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INTERVIEW/039: Mexikospektive - Kultur ist so viel mehr ...    Fran Ilich im Gespräch (SB)


Im Rahmenprogramm des Theaterfests "Kontext Mexiko" Anfang März auf Kampnagel veranstaltete der mexikanische Medienkünstler, Schriftsteller und Netzaktivist Fran Ilich einen spannenden Workshop unter dem Titel "Theater of Crisis", dessen Ergebnisse im Anschluß präsentiert und diskutiert wurden. Grundidee des Workshops war es, die aktuelle Krise in Mexiko u. a. mit Landflucht, Drogenkrieg und Ressourcenraubbau als Schauplatz dramatischer Entwicklungen, die sich mal stärker, mal schwächer auf die Menschen in den anderen Teilen der Welt auswirken, zu reflektieren, um vielleicht auf mögliche Lösungsansätze zu kommen. Am 4. März hatte der Schattenblick Gelegenheit, ausführlich mit dem umtriebigen Fran Ilich zu sprechen.


Fran Ilich vor Dialeinwand, darauf ein Bild des hellbeleuchteten Kolumbus-Platzes bei Nacht - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fran Ilich zum Columbus-Platz im Herzen von New York
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Ilich, bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Jugend in Tijuana als Kind linksradikaler Eltern und von den wichtigsten Stationen ihrer bisherigen Karriere als Buchautor, Multimedia-Künstler und politischer Aktivist.

Fran Ilich: Ich denke, daß ich großes Glück hatte, in eine solche Familie hineingeboren zu sein. Alles, was ich mache, geschieht sozusagen in Reaktion darauf, wie mein Vater und meine Mutter mich erzogen und was sie mir beigebracht haben. Ich stehe in ihrer Schuld sowie der ihrer ganzen Generation, jener Jugend, die sich in den sechziger Jahren in Mexiko und vielen anderen Ländern der Welt gegen verkrustete Strukturen aufgelehnt und positive gesellschaftliche Veränderungen wie zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau erkämpft haben. Diese Generation ist für mich heute noch das politische Vorbild.

Meine Eltern waren dermaßen politisch umtriebig, daß wir zuhause eine Druckerpresse, eine Dunkelkammer, um Fotos zu entwickeln, drei Bibliotheken und eine Sauna hatten. Ich wurde vegetarisch großgezogen und habe in meinem ganzen Leben kein Fleisch gegessen. Meine Eltern haben mir bereits in frühen Jahren die Klassiker der Weltliteratur zu lesen geben. Die erste Platte, die ich gehört habe, war von den Beatles. Ich wurde als Sozialist erzogen. Mir wurde nahegelegt, soviel wie möglich aus mir selbst zu machen, um als Erwachsener um so effektiver gegen Ungerechtigkeit auf der Welt kämpfen zu können. Gleichzeitig war ich angesichts der unmittelbaren Nähe Tijuanas zur amerikanischen Grenze häufig in den USA - zum Beispiel im Supermarkt einkaufen - habe amerikanische Medien wie jeder andere konsumiert und auf diese Weise auch das kapitalistische Gesellschaftsmodell kennengelernt.

Meine Eltern waren beide Lehrer. Für ihre Zeit waren sie wirklich fortschrittlich. In den Schulen, wo sie arbeiteten, haben sie sich gegen die Prügelstrafe, die damals üblich war, ausgesprochen und eine Menge Ärger eingehandelt. Während meine Mutter in der Stadt unterrichtete, arbeitete mein Vater außerhalb von Tijuana in einer Grundschule, die hauptsächlich von den Kindern einfacher Bauern besucht wurde. Er war auch Dichter und hat mehrere Bücher mit eigener Lyrik veröffentlicht. Als Stoff griff er meistens auf Aspekte und Elemente des Lebens der arbeitenden Bevölkerung in Mexiko und Zentralamerika und deren Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung zurück.


Metallzaun erstreckt sich über den Strand hinaus rund 50 Meter ins Meer - Foto: 2014 by Tony Webster, freigegeben als Creative Commons Attribution 2.0 Generic via Wikimedia Commons

Der Anfang der US-Grenzmauer zwischen San Diego und Tijuana
Foto: 2014 by Tony Webster, freigegeben als Creative Commons Attribution 2.0 Generic via Wikimedia Commons

Meine Erziehung führte zu sonderbaren Erlebnissen. Ich war völlig schockiert, als ich erfuhr, daß andere Menschen Fleisch, das heißt tote Tiere, aßen. Ebenso hat es mich erschrocken, als ich feststellte, daß ganz viele Mexikaner an die Jungfrau von Guadaloupe bzw. daran glauben, daß die Mutter von Jesus Christus dort irgendwann leibhaftig erschienen ist. Ich dachte, nur Analphabeten vom Lande glaubten so etwas. Die Realisation, daß sehr viele, wenn nicht sogar die meisten Mexikaner diesem Aberglauben anhängen, hat mein Weltbild wenn nicht erschüttert, so immerhin ins Wanken gebracht.

