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INTERVIEW/043: Auflehnung - zuspitzen und stechen ...    Lena Carle und Leila Etheridge im Gespräch (SB)



Tänzerinnen im Vordergrund ermattet umschlungen, dahinter ein Paar am Arm auseinanderzerrend - Foto: © Jakob Schnetz

Widerstreit und Erschöpfung im Ringen um das Nein (Von links:) Lukas Gander, Vasna Aquilar, Pauline Stöhr und Julia Franz Richter
Foto: © Jakob Schnetz

Am 10. Januar 2019 feierte das Stück "Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen" des Regisseurs Henri Hüster seine Premiere im Lichthof Theater in Hamburg-Bahrenfeld. Was das Publikum mit der unmittelbaren Präsenz von Wort und Körper, Klang und Tanz in seinen Bann schlug, war zugleich die Frucht der über Monate gewachsenen Zusammenarbeit eines Teams. Nachdem die SchauspielerInnen im Rampenlicht gestanden hatten, bot sich dem Schattenblick die Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und einige Fragen an die beiden Dramaturginnen Lena Carle und Leila Etheridge zu richten.

Lena Carle studierte Theaterwissenschaft in München und Dramaturgie an der Theaterakademie Hamburg. Für "Irre" nach Rainald Goetz am Lichthof Theater 2016 arbeitete sie zum ersten Mal mit Henri Hüster zusammen. Gemeinsam mit dem Regisseur Jens Blut konzipierte und realisierte sie die musikalische Bühnenshow Obduktion einer Kunstfigur - Klaus Nori im Mai 2018 im Nachtasyl des Thalia Theaters. Seit Januar 2019 arbeitet sie als Dramaturgin am Schauspiel Kiel mit dem Schwerpunkt interdisziplinäre Projekte.

Leila Etheridge studierte Theaterwissenschaft, Literatur, Kultur und Französisch an der Ludwig Maximilians Universität in München und im Rahmen eines Erasmus Stipendiums "Drama and Theatre" an der University of Kent. Während ihres Bachelors hospitierte sie mehrfach an den Münchner Kammerspielen und am Residenztheater. Seit 2016 studiert sie an der HfMT in Hamburg im Masterstudiengang Dramaturgie. Innerhalb des Studiums übernahm sie die Produktionsdramaturgie mehrerer Studienprojekte, arbeitete in der Kulturabteilung des Goethe Instituts San Francisco sowie als Dramaturgieassistentin am Theater Basel.

Schattenblick (SB): Heute abend hat "Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen" eine gelungene Premiere gefeiert. Wie ließe sich das Gefühl in Worte fassen, ein gemeinsames Projekt erfolgreich auf die Bühne gebracht zu haben?

Lena Carle (LC): Ich habe tatsächlich vorhin noch einmal darüber nachgedacht, daß jedes Theaterprojekt auf einer Metaebene wie eine kleine Geburt vonstatten geht. Wie verläuft die Geburt, um in diesem Bild zu bleiben? Das ist immer der spannende Moment, wenn das Kind zur Welt kommt. Jetzt ist das Kind in der Welt, und es stellt sich die Frage, was aus ihm wird. Das hat in diesem Sinn insofern auf zweifache Weise mit dem heutigen Premiereabend zu tun, weil es in diesem Stück ja um Widerstand und Protest geht. Im besten Fall ist eine Revolution ebenfalls wie eine Geburt. Es wird danach etwas Neues entstehen, was auch wieder gut oder schlecht sein kann. Es gibt natürlich nicht nur positive Revolutionen, nach denen sich alles bessert, denn manchmal verhärten sich die Verhältnisse sogar. Ich finde es jedesmal sehr spannend, auf diese Geburt hinzuarbeiten, die in diesem Fall sowohl vom Inhalt her als auch vom Vorgang der Premiere als solcher natürlich mit Emotionen verbunden ist.


Beim Gespräch von vorn - Foto: © 2019 by Schattenblick

Lena Carle
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Läßt sich in einen konkreten Zeitrahmen fassen, wie lange die Arbeit an diesem Stück gedauert hat?

