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HIPPOS/08: Alte Rassen - Unbekannte Urpferderasse in Tibet entdeckt (SB)


RIWOQE - PFERDCHEN

Gefangen im Tal der Bon-pos


Ein Zufall kam den Entdeckern zu Hilfe

Wäre die Expedition des französischen Anthropologen Michel Peissel nicht gewissermaßem buchstäblich im "Schnee steckengeblieben", so lebte das Riwoqe-Pferdchen auch heute noch unentdeckt und unbefangen ob seiner wissenschaftlichen Bedeutung im Tal der Bon-pos wie seit 5000 Jahren. Denn so weit, schätzen die Wissenschaftler, soll die Stammeslinie dieses neuentdeckten Urahns unserer Hauspferde zurückreichen. Ein plötzlicher Wettereinbruch kam seinen Entdeckern zu Hilfe. Und während sie mit Spannung die Auswertung ihrer Funde verfolgen und auf wissenschaftliche Anerkennung hoffen dürfen, mag man sich fragen, was diese Schicksalswendung dem kleinen, zähen tibetischen Urpferd bringen wird.

Ein für Anfang November verfrühter Wintereinbruch im Hochland von Tibet machte die Route unpassierbar, auf der Peissel mit seinem Expeditionstrupp nach Dengquen, zum Ausgangspunkt seiner Forschungsreise, zurückkehren wollte. Angesichts heftiger Hagelstürme und eisiger Winde, die auch ein Verweilen unmöglich machten, entschieden sie sich auf Rat ihrer tibetanischen Führer für einen wenig bekannten und unerforschten Umweg. Der Pfad führte sie über einen 5000 Meter hohen Paß in ein kleines Gebirgstal, das auf keiner Landkarte verzeichnet war - ein echtes Abenteuer also. Doch keiner der Expeditionsmitglieder hatte mit dem gerechnet, was sie schließlich erwarten sollte.

Sie fühlten sich regelrecht in die Steinzeit versetzt, denn sie fanden hier, mitten in der tundrischen Öde, eine winterliche Oase vor: unberührte Wälder und schneebedeckte Weidegründe mit einer ungewöhnlichen Vegetation aus riesigen Birken, Weiden und Nadelhölzern. Einzigartig auch die Tierwelt in diesem natürlich geschützten Reservat.

Was den Eindruck, in die Steinzeit versetzt zu sein, jedoch vervollkommnete, war die Begegnung mit dem Riwoqe-Pferdchen. Vorgeschichtliche Höhlenzeichnungen, wie man sie im Solutré findet, schienen plötzlich lebendig geworden zu sein.

Neben bekannten, doch vom Aussterben bedrohten Tierarten wie Affen von der Gattung der Makaken oder den auch nur noch im Zoo zu findenden Weißlippenhirschen entdeckten sie ein ponygroßes, beigefarbenes Pferd, das sie, laut Peissel, im ersten Moment für eine Mißgeburt hielten, da es den besagten Höhlenbildern derart ähnlich sah. Später, als sie dann auf eine ganze Herde dieser seltsamen Urpferdchen stießen, mußten sie ihren ersten Eindruck revidieren und erkennen, daß sie wahrscheinlich eine große Entdeckung gemacht hatten. Die Forscher versprechen sich von dem Riwoqe-Pferd, wie Peissel das tibetische Huftier nach der Region benannte, in der er es antraf, ein wichtiges Verbindungsstück im Puzzle der hippologischen Evolution, die ja auch heute noch viele Lücken und offene Fragen aufweist. Eine erste Blutprobe, die man einem der Tiere nach etlichen Mühen entnehmen konnte - Riwoqe- Pferde lassen sich nicht so einfach von ungeschickten Europäern einfangen - soll ihm nun einen Platz im hippologischen Stammbaum anweisen und die entsprechende Lücke füllen.

Doch wie wir uns unschwer erinnern werden, wurde das gleiche auch schon von dem Przewalski-Pferd behauptet, das - nach Art wie seinerzeits Entdeckungen gemacht und dokumentiert wurden - anno 1878 dem polnischen Entdeckungsreisenden Nikolai Przewalski in der Mongolei vor die Flinte lief und zur wissenschaftlichen Untersuchung am Zarenhof ausgestopft wurde. Seither trägt diese Pferdeart den Namen seines ersten wissenschaftlichen Erlegers und hat mehr zur stammesgeschichtlichen Verwirrung beigetragen, als jedes andere Pferd [Mehr dazu siehe HIPPOS/06: Equus prezwalskii - das letzte Wildpferd in Gefangenschaft].

Peissel selbst war auf dieser Expedition einem anderem Pferde- Urahn auf der Spur, der dem Wissenschaftler schon 1993 bei seiner vorletzten Reise nach Tibet begegnet war. Gemeint ist das Nangchen-Pferd, ebenfalls nach der Region seiner Weidegebiete benannt. Bei diesem Pferd hat man größere Lungen und ein stärkeres Herz gefunden, als bei anderen bekannten Rassen im Tibetgebiet. Deshalb ist es besonders für westliche Rennpferdezüchter interessant geworden. Das Nangchen-Pferd weist jedoch auch in seinem Exterieur keine Gemeinsamkeiten mit dem neuentdeckten Urpferd auf.

Das Riwoqe-Pferd erscheint noch primitiver als das Przewalski- Pferd und ähnelt äußerlich exakt den prähistorischen Höhlenbildnissen mit seiner eckigen Kopfform, kurzer Bürstenmähne, Fellfärbung und Aalstrich. Die Forscher hoffen, daß es sich hierbei tatsächlich um einen Urahn handelt, der in direkter Verwandschaft mit dem Urpferd der Steinzeit steht.

Warum sich diese alte Rasse ausgerechnet in diesem Tal erhalten konnte, während es sich sonst auf seinen Streifzügen beständig mit domestizierten Tieren, Tapiren oder anderen frühen Urpferdestämmen vermischte, meint ein Teilnehmer der Expedition und Tiermediziner am Pferdeforschungszentrum in Newmarket, England, Ignasi Casas, plausibel erklären zu können:

Für die Riwoqe-Herden sei es unmöglich, das schützende Tal zu verlassen, meint er. Auf den hohen Pässen, die sie dazu überqueren müßten, gibt es kein Gras, um die lange Wanderung zu überleben. Paradoxerweise hat also ein Naturgefängnis, bei dem ein Ausbruch die Todesstrafe zur Folge hat, das aber auch unerwünschte Eindringlinge zurückhält, für die Freiheit, Unabhängigkeit und damit für das Überleben der Riwoqe-Pferdchen gesorgt.

Bisher haben die kleinen Urpferde, die sich auch einen Großteil ihres Fluchtinstinkts erhalten haben (s.o.) wenig zu befürchten. Nur wenige Angehörige des Bon-po-Volkes besiedeln das Tal, die hin und wieder, und auch nur, wenn es unbedingt nötig ist, eines der kräftigen Urponies für ihre Zwecke mit dem Lasso einfangen. Nach getaner Arbeit werden die Tiere jedoch sofort wieder sich selbst überlassen.

Hoffen wir, daß es auch in Zukunft so bleibt, und sich ihr Leben durch die neu errungene wissenschaftliche Bedeutung nicht wesentlich ändert.

Erstveröffentlichung 1995

13. November 2007