SB: Warum wird in Mexiko eine so große Sache um die Jungfrau von Guadaloupe gemacht?

FI: Sie ist praktisch die Schutzheilige der spanischen Invasoren. Der Völkermord an der indigenen Bevölkerung und die Schaffung des Neuen Spaniens tragen ihren Segen. Die Tatsache, daß sie ganz besonders von den armen Menschen verehrt wird, ist für mich auch der Beweis für die Wirksamkeit der religiösen Gehirnwäsche. Die Menschen verehren die Schutzheilige ihrer eigenen Unterdrücker. Für sie ist sie wichtiger als sie selbst. Solche Unterwerfung gegenüber den eigenen Peinigern ist für mich inakzeptabel.

In der Schule hat mich die Entdeckung, wie sehr nationalistisches und kapitalistisches Gedankengut allgemein verbreitet war, ebenfalls schockiert. Die zentrale Rolle, welche die Religion, die nationalen Symbole und das Gewinnstreben im Leben der Menschen spielen, hat mich schwer zum Nachdenken gebracht. Als ich zwölf Jahre alt war, versuchte der Schuldirektor, mich meinen Eltern zu entreißen und ihnen das Sorgerecht für mich aberkennen zu lassen, weil ich die Staatsflagge Mexikos kritisiert hatte. In einer Klassendiskussion hatte ich den Standpunkt vertreten, daß im Fall eines Kriegs die Staatsflagge zweitrangig wäre, man müßte sich zu allererst um die Menschen kümmern. Auch wenn das Volk durch die Flagge symbolisiert würde, wären die beiden Dinge nicht gleichrangig, nicht identisch. Unserem Lehrer gefiel meine Argumentationslinie nicht. Also hat er den Schuldirektor eingeschaltet. Dieser wiederum hat mich in sein Büro geholt und erst einmal vernommen - ganz klassisch bei vorgezogenen Vorhängen und mit der Tischlampe auf mein Gesicht gerichtet. Ob ich ein Sozialist sei, wollte er wissen. Ich bejahte, als sei das die natürlichste Sache der Welt für einen halbwegs gebildeten Menschen. Damals war mir nicht klar, wie sehr der Sozialismus in ganz Lateinamerika von Kapital, Militär und Kirche heftigst bekämpft wurde, woran sich bis heute nichts geändert hat.

SB: Sie sind 1975 geboren und haben die Schule Anfang der neunziger Jahre abgeschlossen. Was hatten Sie damals für eine Vorstellung, welchen Beruf Sie ausüben wollten?

FI: Ich wollte entweder pädiatrischer Chirurg oder Journalist werden. Als Jugendlicher machte ich wie viele andere eine rebellische Phase durch. Ich wirkte bei mehreren Musik-Fanzines mit und habe mit 17 einen Bildungsroman mit dem Titel "Metro-pop" geschrieben, in den ich meine Kritik an dem damaligen autoritären Schulsystem Mexikos verpackt habe und der heute in 28 mexikanischen Bundesstaaten auf dem Lehrplan steht. In dem Buch habe ich meine jugendlichen Zukunftsträume, das Familienleben mit meinen Eltern und meiner Schwester sowie meine Erlebnisse und die meiner Kumpel verarbeitet. Die Geschichte endet mit meinem Tod vor lauter Aufregung um das bevorstehende Millennium am Sylvester-Abend des Jahres 1999 in New York. Das zentrale Thema des Buches ist die Frage, inwieweit man überhaupt an den gesellschaftlichen Bedingungen etwas verändern kann, oder ob man besser beraten ist, sich mit einem gemütlichen, dafür aber stumpfsinnigen Leben zu begnügen. Wegen der Arbeit am Roman bin ich im Unterricht derart zurückgefallen, daß ich die Abiturprüfung gar nicht erst versucht habe, weil das keinen Sinn gehabt hätte.

Ich habe die Schule also nicht abgeschlossen. Dafür war es eine aufregende Zeit. Zum Beispiel hat mich eine linksorientierte mexikanische Partei eingeladen, sie als Beobachter bei den Parlamentswahlen 1993 auf Kuba zu vertreten. Verglichen mit solchen Perspektiven kam mir als 17-, 18jährigem die Schule langweilig vor. 1995 brachte ich zunächst mit Freunden eine Zeitung über elektronische Kultur, Cinemátik, heraus. 1996 nahm ich die Arbeit als Drehbuchautor für die Fernsehsendung Interración des Discovery Channels Latin America auf. 1997 erschien endlich Metro-pop. 1998 habe ich einen Deal im Wert von 1,7 Millionen Dollar zur Produktion einer eigenen Fernsehsendung für Jugendliche in ganz Lateinamerika zum Thema Digitaltechnologie an Land gezogen. Doch das Platzen der Dotcom-Blase Anfang 2000 hat das Projekt begraben. Von dem ganzen Geld habe ich nichts gesehen. Dafür bin ich mit Spiral Tribe, dem internationalen Freetekno-Kollektiv in Kontakt gekommen und habe mit ihm einige Raves in Mexiko veranstaltet.

