umorientierung veranlaßt hat oder waren Sie schon immer der Meinung, daß Tanzen mit dem wirklichen Leben mehr zu tun hat oder haben sollte als mit der Bühne?

Royston Maldoom: Ich bin durch reinen Zufall zur Arbeit mit dem Community Dance gekommen. Ich lebte damals in Schottland und ein örtliches Gemeindezentrum bat mich, für vier Wochen eine Gruppe zu übernehmen. Eigentlich hatte ich kein Interesse daran; ich sah zu der Zeit den Sinn darin nicht. Ich hatte die typisch professionelle Einstellung von: Warum sollten Laien tanzen? Und nur, weil ich es übernommen hatte und immer mehr Leute kamen und es mir Spaß machte, fing ich damit an. Zuerst war es nur ein kleiner Job in der Nähe, ich mußte nicht reisen, aber dann stellte ich fest, daß mehr an der Sache dran war, als ich anfangs begriffen hatte. Und es war wirklich faszinierend zu sehen, welche Auswirkungen es auf die Gemeinschaft hatte, auf die Leute, mit denen ich arbeitete, und auf mich selbst. Also, ich hatte keine Philosophie in dieser Richtung, es war wie bei so vielen Dingen in meinem Leben, ich habe es einfach gemacht. Und ich lernte auf dem Weg und in der Praxis, als immer mehr Leute zu den Kursen kamen. Angefangen habe ich mit einem Teilnehmer, dann waren es vier, dann wollte man eine Auftrittsgruppe gründen, dann eine Jugendgruppe, und so hat es sich dann entwickelt.

SB: Mehr oder weniger aus Zufall also.

RM: Absolut.

SB: Sie haben bei Ihrem Vortrag auf die Wichtigkeit des Scheiterns hingewiesen. Das ist eine ganz andere Sichtweise als die, die sonst üblich ist, nicht nur im Tanz ...

RM: Ganz genau. Wir haben große Angst vor dem Gedanken an ein Scheitern und ich verstehe, warum. Wir sind ganz schlecht darin, jungen Leuten dabei zu helfen, mit dem Scheitern umzugehen. Ihr Problem ist das Gefühl, daß ein Scheitern ein so schlechtes Licht auf sie wirft, daß sie nicht weitermachen können. Deshalb besteht ein Teil dessen, was ich tue, darin, ihnen zu vermitteln: Habt keine Angst vor dem Scheitern, nehmt es an. Durch Scheitern lernt ihr, daß es normal ist zu scheitern. Ich werde euch niemals kritisieren, weil ihr scheitert. Und wenn ihr scheitert, ist es das Wichtigste zu wissen, daß ihr scheitert, weil ihr erst dann wißt, was ihr ändern könnt.

SB: Das führt zu meiner nächsten Frage: Gestern abend haben Sie in der "3 nach 9"-Talkshow davon gesprochen, daß Kultur sich in die Politik einmischen sollte. Können Sie das ein bißchen näher erklären?

RM: Was ich versucht habe zu sagen ist, daß es, jedenfalls soweit es mich betrifft, unmöglich ist, ein Künstler zu sein oder in der Weise zu arbeiten, wie ich es tue, ohne daß es politisch ist, auch deshalb, weil es eine Herausforderung an die moderne Gesellschaft bedeutet. Erstens in Bezug auf diese Wichtigkeit von Wettbewerb und zweitens wegen des dauernden Strebens danach, den Leuten zu verkaufen, daß es nicht darauf ankommt, wer man ist, sondern darauf, was man hat und darauf, einen falschen Eindruck davon zu vermitteln, wer und was man ist. Es geht auch darum, Leuten zu helfen, jemand zu werden, der eine Wahl treffen kann und über Selbstvertrauen verfügt. Und eine Bevölkerung mit Selbstvertrauen - das ist ganz sicher ein Politikum.

SB: Sie haben gesagt: "Tanzen kann dein Leben verändern".

RM: Ja.

SB: Was passiert da genau?

