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BERICHT/003: Fortschrittsfluch Tierversuch - Laborstopp in Hamburg und anderswo (SB)


Bericht zur Demonstration der Kampagne "LPT schliessen!" am 29. Juni 2013 in Hamburg Neugraben



"Man kann ja doch nichts dagegen machen", sagt eine ältere Teilnehmerin der Demonstration "LPT schliessen!". Allein ihre Anwesenheit auf dem Protestmarsch in Hamburg Neugraben, der sich in wenigen Augenblicken in Bewegung setzt, und das Schild mit der Aufschrift "Keine Tierversuche!", das sie als Ausdruck ihrer entschiedenen Ablehnung des Tierversuchslabors LPT (Laboratory of Pharmacology and Toxicology) in der Hand hält, widerlegt den resignativen Ton ihrer Aussage. In dieser drückt sich jedoch die Verzweiflung über die ungeheure Tierausbeutung aus, der die rund 350 Personen am 29. Juni 2013 mit ihrer Demonstration von der S-Bahnstation Neuwiedenthal zum LPT-Firmengelände am Neugrabener Redderweg entgegentreten. Es soll Öffentlichkeit hergestellt werden für das, was tagtäglich auf dem umzäunten und mit Stacheldraht geschützten Gelände geschieht.

Von Polizeifahrzeugen begleiteter Protestmarsch vor einer Kreuzung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wegschauen nicht mehr möglich - Lautstarke Demonstration gegen Tierversuche
Foto: © 2013 by Schattenblick

Eigenen Angaben zufolge führt LPT [1] im Auftrag der pharmazeutischen, chemischen, agro- und lebensmittelchemischen Industrie Experimente an Tieren durch. In dieser Anlage, die zu den größten ihrer Art in Deutschland gehört, werden Mäuse, Ratten, Hamster, Meerschweinchen, Kaninchen, Hunde, Affen, Katzen, Schweine, Fische und Vögel als "Testobjekte" benutzt. Das heißt, die Tiere werden je nach Auftrag zunächst mit den zu untersuchenden Substanzen malträtiert und nach Abschluß der Versuchsreihen "entsorgt". So lautete einer der Vorwürfe, die auf dem Demonstrationszug gegen die Betreiber des Labors für Pharmazie und Toxikologie erhoben wurden: Kein Tier verläßt diese Anlage lebend.

In Anlehnung an diesen Slogan spielte Kampagnensprecherin Martina Kunze mit der Aussage, "kein Tier wird hier zu Tode gestreichelt", in ihrer Eröffnungsansprache auf die tierquälerischen Machenschaften hinter den verschlossenen Labortüren an. Sie und viele andere Mitstreiterinnen und Mitstreiter betonen, daß es sich bei Tieren um empfindsame Wesen handelt, die genauso wie Menschen Schmerz und Leid erfahren können. Deshalb wird in der Tierrechtsbewegung auch von Folter und Mord an Tieren gesprochen.

Die Tierversuchsforschung unterscheidet jedoch zwischen Tier und Mensch. Eine Ansicht, der nur in einer Hinsicht zuzustimmen ist: Die Ausbeutung verläuft stets in eine Richtung, von Mensch zu Tier, niemals umgekehrt.

Wer dagegen behauptet, daß die Tiere bei den Experimenten keinen Schmerz empfinden, ignoriert wissenschaftliche Forschungserkenntnisse. Wer zu beschwichtigen versucht und erklärt, daß einige Tiere beispielsweise vor der "Entsorgung" betäubt, mithin sanft eingeschläfert werden, bestätigt damit nicht nur die prinzipielle Empfindsamkeit der tierlichen Wesen, sondern er ignoriert ebenfalls Forschungsresultate, denen zufolge animalische Organismen auch unter Betäubung eindeutige neuronale Schmerzreaktionen zeigen.

Demoplakat mit Fotos von eingesperrten Beagles - Foto: © 2013 by Schattenblick

Bloß empfindungslose Maschinen? Warum muß man sie dann einsperren?
Foto: © 2013 by Schattenblick

Im übrigen bedarf es ganz gewiß keiner Tierversuche, um feststellen zu können, daß Tiere leiden. Selbstverständlich tun sie das, allein schon dadurch, daß sie eingesperrt sind. Und sie leiden um so mehr, wenn ihnen dann auch noch Sonden durch sämtliche Körperöffnungen geschoben werden, um ihnen beispielsweise ätzende Substanzen einzuflößen, wenn sie giftige Gase einatmen müssen, wenn ihnen Fremdsubstanzen unter die Haut gespritzt, ins Auge geträufelt oder ins Futter gemischt werden. Zudem werden Versuchstiere absichtlich mit Krebs oder anderen Krankheiten gezüchtet, damit an ihnen Medikamente getestet werden können.