LC: Wann Henri Hüster mit der Arbeit an diesem Konzept begonnen hat, kann er Ihnen selbst am besten beantworten. Es sind indessen Fristen vorgegeben, innerhalb derer man Anträge stellen kann. Er mußte seinen Entwurf vor über einem Jahr im November 2017 einreichen, worauf eine Jury darüber entschied, an wen die Gelder gehen. Im Januar 2018 bekam er dann einen positiven Bescheid. Es folgten Absprachen mit dem Lichthof, wann die Premiere und die weiteren Vorstellungen eingeplant werden können. Daraufhin wußten wir, daß von Mitte November bis Anfang Januar geprobt würde. Normalerweise sind bei Theaterproduktionen sechs Wochen üblich, wir hatten jetzt ungefähr siebeneinhalb Wochen, wobei dazwischen ja auch noch Weihnachten und Neujahr lagen.

SB: Arbeiten Sie jeweils an einem einzigen Stück oder sind Sie parallel mit verschiedene Projekten befaßt?

Leila Etheridge (LE): Ich bin derzeit noch im Studium und arbeite deswegen nur an diesem Projekt. Lena hat das Glück, daß sie seit Anfang des Jahres fest an einem Haus in Kiel ist, und deswegen war sie dann ab Anfang Januar schon weg. Aus diesem Grund haben wir uns die Dramaturgie geteilt, weil es klar war, daß ich ab Januar die gesamte Endprobenzeit allein betreuen würde. Wenn man in der freien Szene ist, arbeitet man meistens jeweils nur an einem Stück. Ist man fest an einem Haus, dann überlappt sich das meistens, weil man in der Regel mehrere Stücke betreut.


Beim Gespräch im Halbprofil - Foto: © 2019 by Schattenblick

Leila Etheridge
Foto: © 2019 by Schattenblick

LC: Wir haben beide sowohl an Häusern Erfahrungen gesammelt als auch viel in der Freien Szene gearbeitet. Wir kennen also beides und sind somit auch mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen vertraut. In der Freien Szene geht es noch mehr darum, vieles selbst zu organisieren, und es gibt nicht so viele Spezialistinnen und Spezialisten für die einzelnen Bereiche um einen herum. Man deckt also oft mehrere Bereiche ab, wohingegen man in den Häusern teilweise eben noch mehr Hintergrundorganisation hat. Da man dort an vielen Sachen gleichzeitig arbeitet, kann man nicht so intensiv bei einem Projekt dabeisein wie in der Freien Szene.

SB: Die Schauspielerinnen und Schauspieler stehen im Rampenlicht. Sie selbst haben als Dramaturginnen am Erfolg dieses Projekts mitgewirkt, werden aber vom Publikum nicht in gleichem Maße wahrgenommen wie die Akteure auf der Bühne. Kann man da ein wenig neidisch werden, wenn vor allem andere den Beifall einheimsen?

LE: Wir haben beide selbst Erfahrungen auf der Bühne gesammelt und uns dann für die Dramaturgie entschieden, womit wir hinter der Bühne stehen. Ich denke, daß wir diese Anerkennung des Publikums nicht brauchen, weil es uns reicht, sie vom Regisseur und von dem gesamten Team zu bekommen, und wir wissen, daß wir an dem gemeinsamen Projekt mitgearbeitet haben. Für mich persönlich ist es einfach schön zu sehen, was daraus geworden ist. Wenn das Premierenpublikum Beifall spendet, gilt er der gesamten Inszenierung, deren Teil wir sind. Selbst wenn man sich nicht vorne verbeugt, ist das in Ordnung.

SB: Wenn man den heutigen Abend aus Zuschauersicht erlebt hat, sieht man ein Team von Menschen, die etwas geschaffen haben und sich über das Gelingen freuen. Ist Dramaturgie ein Traumberuf, in dem man etwas verwirklicht, wie es sonst kaum im Arbeitsleben möglich sein dürfte?