Ich hatte inzwischen eine Stelle als Rechercheur in der Multimedia-Abteilung am Nationalen Kunstzentrum in Mexiko-Stadt (Cenart) und mußte deshalb meinen Schulabschluß nachholen. Danach habe ich einen Bachelor-Grad über lateinamerikanische Studien an einer US-finanzierten Universität in Mexiko-Stadt, die mir einen Stipendium gegeben hatte, gemacht.

SB: Im Januar 1994 kam es im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas zum Aufstand der Zapatistas. Sie waren damals um die 19 Jahre alt gewesen. Wie sind Sie mit Subkommandante Marcos und den Zapatistas in Kontakt gekommen?

FI: Es war Zufall. Die kleine trotzkistische Partei, der ich damals angehörte, wollte zu den Ereignissen in Chiapas Stellung nehmen. Doch in Tijuana bzw. Mexiko-Stadt wußte von uns niemand so richtig, was im Süden eigentlich los war und was der Auslöser des Aufstands gewesen ist. Tatsächlich lehnten sich die Zapatistas gegen das nordamerikanische Freihandelsabkommen auf, weil NAFTA mit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1994 ein Verbot der Privatisierung von kommunalen Ländereien, eine wichtige Errungenschaft der mexikanischen Revolution von 1910 bis 1920, aufhob. Ich habe den Auftrag bekommen, für die Partei im Radio zu sprechen, bei welcher Gelegenheit ich mich für Friedensverhandlungen und ein Ende der Gewalt aussprach. Kurz danach löste sich die Gruppierung auf. Viele der Mitglieder, mich eingeschlossen, haben dafür ein Netzwerk zur Unterstützung der Zapatistas gegründet.


Ilich steht mit Mikrophon in der Hand vor einem roten Vorhang auf der Bühne - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fran Ilich referiert
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Dem Sie heute noch angehören.

FI: Das wäre zu viel des Lobes. Ich verkaufe deren Kaffee.

SB: Wann waren Sie das erste Mal in Chiapas?

FI: Das war 2005. Warum hat es so lange gedauert? Ich bin einfach der Botschaft von Subkommandante Marcos gefolgt, der sagt, man sollte sich am besten dort engagieren, wo man selbst herkommt. Von daher wäre Chiapas für mich, der ich in Tijuana geboren und aufgewachsen bin, eine Art Sackgasse gewesen. Dafür bin ich 1999 kurz nach dem Ende der NATO-Bombardements in Serbien gewesen. Ich wollte mich sozusagen als "Kriegskorrespondent" betätigen.

SB: Also zu dem Zeitpunkt, als sich die NATO im Kosovo einrichtete.

FI: Ganz genau, wenngleich ich das Land im Jahr 2000 noch einmal bereiste.

SB: Was sagten Ihnen die Menschen in Serbien? Bestimmt waren sie über den Ausgang des Kriegs und die Zerstörung und das Leid, welche die NATO mit ihren Luftbombardements verursacht hatte, sehr unglücklich. Aber machten sie Slobodan Milosevic dafür verantwortlich?

FI: Die Jugendlichen, mit denen ich sprach, erzählten mir, daß die einmonatige Bombardierung die aufregendste Zeit ihres Lebens gewesen sei. Sie feierten nachts, während sie als menschliche Schutzschilde die Brücke in Belgrad bewachten. Sie wußten gar nicht, ob sie die nächsten Stunden überleben würden oder nicht. Viele von ihnen haben sich verliebt. Andere wiederum spielten Online-Versionen des Kriegs, in denen sie dafür sorgten, daß Serbien den Sieg davontrug und die NATO bezwang. Leider wurden meine Artikel über die Erlebnisse in Serbien nicht veröffentlicht. Der Auftraggeber wollte die Jugendlichen partout nicht damit zitieren, daß die Kriegswochen für sie romantisch gewesen sind; ich war aber nicht bereit, die Zitate zu streichen. Insgesamt hat mich die Rücksichtslosigkeit, mit der die USA und die europäischen Großmächte militärisch gegen Serbien vorgingen, sehr erschrocken. Sie haben auf dem Balkan wahrlich ein "Theater der Grausamkeit" veranstaltet.

Ich verließ Serbien, weil ich nach Tschetschenien wollte, um über den Krieg im Kaukasus zu berichten. Ich hatte kaum Geld, bin in Budapest ohne Fahrkarte in die S-Bahn gestiegen und dabei von der Bahnpolizei erwischt worden. Die Beamten wollten mich auf die Polizeiwache mitnehmen, doch habe ich mich sozusagen als verwirrter, ortsunkundiger Tourist aus der Affäre ziehen können. Dabei mußte ich feststellen, daß ich tatsächlich verwirrt war. Ich schätze die Eindrücke im Nachkriegsserbien sind mir dermaßen nahegegangen, daß ich leicht traumatisiert war.