Im LPT werden vor allem Giftigkeitsstudien durchgeführt, soweit man das von außen beurteilen kann. Wenn beispielsweise eine Pharmafirma einen neuen, aus ihrer Sicht "vielversprechenden" [2] Wirkstoff entdeckt hat, müssen Forscher in den Versuchslaboren irgendwann die Grenze feststellen, ab wann dieser Stoff tödlich giftig ist. Folglich wird die verabreichte Dosis so weit erhöht, bis das sogenannte Versuchstier stirbt. Anders kann man die tödliche, das heißt letale Dosis (LD) nicht bestimmen. Auf der Internetseite des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin in Hannover, das eng mit dem LPT zusammenarbeitet, läßt sich das in verklausulierter Form unter dem Titel "Ein langer Weg zum neuen Medikament" nachlesen:

"Zunächst müssen Wirkstoffe als mögliche Arzneimittel-Kandidaten erkannt werden. Sind diese gefunden, werden sie zunächst in vitro, das heißt in Zell- oder Organkulturen, auf ihre Wirkungen und Nebenwirkungen untersucht. Im Anschluss daran muss nachgewiesen werden, dass die Arzneimittel-Kandidaten auch in einem kompletten Organismus wirken. In diesen so genannten präklinischen Untersuchungen muss in Tierversuchen auch festgestellt werden, ab welcher Dosis der Arzneimittel-Kandidat wirksam oder toxisch ist. Daraus ergibt sich, ob er überhaupt für eine Behandlung von Patienten geeignet ist. Bis zu diesem Punkt der Medikamentenentwicklung vergehen etwa drei Jahre und die allermeisten potenziellen Arzneimittel-Kandidaten scheiden hier bereits aus. Für die Wirkstoff-Kandidaten, die nach diesen ersten Prüfungen noch im Rennen sind, muss nun sichergestellt werden, dass die Substanz als Medikament für den Menschen geeignet ist." [3]

Nicht nur die potentiellen Arzneimittel-Kandidaten scheiden aus, sondern auch die Tiere, die bei diesem Vorgang benutzt und umgebracht werden. Sie sind ebenfalls "aus dem Rennen". Ob Hustensaft, Kopfschmerztablette, nano-beschichtete Outdoor-Kleidung, Kinderspielzeug, Waschmittel, Sonnenschutzcreme oder Kosmetik [4]: die Zahl an Produkten, für deren Verträglichkeitsprüfung möglicherweise Tiere getötet wurden, ist unüberschaubar lang. Die Durchführung von Giftigkeitstests bzw. fachsprachlich Toxizitätsstudien bildet einen gewaltigen Markt, angesiedelt im Dunstkreis privater und staatlicher, universitärer und außeruniversitärer Forschung und weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschottet, wie hier in einem bürgerlichen Wohnviertel Hamburg-Neugrabens.

Demonstration durch bürgerliche Wohnsiedlung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ruhestörung - im besten Sinne des Wortes
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Betreiber der Tierversuchslabore scheinen die Öffentlichkeit zu scheuen. So unterhält LPT zwar eine eigene Internetseite [1], aber dort werden hauptsächlich kategorische Angaben zu Tiergruppen und Methoden gemacht. Wofür diese stehen, bleibt im dunkeln. Das verwundert natürlich nicht, könnten doch genauere Schilderungen der Tierversuche wie beispielsweise "über zuvor in den Schädel eingepflanzte Führungskanülen werden verschiedene Substanzen in das Gehirn geleitet. Danach werden die Tiere getötet" [5] oder gar die Abbildung von wehrlosen Tieren, die angeblich "für die Menschheit" ihre Gesundheit und ihr Leben lassen, viele Menschen verstören und sie womöglich Fragen aufwerfen lassen, bei denen Tierversuche allgemein, aber auch die dahinterstehende industrielle Infrastruktur und nicht zuletzt das auf Erkenntnissen aus Tierversuchen gegründete Lehrgebäude eines medizinischen Reparaturbetriebs auf den Prüfstand käme.

Tierversuche sind ein lukratives Geschäft, an dem nicht nur Vivisektoren und Vivisektorinnen verdienen, sagte Martina Kunze von der Kampagne LPT schliessen! in ihrer Ansprache. Tierzuchtkonzerne, Transportgesellschaften, Laborbedarfshersteller und andere Zulieferbetriebe und Branchen wie die Pharmaindustrie verdienten "am Gewaltsystem Tierversuch". Dabei stehe nicht die Heilung von Menschen im Mittelpunkt, "sondern die Erwirtschaftung von Profit".

