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INTERVIEW/003: Der koreanische Choreograph Nam-Jin Kim über den Fokus seines künstlerischen Schaffens (SB)


Interview mit Nam-Jin Kim

von Julia Barthel


Nam-Jin Kim ist ein koreanischer Tänzer und Choreograph, dessen Arbeiten tief unter die Oberfläche des menschlichen Daseins greifen. In diesem Jahr eröffnete er das "Simple Life Festival" auf Kampnagel mit zwei besonderen Stücken, in denen er höchst schwierige Themen wie Diskriminierung, Liebe, Hass und Ambivalenz auf eine derart elegante Weise inszenierte, daß es eine Freude war, dabei zuzusehen. Um die Stücke "Story of B" und "Brother" in Hamburg aufzuführen, reiste er extra mit seinem eigenen Tanztheater aus Korea an.

Nam-Jin Kim - copy; 2010 by Schattenblick

Nam-Jin Kim
© 2010 by Schattenblick

Bereits mit 17 Jahren hat Nam-Jin Kim in Busan, der zweitgrößten Stadt Südkoreas, seinen Tanz-Bachelor gemacht. Nach einer Karriere als Tänzer im eigenen Land trieben ihn nagende, innere Fragen und die Langeweile am rein äußerlichen Tanzstil dazu, nach Europa zu gehen. Dort arbeitete er vier Jahre lang unter dem bekannten Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui in den "Ballets C de la B". Durch diese Zusammenarbeit wurde sein Beruf zur Berufung, er lernte die Arbeit ;-EASY mit behinderten Tänzern auf der Bühne kennen und schätzen. Hier erwarb Nam- Jin Kim die Fähigkeit, das, was ihn im Inneren bewegte, im Tanz auszudrücken. Später ging er zurück in seine Heimat, wo er 2006 das Dancetheater Chang gründete. Als Choreograph beschreitet er in seinem Land neue Wege, indem er nachdenkliche und kritische Stücke auf die Bühne bringt, die ihm in Korea viel Widerstand einbringen.

Im Interview sprach er mit uns darüber, wie die Arbeit mit behinderten Künstlern seine Perspektive auf das Leben veränderte, über seinen Wunsch, der jüngeren Generation in seiner Heimat wieder bewußt zu machen, daß die Teilung ihres Landes ein unerträglicher Zustand ist und über sein neuestes Projekt, "Crazy Swan Lake II", in dem das Thema Umweltverschmutzung behandelt wird.


*


Schattenblick: Herr Nam-Jin Kim, was hat Sie dazu inspiriert in Ihren Stücken, die Sie heute Abend zeigen, den Fokus auf Menschen zu legen, die am Rande der Gesellschaft leben?

Nam-Jin Kim: Ich bin nicht interessiert an reichen Leuten oder großen, wichtigen Menschen, mich interessieren die Lebensumstände obdachloser, körperlich und geistig eingeschränkter Leute und deshalb habe ich in meiner Kunst den Fokus auf sie gelegt.

SB: Hat es ein bestimmtes Erlebnis gegeben, eine Situation, die dieses Interesse geweckt hat, so dass Sie sagten, "Das ist es, was mich interessiert!". Wie ist es dazu gekommen?

Nam-Jin Kim erklärt sein gesellschaftliches Anliegen - © 2010 by Schattenblick

Nam-Jin Kim erklärt sein gesellschaftliches Anliegen
© 2010 by Schattenblick

NK: Ich denke, dass die Geschichten von reichen Leuten oder wichtigen Männern einfach nicht von Interesse sind. Ihr Leben ist nicht aufregend, weil sie nichts mehr brauchen, denn sie besitzen schon alles. Aber daneben existiert die andere Seite der armen, obdachlosen und behinderten Menschen, die nicht genug zum Leben haben. Ich möchte dem Publikum erklären, dass sie mehr brauchen und letztendlich möchte ich, dass Behinderte, Arme und Obdachlose wachsen, damit sie die Möglichkeit bekommen, dieselbe Ebene zu erreichen, wie die anderen.

SB: Und Sie möchten auch auf die Menschen und ihre Situation aufmerksam machen.

NK: Richtig.

SB: Wie sind Sie dazu gekommen mit einem behinderten Tänzer auf der Bühne zu arbeiten?