SB: Psychologen in den USA berichten von Familien, in denen das Trauma heimkehrender Soldaten aus dem Irak und Afghanistan auf die Frauen und Kinder übertragen wird. Dafür müssen die Väter nicht einmal gewalttätig sein, vielmehr seien die Nah-Tod-Situationen, die sie im Ausland erlebt haben, derart durchdringend, daß durch ihr sonderbares Verhalten die Störung gewissermaßen an die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung weitergeben werde. Halten Sie so etwas für möglich? Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

FI: Vielleicht. Ich weiß nur, daß ich damals recht jung, etwa 21 Jahre alt, und etwas naiv war. Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, nach Serbien hineinzugelangen, weil von Norden, Westen und Süden her die Grenzen geschlossen waren. Die Einreise über Ungarn, die ich als erstes versuchte, war nicht möglich. Also bin ich nach Bulgarien gereist, um von Sofia den Zug nach Belgrad zu nehmen. Auf dem Weg dahin wurde ich in Rumänien kurz verhaftet, weil ich eine Zigarette in einem Bahnhof geraucht hatte. In Sofia mußte ich mich gegen den Versuch eines tätowierten Verbrechers, mir meinen Reisepaß abzunehmen, zur Wehr setzen. Bei der Fahrt von Sofia nach Belgrad wurde der Zug mitten in der Wallachei angehalten. Der mexikanische Passagier durfte zunächst nicht weiterreisen. Ich wurde aus dem Zug eskortiert und zu einer Kaserne gebracht. Weil sie den Verdacht hegten, daß ich ein NATO-Spion sein könnte, mußte ich eine Leibesvisitation und eine eingehende Vernehmung über mich ergehen lassen. Letztendlich haben die serbischen Grenzbeamten mich nur ins Land gelassen, weil mein Nachname Ilich lautet und ich ihnen eine Geschichte auftischte, derzufolge meine Großmutter serbisch sei und ich sie unbedingt besuchen wollte. Die jungen Leute, mit denen ich dann in Serbien zu tun bekam, standen unter dem Eindruck der Bombardierung. Sie waren noch voll im Streß. Von daher denke ich schon, daß das irgendwie auch auf mich abgefärbt hat.

Also habe ich mich in Budapest entschieden, nicht nach Tschetschenien, sondern zu Freunden in Berlin zu reisen. Unter Bekannten in der deutschen Hauptstadt, darunter Teilnehmer des Projekts Nettime, fühlte ich mich wieder geborgen. Während der rund zwei Monate an der Spree dachte ich über meine Erlebnisse in Serbien nach und gelangte zu der Frage, warum ich mich in eine Kriegszone in Europa, auf einem anderen Kontinent, und nicht in die in meinem eigenen Land, nämlich Chiapas, begeben habe.

Wieder daheim, habe ich im Jahr 2000 das Borderhack Festival an der Grenzanlage, die Tijuana von San Diego trennt, organisiert. Ich kam eines Tages auf die Idee. als ich auf der mexikanischen Seite der Grenze im Stau vor den US-Kontrollhäuschen stand. Da rannte immer wieder eine mexikanische Großfamilie, drei Generationen, zwischen den stehenden Autos durch, eine Meute schwerbewaffneter US-Grenzbeamten hinterher. Das geschah etwa siebenmal innerhalb von 45 Minuten. Solche Vorgänge mitzuerleben, während ich gemütlich im vollklimatisierten Auto saß, fand ich ungeheuerlich. Auch die Vorstellung, daß diese armen Familien nach der Verhaftung in Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, getrennt und bis zu ihrer Freilassung für Wochen oder sogar Monate in irgendwelchen Auffanglagern gefangengehalten würden, bedrückte mich sehr.

Meiner Meinung nach begeht die mexikanische Elite am eigenen Volk, insbesondere den armen Schichten, Verrat. Das sind die hispanischen Nachfahren der Conquistadores, die sich einen Teufel um die indigene Bevölkerung scheren, die wiederum aus wirtschaftlicher Not das eigene Land verlassen und zum Teil illegal in die USA einwandern muß. Von daher ist nicht Donald Trump das größte Problem Mexikos, sondern das kolonialistische System, das im Lande seit Jahrhunderten bis heute herrscht. Meines Erachtens haben die ethnischen Säuberungen, die in der "Neuen Welt" mit der Landung von Christoph Kolumbus 1492 auf Hispaniola anfingen, bis heute nicht aufgehört. Heute sind sie nicht ganz so krass. Einzelne Mitglieder der indigenen Bevölkerung werden in den Machtapparat aufgenommen - aber nur, um das Ganze noch effizienter zu gestalten. In Mexiko ist der Rassismus alltäglich. Helle Haut, blaue Augen und eine europäische Visage gelten als höherwertiger als dunkle Haut, braune Augen und Indio-Aussehen. Ich selbst bin ein Mischling, meine Mutter hat eine spanische Herkunft und mein Vater eine indigene. Meine Vorfahren väterlicherseits kommen aus Sonora und Chihuahua, die beide im Nordwesten des heutigen Mexikos liegen.