Die Tierverbrauchsforschung bildet in Deutschland eine netzwerkartige Struktur, die sich über das gesamte Bundesgebiet gelegt hat (und selbstverständlich vor Staatsgrenzen nicht haltmacht), mit einigen Kulminationspunkten in Städten wie München, Berlin, Tübingen und Hannover. Die "Datenbank Tierversuche" [6] listet für Deutschland rund 90 Städte als "Hochburgen" für Tierversuche auf, zu denen 3669 Datenbankeinträge vorliegen. Allein für Hamburg werden zwölf Einrichtungen genannt, an denen mit Tieren experimentiert wird, wobei die größte Institution unter ihnen, das Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE), wiederum 39 einzelne Institute einschließt, an denen jeweils Tierversuche durchgeführt werden. Und von der Datenbank werden längst nicht alle Einrichtungen dieser Art erfaßt; die Dunkelziffer der Tierverbrauchsforschung liegt um einiges höher.

Breites Banner mit der Aufschrift 'Tiere sind nicht für uns da. Speziezismus beenden! Schluss mit der Herrschaft der Spezies Mensch!' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Tieren eine Stimme geben
Foto: © 2013 by Schattenblick

Im gesamten Bundesgebiet gibt es jedoch nur wenige so große Anlagen wie das LPT, in denen seit mehreren Jahrzehnten Auftragsarbeit geleistet wird. Laut der Internetseite statista wurden im Jahr 2011 in Deutschland rund 2,9 Millionen "Versuchstiere" verbraucht. [7] Die Kampagne gegen Tierversuche ist somit zugleich eine Kampagne gegen eine milliardenschwere Branche. Dementsprechend scheinen die Erfolgsaussichten gering. Der Gegner - hier: das Versuchslabor LPT -, mit dem es die Tierrechtlerinnen und Tierrechtler aufnehmen wollen, dürfte schwer dazu zu bewegen sein, von der Tierausbeutung abzulassen.

Hinter ihm steht ein noch mächtigerer Gegner, nämlich die gesamte Pharma- und Chemieindustrie, zu denen die Tierlabore als deren Auftragnehmer in unmittelbarer Abhängigkeit stehen. Dieser Komplex der Tierausbeutung wird unausgesprochen legitimiert durch die noch umfassendere Monstrosität der gesellschaftlichen Tierverwertung, also auch durch Tierzucht, Viehhaltung und Schlachtfabriken, mithin den Verzehr von tierischen "Produkten" durch die große Bevölkerungsmehrheit. Hätte man gedacht, daß sich die Größe der Aufgabe nicht noch steigern ließe, dann wird man eines Besseren belehrt, wenn man feststellt, daß die Aktivistinnen und Aktivisten der Kampagne einen herrschaftskritischen Bogen schlagen und die Gewaltverhältnisse in der ganzen Gesellschaft aufs Korn nehmen. So antwortete ein junger Vater auf die Frage, was ihn bewegt habe, an der Demonstration gegen das LPT teilzunehmen:

"Ich will für eine gesellschaftliche Veränderung kämpfen, um das Unterdrückungsverhältnis der Tiere durch die Menschen zu beenden. Das betrifft nicht nur die Ausbeutung der nichtmenschlichen Tiere, sondern auch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. (...) Mir geht es darum, daß durch die menschliche Herrschaft über die gesamte Natur fühlende Wesen zu Objekten, zu Waren gemacht werden, ähnlich wie Menschen, aber bei Tieren manifestieren sich die Ketten, Käfige und die Folterinstrumente noch viel deutlicher (...) Die Ausbeutung von Tieren ist ein Unterdrückungsmechanismus von vielen, die miteinander aufeinander wirken. Herrschaft bedingt diese ganzen Unterdrückungsmechanismen."

Diese Stellungnahme deckt sich im Prinzip mit der Erklärung Kunzes, daß die Kritik der LPT schliessen!-Kampagne "dezidiert eingebettet ist in eine generelle Kritik an der Gewalt an Tieren", die in dieser Gesellschaft ein unaussprechliches Maß erreicht habe. Tierversuche seien daher nur eine Ausprägung eines allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Problems. Eine Demonstrationsteilnehmerin, die sich als Birgit vorstellte, erklärte ebenfalls:

"Heute sind wir ja hier, um gegen Tierversuche zu protestieren. Für mich könnte es genausogut gegen Menschenhandel, gegen Kinderschänder, gegen Tierquälerei sein. Das ist mir völlig egal, weil ich denke, das sind alles Symptome ein und derselben Ursache, die wir in unserer Gesellschaft haben, nämlich einfach einen mangelnden Respekt vor dem Leben. Einen mangelnden Respekt vor dem menschlichen Leben, vor dem tierischen Leben und entsprechend auch vor der Umwelt. Das hängt alles zusammen, und man kann nicht eins nur bekämpfen oder verändern, ohne die anderen auch zu verändern."