NK: Ich habe in Belgien bei "Les Ballets C de la B" gearbeitet. Zu dieser Company gehörte auch ein behinderter Tänzer. Ich hatte nie zuvor mit behinderten Tänzern gearbeitet und seitdem, würde ich sagen, bin ich sehr daran interessiert mit körperlich und geistig eingeschränkten Künstlern zu arbeiten, weil ihre Situation, ihre Körper nicht sind wie unsere, man kann sagen, schönen, unversehrten Körper. Für mich als normaler Tänzer und auch für meinen Verstand war das viel spannender. Ich empfinde ihr Gemüt als sehr rein, deshalb berührte es mein Herz.

SB: Einige Leute sagen sogar, dass behinderte oder körperlich eingeschränkte Tänzer ein größeres Repertoire an Bewegungsmöglichkeiten haben. Können Sie das bestätigen? Entspricht das Ihren Erfahrungen?

NK: Erinnerungen sind für mich in meiner Arbeit sehr wichtig. Bewegungen sind nicht wirklich wichtig. Also welche Art von Erinnerungen hast du an die Zeit als du noch Kind warst? Sung kuk Kang trägt harte Erinnerungen in seinem Herzen, weil er behindert war. Auch mein Bruder ist behindert, daran habe ich viele Erinnerungen. Ich befragte dazu meinen Tänzer Sung kuk und er hat die gleichen Erinnerungen. Deshalb haben wir dann dieses Stück gemacht.

SB: Also die Verbindung funktioniert eher über den mentalen Aspekt als über den körperlichen?

NK: Ja, ja.

Der Choreograph spricht über die Bedeutung von Erinnerungen - © 2010 by Schattenblick

Der Choreograph spricht über
die Bedeutung von Erinnerungen

© 2010 by Schattenblick

SB: Und körperlich, würden Sie sagen, dass es einen sehr großen Unterschied gibt zwischen einer Person, die sich wie Sung kuk Kang bewegt und jemandem, der sich bewegt wie wir?

NK: Ja. Es war sehr hart, als wir begannen, Performances zu machen, diese Zeit war sehr schwierig. Aber ich denke jetzt, dass letztlich die mentale Kommunikation die Lösung ist. Nachdem wir einander einmal verstanden hatten, wurde es sehr leicht, genauso aufzutreten wie andere auch.

SB: Können Sie noch etwas über Ihre Einsichten und Entdeckungen erzählen, die Sie in Ihrer Arbeit mit körperlich eingeschränkten Künstlern gesammelt haben? Was würden Sie sagen, gibt es da etwas, das Ihnen sehr wichtig ist, weil es Ihnen vorher noch nicht bewusst war?

NK: Sie sind sehr klar - ihr Herz und ihr Verstand sind sehr rein. Wenn es also jemanden gibt, sagen wir, mit schlimmen Ideen und üblen Absichten, sollte man ihn mahnen, sich dem guten, reinen Gemüt anzunähern, so dass sein eigenes Denken dem ähnlicher wird. Ich meine, dass es das Wichtigste ist, so zu denken, um mit behinderten Menschen zu arbeiten.

SB: Haben Sie die beiden Stücke, die Sie heute Abend zeigen, schon in Korea aufgeführt? Wie hat das Publikum darauf reagiert?

NK: Nur in Korea oder auch in anderen Ländern?

SB: Ich würde das gern speziell erfahren, was Ihren eigenen kulturellen Hintergrund betrifft, wie haben die Zuschauer auf die Thematik reagiert?

NK: Ich hatte mit meiner Arbeit in Europa Erfahrungen gesammelt, dabei wusste ich, dass es hier im öffentlichen Umgang mit Behinderten keine extrem großen Probleme gibt. Aber in den Augen der Koreaner sind die behinderten und die normalen Menschen voneinander zu unterscheiden. Als ich also in Korea auftrat, war das sehr ungewöhnlich.


Nam-Jin Kim erläutert den Umgang der koreanischen Gesellschaft mit Behinderten - © 2010 by Schattenblick

Nam-Jin Kim erläutert den Umgang der koreanischen
Gesellschaft mit Behinderten

© 2010 by Schattenblick

SB: Und wie fielen die Reaktionen auf diese Stücke in Europa aus?

NK: Ich tanzte in der Schweiz und in Deutschland, in Mainz und Berlin, und das Publikum war begeistert. Das Stück hat ihnen gefallen und nach der Show gab es Standing Ovations und ich habe mich auch gefreut, aber ich würde die Stücke gern noch einmal in Korea tanzen, obwohl es dort eher schwierig ist.

SB: Also ist es nicht leicht, dort eine Erlaubnis dafür zu bekommen, solche Stücke zu zeigen?