Ilich hockt auf der Bühne - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ilich hört einem Diskussionsbeitrag aus dem Publikum aufmerksam zu
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Wann ist Ihnen die Existenz dieses Kastensystems in Mexiko bewußt geworden? Wann haben Sie angefangen, dagegen zu rebellieren?

FI: Anfang, Mitte der Nuller Jahre, als ich nach Mexiko-Stadt zog. Ich habe dort sieben Jahre gelebt und in akademischen, künstlerischen und medialen Kreisen verkehrt. Am Anfang dachte ich, die Leute, mit denen ich zu tun bekam, wären auch meine Landsleute. Doch ich stellte fest, daß sie kulturell auf Spanien fixiert waren und ihre Werte von dort bezogen. Die Schulen, an denen in Mexiko-Stadt die Kinder der Elite erzogen werden, sind sehr stark auf Spanien und dessen Bildungssystem ausgerichtet. Menschen, die solche Schulen nicht besucht haben, werden es in Mexiko niemals bis ganz an die Spitze bringen. Sie sind von vornherein benachteiligt. Das mußte ich am eigenen Leib erfahren. Konzepte, die ich ausgedacht hatte, wurden kritisiert und es fand sich niemand, die sie produzieren wollte. Gab ich dieselben Entwürfe einem Sproß dieser Eliten in die Hand, hatte der keinerlei Schwierigkeiten, einen Privatinvestor zur Beteiligung oder einen Beamten im Kulturministerium zur Projektbewilligung zu überreden.

SB: Was haben solche Erfahrungen bei Ihnen bewirkt?

FI: Ich stand vor der Wahl, den mir zugedachten Platz in diesem Kastensystem zu akzeptieren oder es als Ganzes abzulehnen. Ich habe mich für letzteres entschieden. Ich fing an, mir Gedanken zu machen, wie man die persönliche Befreiung von sozialen Zwängen - auch meine eigenen - bewerkstelligen kann. Seitdem befasse ich mich mit Kooperativen und habe 2005 ein eigenes Kollektiv mitgegründet. Dies geschah, nachdem ich im selben Jahr in Chiapas Gespräche mit Subkommandante Marcos geführt und die kollektivistischen Betriebe der Zapatistas selbst besichtigt hatte.

Am Kollektiv sind mehrere Menschen beteiligt. Wir haben anfangs einen autonomen Server mit der Webadresse Possibleworlds.org gekauft und dort eine eigene Bank eingerichtet. Spacebank.org wird nicht offiziell anerkannt, funktioniert aber dennoch wie ein Finanzinstitut im Cyberraum. Spacebank hat eine eigene Währung, deren Wert wie derjenige des Euros, des Dollars, des Yens et cetera jeden Tag fluktuiert. Unser Kollektiv hat mittels Spacebank eigene Projekte finanziert, und somit konnten wir darauf verzichten, beim mexikanischen Staat um Geld zu betteln.

SB: Wie trägt sich das Ganze? Was sind die Dienstleistungen oder Produkte, die das Kollektiv anbietet?

FI: Es gibt viele. Webhosting ist eine. Da verkauft man Platz auf dem Server. Leute legen auch Geld bei dieser virtuellen Bank an, das sie vielleicht für eine Weile nicht benutzen werden. Wir als Spacebank können bis dahin dieses Geld anderweitig benutzen, um zum Beispiel Kaffee von den Zapatistas zu kaufen, den wir wiederum in New York gewinnbringend unters Volk bringen. Irgendwann haben wir auch angefangen, an der Börse zu spekulieren. Da gab es zunächst Probleme. Wir haben eintausend Dollar investiert und damit Aktien gekauft. Uns wurde seitens der Finanzaufsicht vorgeworfen, wir würden Geldwäsche für zwielichtige Personen und Gruppen in Mexiko betreiben. Es hat etwas Zeit und Mühe gekostet, aber am Ende konnten wir die Behördenvertreter überzeugen, daß alles, was wir machten, im Einklang mit dem geltenden Recht stand.

Interessanterweise wurde ich mit der Zeit immer besser im Umgang mit dem Geld. Als Vermögensverwalter und Investor schlage ich mich inzwischen ganz gut, finde ich jedenfalls. Ganz klassisch lese ich jeden Morgen die Financial Times, dazu diverse andere Wirtschaftspublikationen. Ich fing an, mir Gedanken über künstliche Insolvenz als Mittel zu machen, die Dinge voranzutreiben. Ich wurde dazu durch Elemente der indigenen Mythologie inspiriert. Viele Dinge sind auf eine Weise verwoben und miteinander verbunden, wie man es im ersten Moment vielleicht nicht vermutet.