LE: Für mich ist es auf jeden Fall ein Traumberuf. Es kann natürlich sein, daß ich in ein paar Jahren die Schnauze voll habe, wie das bei andern Jobs auch passiert, aber im Moment freue ich mich sehr, daß ich auf diese Weise arbeiten kann. Ich habe lange darauf gewartet und durch mein Studium auf diesen Augenblick hin gearbeitet. Das kann man schon so sagen: Wenn man seine Leidenschaft zum Beruf machen kann, ist es eigentlich das Beste, was es gibt. Und ich denke, das ist bei uns beiden der Fall.

SB: Gibt es im eigenen Leben eine gewisse Veränderung durch die Arbeit an einem solchen Stück, weil man sich doch lange und intensiv mit den Inhalten beschäftigt?

LC: Ich finde daran spannend, daß man sich permanent mit verschiedenen Themen beschäftigt und mit allem, was um einen herum passiert, auseinandersetzt. Gleichzeitig ist Theater natürlich auch eine Art Blase, weil man zusammen in dunkle Räume geht und sich abschottet, aber ohne deshalb darauf zu verzichten, sich gleichzeitig mit der Welt um einen herum zu befassen. Dieses Paradoxon beobachte ich immer wieder, daß man gleichzeitig an einem bestimmten Projekt arbeitet und sich abschottet, weil man den intimen Raum, in dem man zusammenarbeitet, auch braucht, aber zugleich mit den großen Themen da draußen permanent beschäftigt ist. Das finde ich immer wieder faszinierend, weil Theater für mich persönlich bedeutet, sich auf den Augenblick zu konzentrieren. Ich kenne es von mir selber, daß man oft zerstreut ist und überlegt, was eigentlich gestern war oder was man als nächstes und übernächstes tun muß. Theater hingegen zwingt zur Gegenwart, zum Augenblick. Das ist für mich ein gutes Training, die Konzentration zu stärken und immer wieder aufgefordert zu werden, im Moment zu sein.

LE: Man beschäftigt sich immer wieder mit neuen Inhalten, die man zuvor nicht kannte, oder liest sich viel tiefer ein, als es im Alltag möglich ist. Natürlich nimmt man da etwas mit. In jeder Inszenierung steckt ein Gedanke, ein Anstoß, eine Diskussion, die man mitnimmt. Das ist einer der Gründe, warum ich mich für Dramaturgie entschieden habe, weil ich mich auf diese Weise mit so vielen unterschiedlichen Themen auseinandersetze, die wichtig sind. Wenn man so eine Inszenierung zum Neinsagen macht, fragt man sich natürlich während der ganzen Probenzeit schon, wann sage ich eigentlich nein? Wo liegt bei mir die Schwierigkeit, nein zu sagen? Man nimmt das mit in den Alltag, es ist im Hintergrund immer präsent.

LC: Genau. Diese Beschäftigung mit vielfältigen Bereichen ist das Tollste an dieser Arbeit. Man kann sich in alles mögliche einlesen, beschäftigt sich mit so vielen verschiedenen Dingen und hat die Chance, mit allen erdenklichen Themen zu arbeiten.

SB: Wir haben heute abend vier verschiedene Stücke in einem Gesamtrahmen gesehen. Ist das richtig?

LC: Vom Text her vielleicht sogar noch mehr.

SB: Ich habe angesichts der Ankündigung vier Teile erwartet, die man klar voneinander unterscheiden kann, und war angenehm überrascht, als mich der Fluß, noch ehe ich es recht bemerkte, längst zum nächsten Schauplatz weitergetragen hatte.