NK: Ich habe bei einigen Festivals angefragt, aber sie haben Stücke wie diese nicht angenommen. Sie möchten für das Publikum nur schöne Tänzer und ästhetischen Tanz auf der Bühne sehen, mit behinderten oder körperlich eingeschränkten Menschen ist es schwierig, sogar auf Festivals.

SB: Und denken Sie, es gibt zukünftig eine Chance, dass sich das in Ihrem Land jemals ändern könnte?

NK: Ja, in der Zukunft, ich weiß nicht (lacht). In fünfzig Jahren vielleicht? Ich weiß es nicht.

SB: Ich würde gerne noch erfahren, wie es um den sozialen Status behinderter Menschen in Korea bestellt ist. Sie sagten bereits, es sei sehr problematisch. Mit welchen Schwierigkeiten müssen Behinderte und körperlich Eingeschränkte sich im Alltag auseinandersetzen?

NK: Also momentan ändert sich einiges in Korea. Aber wie auch immer, es ist nicht genug für den sozialen Stand behinderter Menschen oder ihre soziale Fürsorge.

SB: Also gibt es kein Wohlfahrtssystem, das sie unterstützt? Wie organisieren sie ihren Alltag?

NK: Es gibt Heime für behinderte Menschen. Sie leben dauerhaft in diesen Pflegeheimen oder solchen Organisationen, was bedeutet, dass sie nicht heraus kommen, um mit anderen Menschen zu leben.

SB: Also kann man schon sagen, dass sie auf gewisse Weise von anderen Menschen ferngehalten werden?

NK: Normale Menschen haben ihre Vorurteile und auch die körperlich eingeschränkten und behinderten Menschen haben ihre Vorurteile. Also gibt es eine besondere Kluft, die auch die soziale Fürsorge nicht überbrücken konnte. Aber verglichen mit der Vergangenheit ist die Fürsorgepolitik stark ausgebaut worden. Stellt man sie jedoch der Fürsorgepolitik Europas gegenüber, ist es aus meiner Sicht immer noch nicht genug.

SB-Redakteurin im Gespräch mit Nam-Jin Kim und seinem Dolmetscher - © 2010 by Schattenblick

SB-Redakteurin im Gespräch mit Nam-Jin Kim und dem Dolmetscher Bangkeun Kim
© 2010 by Schattenblick

SB: Ich würde gerne noch wissen, wie es sich für Sie angefühlt hat, Ihre persönlichen Erfahrungen mit Ihrem Bruder auf der Bühne zu verarbeiten. Welche Gefühle rief dieser Prozess in Ihnen hervor?

NK: Menschen kennen keine Gnade. Also, ich habe mich selbst dabei erlebt, wie ich zu meinem Bruder sagte: "Ich hoffe, dass du nicht wirklich mein Bruder bist", und solche Dinge. Das passierte, als ich jünger war. Aber während meiner Auftritte kehrten die traurigen Erinnerungen daran zurück. Also dachte ich, wenn ich so tief traurig bin, kann ich dieses Gefühl auch meinem Publikum vermitteln. In meiner Performance gibt es ein Band, das beide Brüder verbindet und ich kappe diese Verbindung mit einer Schere, was so viel heißt wie: "Ich wünschte, du wärest nicht mein Bruder!". Doch am Ende der Aufführung nehme ich ihn wieder als meinen Bruder an. Auch wenn ich versucht habe, die Verbindung zwischen uns zu trennen, bleiben wir doch Brüder, was auch immer geschehen mag.

SB: Also ich denke, es ist sehr, sehr mutig, diese persönliche Erfahrung auf die Bühne zu bringen, weil Sie einen kritischen Standpunkt zu dem einnehmen, was Sie selbst getan haben, beziehungsweise wie Sie auf Ihren Bruder reagierten. Hat der Performance-Prozess Ihnen dabei geholfen, sich selbst zu verzeihen, was zwischen Ihnen und Ihrem Bruder vorgefallen ist?

NK: Ich meine, dass die Erinnerung daran wichtiger ist. Was während des Stücks passiert, setzt sich aus meinen Erinnerungen zusammen und gleichzeitig ist es das, woran sich alle Menschen erinnern können. Ein Beispiel dafür wäre, wie Sung kuk und ich in der Performance versuchen ein Spielzeug einzufangen. Dies ist eine meiner Erinnerungen, aber es könnte auch genauso gut aus Deiner Erinnerung stammen. Wir teilen diese Art von Erinnerungen und deshalb versteht das Publikum das ebenso. "Ja, als ich noch jünger war, mochte ich ihn nicht und wir hatten sogar Streit", aber heute haben wir ein gutes Verhältnis. Wir sind uns sehr nahe. Das versteht jeder.