Hueheuteotl als Steinfigur im Schneidersitz orange beleuchtet - Foto: 2006 by Rosemania, freigegeben als Creative Commons Attribution 3.0 Unported via Wikimedia Commons

Statue Huehueteotls im Nationalen Anthropologiemuseum in Mexiko-Stadt
Foto: 2006 by Rosemania, freigegeben als Creative Commons Attribution 3.0 Unported via Wikimedia Commons

SB: Was meinen Sie damit?

FI: Es gibt eine Gottheit, Huehueteotl, der mexikanische Gott des Feuers. In Nahuatl bedeutet hue "alt" und huehue "sehr alt". Teotl bedeutet "Gott". Also ist Huehueteotl sozusagen der große Alte. Er wird in Plastiken immer als sehr alter Mann dargestellt, der auf seinem Kopf eine Feuerstelle trägt. Einige Experten halten ihn für den ältesten Gott Mesoamerikas. Es gibt sogar Hinweise auf diese Figur, die 17.000 Jahren alt sein sollen. Es habe meine eigene kleine Huehueteotl-Statue, die rund eintausend Jahre alt ist und die ich immer bei mir habe. Das Leben hat uns beide zusammengebracht. Ich stehe mit ihm in einem Dialog.

SB: Wie soll das gehen?

FI: Ich wußte lange Zeit gar nicht von seiner Existenz. Ein Jahr bevor ich in den Besitz dieser Statue gelangt bin, bin ich Huehueteotl in meinen Träumen begegnet und mit ihm in einen Dialog getreten.

2013 bereitete ich gerade eine Aktion in Wien vor, mit der ich Druck auf die österreichische Regierung ausüben wollte, damit diese endlich die Federkrone Moctezumas an das mexikanische Volk zurückgibt. Dieses berühmte Stück des mexikanischen Kulturerbes, das auch im Kontext der Religion der Azteken von überragender Bedeutung ist, befindet sich im Besitz des Völkerkundemuseums in Wien. Seit langem fordert die indigene Bevölkerung Mexikos, angeführt von Xokonoschtletl Gomoro, die Rückgabe. Dieser Initiative wollte ich mit meiner Kunstaktion in Wien Nachdruck verleihen und Publizität verschaffen.

Eines Tages bin ich in meiner damaligen Wohngegend Prospect Heights in Brooklyn joggen gegangen. Joggen hilft mir, wenn ich ein neues Projekt vorhabe, aber noch nicht so richtig weiß, wie ich es aufziehen soll. Jedenfalls habe ich an diesem Tag unterwegs einfach auf dem Bürgersteig liegend ein Buch über den Völkermord an den Comanchen gefunden. Das fand ich bemerkenswert. Schließlich sind die Sprachen der Comanchen und der Azteken verwandt. Kaum eine Woche später fand wieder beim Joggen, diesmal in Brooklyn Heights, ein weiteres Buch auf dem Bürgersteig, das ein Bild von Moctezumas Federkrone enthielt. Ich wußte nicht, was ich von alledem halten sollte. Ich fragte mich ernsthaft, ob ich vor lauter Zufällen verrückt würde.


Replikat der durch lange türkisfarbene Federn geprägten Kopfbedeckung der Aztekenkönige - Foto: 2015 by Thomas Ledl, freigegeben als Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 international via Wikimedia Commons

Kopie der Federkrone Moctezumas
Foto: 2015 by Thomas Ledl, freigegeben als Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 international via Wikimedia Commons

Da meine mexikanischen Freunde in New York alle Latinos sind, die sich nicht für indigene Themen interessieren, hatte ich niemanden, mit dem ich mich über das bevorstehende Projekt so richtig austauschen konnte. Ich fühlte mich daher etwas isoliert. Ich hatte Angst, denn die Aktion sollte drei Wochen gehen, und ich wußte, daß ich es dabei mit den führenden Experten Österreichs auf dem Gebiet der mesoamerikanischen Kultur zu tun bekommen würde, die alle möglichen Argumente präsentieren würden, um den Anspruch Mexikos auf die Reliquie zu bestreiten. Einige von ihnen würden bestimmt die Maya-Sprache beherrschen, andere wiederum das aztekische Nahuatl, und versuchen, mich als Hochstapler und Angeber zu entlarven.