RM: Nun, ich habe diesen Satz in "Rhythm is it!" gesagt: "Du kannst in einem Tanzkurs dein Leben verändern." Das ist insofern ein wenig mißverstanden, als ich zu den Jugendlichen im Kurs immer sage: "Du kannst dein Leben verändern, egal, was du machst, zu jedem Zeitpunkt. Achte auf das, was du tust, dies könnte der Moment sein, in dem sich dein Leben verändert - und du könntest ihn verpassen. Zufällig sind wir in einem Tanzkurs, du kannst also auch hier dein Leben ändern." Ich habe also nicht gesagt: speziell in einem Tanzkurs, das gilt ganz allgemein, aber eben auch für den Tanz, jedenfalls was meine Erfahrungen angeht. Vielleicht nicht immer, vielleicht hängt es vom Lehrer ab, von den Umständen, von einem selbst, von der eigenen Wertschätzung, ob es gelingt, ein Gefühl für den eigenen Körper zu entwickeln, mit anderen zusammenzuarbeiten, was das Wichtigste für das Erlernen sozialer Fähigkeiten ist: sich zu sozialisieren, sich mit dem Unbekannten vertraut zu machen, in der Lage zu sein, Risiken einzugehen und, natürlich, sich mit dem Körper aus der Kuschelecke der Gewohnheit zu begeben, was eins der größten Risiken bedeutet. Es gibt so viele Möglichkeiten im Tanz, auch die unvermeidliche Berührung mit ganz tiefen Gefühlen, die man mit der Stimme oft verbergen kann. Man kann reden und muß nichts preisgeben - wenn man tanzt, offenbart man sich augenblicklich auf eine oftmals fundamentale Weise. Und auch das bedeutet für viele Menschen, ihr Leben zu verändern.

SB: In "Rhythm is it!" geben Sie den Teilnehmern mit auf den Weg: Steht nicht still, nehmt nichts hin...

RM: Das ist richtig, ja.

SB: Gibt es eine Beziehung oder Entsprechung zwischen Bewegung und Denken und welche Art von Bewegung ist das?

RM: Bewußte Bewegung, ja. Wir entdecken durch die Forschung ja immer mehr, daß man besser lernt durch Tun, das ist das eine, und daß Bewegung der beste Weg ist, um Informationen aufzunehmen oder zu behalten. Das ist etwas, das wir oft bei Kindern oder auch Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten feststellen, die nicht in der Lage sind, sich etwas von einer Minute auf die andere zu merken, und die trotzdem eine 20-minütige Tanzsequenz behalten können. Wenn also Erfahrung und Bewegung verknüpft werden, wird die Erfahrung doppelt lebendig und wir werden uns ihrer bewußter. In diesem Sinne würde ich sagen, ja.

SB: Ich dachte eher an eine Art widerständigen Denkens. Wenn du Erfahrungen mit deinem Körper machst und mit all dem, was du nicht kannst und das nicht akzeptierst in dem Sinne, wie Sie es einmal gesagt haben, daß es nicht von Interesse ist, was man kann, sondern herauszufinden, warum man etwas nicht kann...

RM: Ich verstehe, was Sie meinen. Ja, es geht darum, Widerstände zu überwinden, ganz sicher, sich aus der Art und Weise, wie wir über den Körper denken, besonders in Europa und in der nördlichen Hemisphäre, und aus seinen Bewegungsgewohnheiten herauszubegeben, die für die meisten von uns sehr eng zu sein scheinen und sehr funktional, die Ästhetik von Bewegung und die Freude an der Bewegung anzunehmen, und so ein Körperbewußtsein zu entwickeln - das verändert ganz sicher deine Sicht auf die Dinge. Und die körperliche Erfahrung, daß du deinen physischen Raum erweiterst, in dem du arbeitest, erweitert deinen gedanklichen Raum. Dein Verständnis von dir in der Welt wächst, dein Selbst-Bewußtsein, und, wenn es in der Gemeinschaft passiert, dein Bewußtsein von anderen. Du gewinnst Platz um dich herum und das, denke ich, ist eine Erweiterung des Bewußtseins.

SB: Könnten Sie uns eine kurze Definition von dem geben, was Community Dance bedeutet?