LC: Es war von Anfang an die Idee zusammenzutragen, was es für Textbausteine zum Thema "nein" gibt. Man könnte natürlich auch sagen, ich sehe das Nein nur in einem Stück und beschränke mich auf diesen Zugang. Oder ich könnte sagen, ich kenne eine Autorin oder ein Autor, der mir etwas Tolles zu diesem Thema schreibt, und dann ist es in einem Guß. Doch Henri Hüster hatte von vornherein die Vision, daß es verschiedene Textelemente sein sollen, die er in einer Collagetechnik zusammenbindet. Wir haben ihn beide darin unterstützt, Texte zu finden, auszuwählen, und da hat sich viel noch im Probenprozeß ergeben von der Abfolge her und dann auch, welcher Text doch nicht verwendet wird, weil er nicht das Richtige erzählt oder etwas, das wir nicht möchten oder weil er zu lang wäre oder an der betreffenden Stelle nicht paßt. Und so formt sich das dann. Durch den Probenprozeß werden diese Texte gewissermaßen noch einmal gefiltert.

SB: Es war mit Sicherheit kein Theater, bei dem das Publikum einschläft, im Gegenteil. Durch die Mischung verschiedener Elemente und Momente wurde man nie durch Langatmigkeit überfordert, sondern immer wieder angeregt. Könnte man sagen, daß es Theater - nicht nur - aber doch insbesondere für ein jüngeres Publikum ist?

LE: Wie Henri Hüster immer wieder während des Probenprozesses betont hat, ist die Schwierigkeit, nein zu sagen, etwas, das unsere etwas jüngere Generation in besonderem Maße betrifft, weil wir es nie wirklich gelernt haben. Wir sind nicht die 68er Generation der Studentenrevolte, die sich gegen die Eltern gewehrt hat, denn wir sind mit relativ liberalen Eltern aufgewachsen. Deshalb gab es für uns nichts, wogegen wir wirklich mal nein gesagt haben, und deshalb spricht uns das jetzt auch an, weil es momentan sehr viele Themen gibt, bei denen man nein sagen sollte. Aber wir wissen gar nicht so recht, wie man rebelliert. Und deswegen ist es vor allem auch ein Stück für unsere Generation. Es spricht uns an, weil wir mit dieser Schwierigkeit in unserem eigenen Leben konfrontiert sind.

LC: Gleichzeitig habe ich das Gefühl, daß die Generation, von der man gerne als Generation Y spricht, also irgendwo zwischen 1980 und 2000 geboren, sehr wohl wieder auf die Straße geht und lernt, nein zu sagen. Es gibt gegenwärtig überall Proteste, angefangen von Lateinamerika über Frankreich neben unserer Haustür, in vielen arabischstämmigen Ländern formiert sich Protest, auch in Afrika gehen Oppositionelle auf die Straße. Während wir uns mit dem Stück beschäftigt haben, war es sehr spannend zu sehen, daß junge Leute gerade wieder lernen, zu Dingen nein zu sagen.

LE: Auch in Hamburg hat man das in der letzten Zeit gemerkt wie im vergangenen Jahr während der G20-Proteste. Wir haben im Gängeviertel geprobt, was uns allen ein gewisses Feeling mitgegeben hat.

LC: Wobei man sagen muß, daß Hamburg immer schon ein starker Ort fürs Neinsagen war. Es hat als Stadt eine Historie, mit der wir uns auch beschäftigt haben, von der Besetzung der Hafenstraße über die Gründung der Roten Flora bis hin in die Gegenwart. Hier ist ein Ort, an dem das Nein immer schon sehr präsent war und nie ganz verlorengegangen ist. Ich habe das Gefühl, daß es sich durch die 68er gehalten hat und nie völlig verschwunden ist wie in anderen deutschen Städten. Hamburg ist ein besonderer Ort fürs Nein, weil es hier auf eine gewisse Weise immer gegenwärtiger war als anderswo ...

LE: ... und immer noch ist.

LC: Genau!

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.


Plakat zur Aufführung - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → THEATER → REPORT zu der Aufführung "Versuch über die Schwiergkeit nein zu sagen" am Lichthof Theater in Hamburg erschienen:

BERICHT/101: Auflehnung - gezieltes Streben ... (SB)
INTERVIEW/042: Auflehnung - wenn nein, was dann ...    Henri Hüster im Gespräch (SB)


15. Januar 2019


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