Von der Sorge geplagt, daß diese österreichischen Völkerkundler mehr über die Geschichte Mexikos wissen könnten als ich selbst, habe ich eines Nachts einen seltsamen Traum gehabt. Darin begegnete ich einem alten Mann, der mich als Schwindler beschimpfte und erklärte, daß alles, woraus die präkolumbianische Kultur im heutigen Nord-, Süd- und Mittelamerika bestanden habe, längst verlorenengegangen sei. Er sagte, er sei Huehueteotl. Ich merkte, daß er mich nicht mochte. Ich habe mich aber nicht einschüchtern lassen, sondern sagte ihm, er solle nicht zu schnell über mich urteilen, sondern mir Vertrauen schenken, denn ich sei immerhin einer der wenigen Mexikaner, die sich noch für die Rückgabe der Federkrone Moctezumas stark machten. Seitdem ist er mir hin und wieder erschienen. Aber niemand glaubt mir das. Würde ich aber behaupten, ich hätte die Jungfrau Maria gesehen, würden die meisten Mexikaner mir das sofort abkaufen; bei Huehueteotl dagegen tun sie es nicht. Oder wenn ich sagen würde, Jesus habe zu mir gesprochen; die meisten Katholiken Lateinamerikas hätten nicht das geringste Problem, das zu akzeptieren. Daß man einem der alten Götter begegnet ist, glaubt aber niemand.

Menschen sprechen davon, daß sie nach dem Tod im Himmel die toten Verwandten wiedersehen werden. Aber erklärt man, man sei einem 17.000 Jahre alten Gott begegnet, behaupten alle, das sei eine Fiktion. Aber was bitte sehr ist keine Fiktion? Alles ist Fiktion: dieser Tisch, die Stühle, auf denen wir sitzen, einfach alles. Sie sind genauso real wie sie unreal sind.

Huehueteotl und die anderen Alten wandern über den amerikanischen Kontinent wie eh und je. Wir einfachen Menschen führen unsere einfachen Leben, während die Politiker, Militärs und Konzernlenker den Turbokapitalismus vorantreiben. Um dem etwas entgegenzusetzen, haben wir vom Kollektiv ein kleines Stück Land in Baja California gekauft. Mein Bestreben mit Spacebank ist es, den Wunsch der Menschen nach Veränderung finanzielle Kraft zu verleihen.

SB: Sie arbeiten also nach wie vor mit Geld, obwohl die Zapatistas so wenig wie möglich mit dem Geldsystem zu tun haben wollen und ihre Geschäfte eher über den Tauschhandel zu regeln versuchen?

FI: So ist es. Die Zapatistas haben es da aber leichter, weil sie auf dem Land leben, während ich in der Großstadt wohne. Auch ohne Geld sind Tauschbeziehungen zwischen den Menschen nicht unproblematisch. Dessen bin ich mir sehr bewußt. Ich arbeite am liebsten an Projekten, bei denen für die Menschen nicht im Vordergrund steht, was sie am Ende davon haben, sondern was sie einbringen können. Daraus kann Veränderung entstehen und nicht, wenn die Leute irgendwelchen Perspektiven hinterherlaufen. Die Projekte, von denen sich die Beteiligten am wenigsten irgendeinen Gewinn versprechen, sind meiner Erfahrung nach die persönlichsten und ergiebigsten.

Den Zapatista-Kaffee, den ich in New York vertreibe, verkaufe ich eigentlich nicht. Ich gebe ihn weg; im Gegenzug spenden die Menschen Geld für die Zapatista-Bewegung, je nachdem, was sie leisten können. Dadurch ist das rechtlich kein Geschäft, sondern eine Spendensammlung für eine freiwillige initiative. Auch wenn es vorhin anders klang, schmuggeln wir den Kaffee nicht in die USA ein. Wir importieren ihn in regelmäßigen Abständen nur in Mengen, die so klein sind, daß keine Zollgebühr anfällt. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ich handele innerhalb der Gesetzgebung desjenigen Landes, in dem ich mich befinde. Die Veränderung, die ich durchzusetzen versuche, ist nicht revolutionär im Sinne eines Bruchs mit der bestehenden Ordnung, sondern evolutionär; sie zielt auf einen langfristigen Wandel, der nachhaltig ist. Will man mehr als 500 Jahre Besatzung Amerikas rückgängig machen, lindern oder in eine positive Richtung lenken, dann geht das nicht über Nacht. Man muß langfristig denken und handeln.


Interviewszene am Tisch im Restaurant auf Kampnagel - Foto: © 2017 by Schattenblick

SB-Redakteur und Fran Ilich
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Sie sagten, sie lernten Nahuatl. Wie lange machen Sie das schon?

FI: Seit mehreren Monaten, aber ich lese Bücher über die Geschichte und die Kultur der Azteken und anderen indigenen Kulturen Mesoamerikas bereits seit meiner Kindheit. Nahuatl ist dem Deutschen nicht unähnlich. Es verwendet sehr viele zusammengesetzte Wörter, hat viele graphischen Elemente und ist auch sehr metaphorisch. Ich kann Nahuatl inzwischen ganz gut lesen. Beim Sprechen bereitet mir die Grammatik noch einige Schwierigkeiten.

SB: Wie viele Menschen sprechen heute noch Nahuatl?

FI: Laut der letzten Volkszählung 2015 in Mexiko waren es 1,7 Millionen Muttersprachler. Wenn man bedenkt, daß traditionell ein Großteil der mexikanischen Einwanderer in die USA aus der indigenen Bevölkerung kommt, dann müßte es, grob geschätzt, rund vier Millionen Menschen auf der Welt geben, die heute noch Nahuatl sprechen können.