RM: Nun, Community Dance ist ein Begriff, der in den späten 70ern in Großbritannien aufkam. Die Leute haben zwar auch vorher in Gemeinschaften gearbeitet, aber ein Konzept gab es erst seitdem. Ich war einer der ersten Künstler im Freizeittanz. Dann waren wir zu dritt, dann wurden es immer mehr und heute sind es ganz viele. Jetzt, wo es sich entwickelt hat, scheint jeder seine eigene Vorstellung davon zu haben. Es ist traurig, aber viele Leute definieren Community Dance, indem sie sagen: Es ist das, was ich tue. Heute ist der Begriff so breit angelegt, daß ihn jeder versteht, und er hat seine Bedeutung in gewisser Weise nahezu verloren. In Großbritannien zum Beispiel arbeiten wir jetzt in den Bereichen häuslicher Dienste, in der Erziehung, im professionellen Bereich, im Royal Ballett, überall. Daher sage ich der Einfachheit halber: Community Dance heißt: zu jeder Zeit, überall und mit jedem zu arbeiten; das ist die einzige Möglichkeit, es heute auszudrücken, denn in dem Moment, wo man es genauer definiert, fängt man an, Leute auszuschließen, die auf andere Weise arbeiten. Unglücklicherweise sind wir immer noch sehr gespalten und es gibt noch immer Leute, die zu mir sagen: Oh, was du machst, ist aber kein Community Dance. So etwas würde ich nie sagen. Wenn man mit einer Gemeinschaft arbeitet, dann ist es das. Ich würde sagen, für mich ist es eine Kunstfähre mit einer starken sozialen Ausrichtung.

SB: Was war die beeindruckendste Erfahrung in Ihrer Arbeit mit Nicht-Tänzern, etwas, an das Sie sich auf besondere Weise erinnern?

RM: Da gibt es vieles. Ich glaube, als ich das erste Mal in ein Gefängnis ging, um mit jungen Frauen und Männern zu arbeiten und einmal mehr feststellte, wie außergewöhnlich die Leute waren, mit denen ich zu tun hatte und in was für einem lächerlichen System sie sich befanden. Das war wirklich eine erstaunliche Erfahrung, einfach zu sehen, wie unproduktiv und dumm und teuer dieses ganze System ist und wie schwierig die Arbeitsbedingungen dort sind. Aber gleichzeitig auch, wie wunderbar es war, mit Leuten zu arbeiten, die die Gesellschaft abgeschrieben hatte. Und festzustellen, wie viele dieser Leute entweder schwere seelische oder mentale Probleme haben und wie viele an einem gänzlich falschen Platz sind. Das waren sehr starke Eindrücke.

Und natürlich gehört dazu, als ich nach Südafrika ging, an dem Tag, als Mandela gewählt wurde. Ich hatte den Auftrag, ein Stück für 300 Jugendliche indischer, schwarzer und gemischter Abstammung zu machen; die Farbigen nannten sie "black and white". Es war sehr ungewöhnlich zu sehen, daß Integration eine ganz natürliche Sache ist. Vielleicht hätte ich das im Buch schreiben sollen. Wenn ich weiße Kinder mit schwarzen und indischen Kindern zusammenbrachte und wir Pause machten, rannten die Jungs, egal welcher Hautfarbe, raus und spielten Fußball, die Jungs im Teenageralter; die Mädchen im Teenager-Alter setzten sich alle auf den Boden und diskutierten über Popstars, und die kleinen Kinder rannten in die Waschräume und drehten alle Wasserhähne auf. Da habe ich festgestellt, daß man Integration nicht machen muß, damit sie geschieht. Man schafft einfach einen sicheren Platz für die Leute, an dem sie zusammenkommen können, und sie integrieren sich selbst. Das ist kein Problem. Wir schaffen das Problem aufgrund der Struktur unserer Gesellschaft.

SB: Sie haben sich einmal als "faulsten Menschen der Welt" bezeichnet...

RM: Ja, ja.

SB: Was ist Faulheit?

RM: Für mich beispielsweise, daß es so schwierig ist, mich dazu zu bringen, etwas zu tun, was ich nicht tun will - ich bin sehr stur. Und was ich am meisten liebe ist, herumzusitzen und nichts zu tun, das heißt, ich würde nicht sagen, daß ich es am liebsten mag, aber wenn ich nicht arbeite, ist es das, was ich tue. Die Leute stellen sich immer vor, daß ich ins Theater gehe oder ins Museum. All solche Sachen zu machen, sich mit der Kultur zu befassen - darin bin ich schrecklich. Ich liebe Kino, aber abgesehen davon sitze ich gern zu Hause, treibe meine Badezimmergeschäfte oder fahre mit dem Fahrrad herum und tue nichts. Ich bin ein natürlich fauler Mensch.