SB: Ja, das ist es, worin sich jeder wiederfindet. Jeder, der Schwestern oder Brüder hat, kann diese Erfahrungen nachvollziehen. Also, behindert oder nicht, es ist immer ein Kampf und zugleich eine Entwicklung. Ist es das, was Sie sagen wollen?

NK: Ja, das trifft zu.

Nam-Jin Kim über die universelle Botschaft von 'Brother' - © 2010 by Schattenblick

Nam-Jin Kim über die universelle Botschaft von "Brother"
© 2010 by Schattenblick

SB: Woran arbeiten Sie gerade, wie werden Ihre nächsten Projekte aussehen?

NK: Mein neues Projekt heißt "Crazy Swan Lake" und handelt von der Verschmutzung der Umwelt. Ich habe auch dieses Stück gemeinsam mit Sung kuk Kang erarbeitet. Der erste Teil davon ist mein Solo, in dem ich wie in "Schwanensee" sterbe, in diesem Fall jedoch an Umweltverschmutzung. Es sind zwei geteilte Akte. Den zweiten Teil, mit derselben Musik, tanzt Sung kuk. Während ich an der Verschmutzung sterbe, versucht Sung kuk Kang zu überleben, sogar in dieser tödlichen Umgebung. Er versucht sein hartes Leben unter diesen neuen Umweltbedingungen weiterzuleben und durchzusetzen. Dieses Projekt, das ich schon fertig gestellt habe, werden wir, so hoffe ich, Ende Mai 2011 in der Schweiz aufführen. Und dann könnten wir es auch in Deutschland zeigen.

SB: Also Sie werden nach Hamburg oder Berlin zurückkehren, vielleicht mit diesem Stück?

NK: Ich hoffe es. (lacht)

SB: Gibt es noch weitere Projekte, an denen Sie bereits arbeiten?

NK: Ja, ich habe zwei neue Projekte. Also im Januar möchte ich mit sechs Tänzerinnen die Situation zwischen Nordkorea und Südkorea darstellen. Das werden wir in Seoul machen. Das nächste Projekt bearbeite ich dann Anfang April für die National Contemporary Dance Company.

SB: Und das Stück über Nord- und Südkorea ist "Waiting People"?

NK: Ja, "Waiting People".

SB: Also das ist das Stück über die Menschen, die immer noch auf die Wiedervereinigung der beiden Landesteile warten?

NK: Ja.

SB: Gibt es etwas, was Sie gern darüber sagen würden, damit das Publikum die Situation nachvollziehen kann, in der die Menschen dieses geteilten Landes leben?

NK: Also ich denke, dass alle älteren Generationen als Wartende aufwuchsen. Sie hofften auf das Ende der Regierung. Aber die jüngeren Generationen kümmern sich nicht mehr darum, es ist ihnen egal. Also würde ich gern vermitteln, dass es immer noch jemanden gibt, der die Auseinandersetzung beenden möchte und auch versucht, dies den Jüngeren zu erklären.

SB: Damit sie das fühlen und verstehen.

NK: Richtig.

SB: Gut, ich denke da ist noch eine letzte Frage, die ich Ihnen gern stellen würde. Was genau macht den Hauptunterschied im Verhalten von behinderten und nichtbehinderten Menschen aus, den Sie anfangs als die "Reinheit" beschrieben haben, die Ihr Herz berührt hat?

NK: Das ist zwar nicht immer der Fall, aber manchmal sehe ich einen normalen Menschen, der aber große Probleme mit seinem Gemüt hat. Normale Leute sind nie zufrieden, sie sagen immer: "Ich brauche mehr, mehr, mehr!" Sogar behinderte Menschen sind zufrieden, wissen Sie was ich meine? Mein Verstand sagt mir: Es ist genug! Aber normale Leute sind nie zufrieden, sie sagen: Ich brauche mehr, mehr, mehr!" Letztlich geht es um die innere Zufriedenheit. Diese Zufriedenheit, sich selbst genug zu sein, unterscheidet das Denken normaler und behinderter Menschen wesentlich.

SB: Ja, jetzt verstehe ich es besser. Vielen Dank für das Gespräch.

Nam-Jin Kim im entspannten Gespräch kurz vor seinem Auftritt - copy; 2010 by Schattenblick

Nam-Jin Kim im entspannten Gespräch kurz vor seinem Auftritt
© 2010 by Schattenblick

15. November 2010