SB: Was ist Ihrer Meinung nach der größte Unterschied zwischen der Nahuatl-Kultur und der europäischen, zum Beispiel, was ihre jeweiligen Weltbilder und Kosmologien betrifft?

FI: Die mesoamerikanische Sicht auf das Universum unterscheidet sich radikal von derjenigen der europäischen Zivilisation. Für die Azteken stand Schönheit und Eleganz im Mittelpunkt des Lebens. Es ist eine Kultur des Jetzt, der Dichtung, der Musik, der Blumen und des Essens. Ihre Weltsicht basiert auf der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit, auf der Akzeptanz, daß man irgendwann sterben und diese Welt verlassen wird. Ich denke, daß der Ursprung des meisten, was man mit der Lebenseinstellung der Mexikaner verbindet, aus der Nahuatl-Kultur und der Kultur der anderen indigenen Völker kommt.

SB: Unterscheiden sich die indigenen Sprachen sehr voneinander oder sie sind verwandt?

FI: Man schätzt die Anzahl der Sprachen, die auf dem Gebiet des heutigen Mexikos zum Zeitpunkt des Auftauchens der spanischen Eroberer gesprochen wurden, auf 170. Heute sind es nur noch 62. Einige davon haben nur noch wenige Hundert Muttersprachler. Die größeren Sprachfamilien wie Nahuatl, Maya, Zapotek und Mixtek unterscheiden sich mindestens so stark wie etwa die germanischen und die romanischen Sprachen Europas. Vor dem Einfall der Spanier herrschte in Mexoamerika eine ungeheuere Vielfalt der verschiedensten Kulturen und Lebensweisen. Das meiste davon ging in wenigen Jahren zugrunde. Rund 90 Prozent der Bevölkerung wurden ausgerottet, hauptsächlich durch die Pocken, welche die Ureinwohner nicht kannten und denen sie schutzlos ausgeliefert waren. Den Spaniern kam die von ihnen verursachte Seuche gelegen. Sie konnten das ganze Land einsacken und den traumatisierten Überlebenden des Zusammenbruchs der früheren Ordnung ihren Willen aufzwingen. Das war ein beispielloser Völkermord, der lange Zeit rabiat gewütet hat, sich jedoch in abgeschwächter Form bis heute fortsetzt.

SB: Wie konnten die Spanier ein so großes Reich so schnell erobern? Haben Teile der indigenen Eliten die militärische Überlegenheit der Neuankömmlinge erkannt, aus Opportunismus die Seiten gewechselt und die eigenen Untertanen in Stich gelassen? Will heißen, waren die Menschen in Mexoamerika am eigenen Untergang beteiligt?

FI: Gute Frage. Das Argument, der technologische Vorsprung der Spanier sei ausschlaggebend gewesen, leuchtet mir persönlich nicht ein. Zwar hatten sie Pferde - aber am Anfang nur etwa 20 Stück. Ihre Schwerter und ihre Rüstung waren der Waffentechnologie der Azteken weit überlegen, aber das kann nicht die einzige Erklärung des Erfolgs der Spanier sein. Ich glaube, daß Herán Cortez und seine Männer einfach entschlossener und rücksichtsloser waren, als die Menschen im damaligen Mesomerika. In Europa, Spanien eingeschlossen, herrschte zu der Zeit eine ungeheure Not. Sich am Beutezug in der Neuen Welt zu beteiligen war für viele dieser Männer die einzige Chance zu überleben bzw. für die Angehörigen des niederen Adels unter ihnen für den gesellschaftlichen Aufstieg. Sie hatten also nichts zu verlieren und waren daher zu jeder Schandtat fähig. Die Azteken und anderen Völker Mesoamerikas hatten so etwas noch nie erlebt und dem Einfall dieser menschlichen Monstren wenig entgegenzusetzen. Hinzu kommt, daß das Besitzdenken der Spanier den Azteken fremd war. Bis sie endlich kapierten, was die Neuankömmlinge vorhatten, worauf sie aus waren, war es zu spät. Die Azteken haben die Spanier mit Geschenken und großer Gastfreundschaft empfangen, und bevor sie wußten, wie ihnen geschah, waren sie Bettler und Ausgestoßene im eigenen Land. Wo einst weitgehend eine Art Allmende herrschte, entstanden innerhalb kürzester Zeit große Latifundien. Die Spanier wurden zu Großgrundbesitzern und Minenbetreibern, die besiegten Eingeborenen zu ihren Sklaven.

SB: Herzlichen Dank, Fran Ilich, für dieses Interview.


Interviewszene von draußen durchs Fenster aufgenommen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Im Zwiegespräch vertieft
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zum Kampnagel-Festival Kontext Mexiko im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → THEATER → REPORT:

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18. April 2017


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