SB: Nichts zu tun heißt aber nicht nichts zu tun, oder?

RM: Nein, das heißt es nicht. Ich habe gerade kürzlich eine Dokumentation über Leonard Bernstein gesehen, wo er sagte: "Die am wenigsten einsamen Zeiten sind die, in denen man allein ist, weil man dann von hunderten von Gedanken umgeben ist." Und: " Die einsamste Zeit ist die, wenn man sich in einer Gruppe von Leuten befindet und mit den Gedanken nicht dabei ist." Wenn ich also sage, ich tue nichts, ist es natürlich in Wirklichkeit die Zeit, in der man wächst, sich stärkt, sich verjüngt und sich erholt.

SB: Sie haben erwähnt, daß es an der Middlesex University in London eine spezielle Ausbildung für Community Dance gibt?

RM: Ja, es gibt da eine Menge Ausbildungsangebote, auch Kurse für Community Dance.

SB: Gibt es Verbindungen zu Ihren Projekten?

RM: Nein, obwohl ich ein paar Mal dort unterrichtet habe. Aber natürlich bin ich bekannt in London, weil ich einer der ersten war - nicht der erste, der mit Nicht-Tänzern, mit Laien, gearbeitet hat - aber einer der ersten zu der Zeit, als das Konzept des Community Dance entstand. Dadurch bin ich sicher bekannt. Aber in London, ich war 14 Jahre dort, köchelte es langsam, während es sich hier (in Deutschland) nach dem Film ("Rhythm is it!") sehr schnell entwickelte, deshalb habe ich mich auf die Arbeit hier konzentriert. Es gibt in Großbritannien so viele Leute, die diese Arbeit tun können und natürlich fahre ich ab und zu hin und bin eine Weile dort. Ich war zum Beispiel gerade in Schottland, um eine Woche lang einige junge Choreographen zu betreuen und vor zwei Jahren habe ich in Wales Workshops veranstaltet. Also, ich gehe manchmal zurück zur Betreuung und für Workshops.

SB: Sind Sie am Anfang Ihrer Arbeit mit Nicht-Tänzern manchmal schockiert gewesen?

RM: Nein, ich war nur vollkommen dumm. Ich ging bloß hin und machte meinen normalen Unterricht. Ich unterrichtete völlig ungeeignetes, technisches Zeug und ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu begreifen, wie unangemessen das war und es zu ändern, davon wegzukommen und langsam zu begreifen, was sie tatsächlich machen konnten, so daß ich das alles weglassen und anfangen konnte, mit ihnen zu arbeiten. Ich bin wie ein typischer Profi an die Sache rangegangen, blind, und habe bloß gesagt: Wir machen Folgendes: eineinhalb Stunden Übungen, nur in der zweiten Position auf dem Boden sitzen und Muskeln dehnen. Wenn ich zurückblicke, finde ich das ganz furchtbar und wenn ich heute so etwas sähe, würde ich schreien. Aber es hatte niemand vorher gemacht, also wußte ich nicht, was ich tun sollte und es gab niemanden, den man hätte fragen oder an dem man sich hätte orientieren können.

SB: Haben Sie persönlich Vorbilder?

RM: Oh, ja, da gibt es einige, aber es sind meistens politische Leute, nicht unbedingt welche vom Tanz. Da bin ich immer ein Fan und Bewunderer von Pina Bausch und ihrer Arbeit und Arbeitsweise gewesen. Aber meistens sind es Philosophen oder Leute, die auf bestimmte Weise denken, wie der Journalist Robert Fisk zum Beispiel, der in Beirut lebt, und jemand in England, der vor 35 Jahren in einem winzigen Teil von Liverpool in einer alten Kirche ein Gemeindeprojekt begonnen hat, 35 Jahre in der Gemeinde gelebt hat und geblieben ist...... hart. Das heißt, es sind nicht notwendigerweise Leute aus der Welt des Tanzes. Als ich anfing, gab es in der Tanzwelt niemanden, dem ich in meiner Gemeinschaftsarbeit hätte folgen können, deshalb habe ich in anderen Bereichen nach Anregungen gesucht.

SB: Mr. Maldoom, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.


Aus dem Englischen übersetzt von der Redaktion Schattenblick.

Eingang zum Monsun-Theater in Hamburg

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30. März 2010