Ein Demonstrationsteilnehmer namens Konrad engagiert sich ebenfalls "gegen die Ausbeutung von Tieren in unterschiedlichen Bereichen, nicht nur in Tierversuchen, sondern auch in der Nahrungsmittelindustrie, wenn sie Tiere für Fleisch töten, oder auch Pelzindustrie, wenn es um Kleidung oder ähnliche Sachen geht". Es ginge hier beim LPT um Profitinteressen, nicht um die Bedürfnisse von Menschen und nicht um die Bedürfnisse von Tieren: "Wenn man möchte, daß deren Bedürfnisse mehr berücksichtigt werden, hieße das, daß dieser Bereich unter öffentliche Kontrolle gestellt wird." Wie die perfekte Gesellschaft dann aussehen soll, sei natürlich noch die Frage. Ihm ginge es im Einklang mit der Tierrechtsbewegung keinesfalls um eine bloße Reform, also nicht um größere Käfige für Tiere.

Breites Banner mit der Aufschrift 'Kill Capitalism - Not Animals' und 'Für die Freiheit und das Leben - Tiere sind keine Ware' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Klare Ansage gegen Kapitalismus und Tierverwertung
Foto: © 2013 by Schattenblick

Johannes B. aus Stade, der schon in den achtziger und neunziger Jahren im Tierschutz aktiv war, aber gegenüber dem Schattenblick "gar nicht so genau sagen" wollte, woran er damals teilgenommen hat, schien den Aufmarsch der Demonstrierenden zunächst vom Rand her, mit einem Becher dampfenden Kaffees in der Hand, beobachten zu wollen. Er hatte in der Zeitung von der Demonstration gelesen und war deshalb hierhergefahren. "Ich fürchte, das ganze ist nicht durchsetzungsfähig", verlieh er seinen Bedenken Ausdruck. Das alles müsse viel größer aufgezogen werden. Aber: "Mich interessiert schon, wenn Leute dagegen protestieren." Später sah man ihn, wie er weit vorne im Protestmarsch mitging und heftig eine Tierrechtler-Fahne schwenkte.

Eine ältere Frau, die ihren Namen nicht nennen wollte, war schon mal mit dem Fahrrad an "dem Labor" vorbeigefahren. Dort sei alles "abgeriegelt" gewesen, berichtete sie. Sie könne es gar nicht mit ansehen und schalte immer die Fernsehsendung ab, wenn dort "so etwas Schlimmes" - sie meinte damit Tierquälereien - gezeigt werde. Als "abgeschottet" bezeichnete auch der Anwohner Wolfgang L. das Tierversuchslabor. Tiere zu quälen sei seiner Meinung nach nicht zu rechtfertigen. Und Sylvie aus Hamburg-Farmsen stellte fest: "Tierquälerei und Tierversuche tun nicht not."

Ähnlich sieht das Ursula F. aus Ahrensburg, die sich dem Verein für Tierrechte angeschlossen hat. Ein Tier ist ein Lebewesen, und einem Lebewesen dürfe man keinen Schmerz zufügen, brachte sie ihre Ansicht auf den Punkt. Ein weiterer Demonstrationsteilnehmer bekannte: "Für mich sind Tiere gleichwertige Partner, und Tierversuche sind für mich, als wenn das auch an Menschen passieren würde." Mit den Worten der Kampagnensprecherin Kunze vernahm sich das so: "Uns geht es nicht nur um die Befreiung von Tieren aus Versuchslaboren, sondern um die Befreiung der Tiere aus einem Herrschaftsverhältnis!"

Demonstrant mit schwarz-weißem Mops - Foto: © 2013 by Schattenblick

'Tierversuche sind einfach 'ne absolut üble Sache.' (Andy aus Hamburg)
Foto: © 2013 by Schattenblick

Man werde mit dem LPT-Betreiber, der Familie Leuschner, sicherlich keine Einigung erzielen, sagte Mitorganisator Stefan Zillner in seiner per Megaphon verbreiteten Ansprache vor dem abgeschotteten Firmengelände. Deshalb sei es notwendig, "das Labor öffentlich zu machen und ökonomisch unter Druck zu setzen". Tierversuchslabore und alle anderen Unternehmen, die Gewalt an Tieren professionell durchführen, müßten aus der Anonymität gezogen und sichtbar gemacht werden.

Die Aufgabe, die sich die Tierrechtsorganisationen mit ihrer Kooperation zur Kampagne LPT schliessen! vorgenommen haben, ist auch deshalb riesig, weil viele Menschen von ganz anderen Interessen, als sich für die Befreiung von Tiere einzusetzen, umgetrieben werden. Zur gleichen Zeit, als jene rund 350 Personen im südwestlichen Hamburg gegen das Quälen und Töten von Tieren demonstrierten, nahmen ebenfalls in Hamburg 350.000 Menschen, also die tausendfache Menge, auf dem Kiez in St. Pauli am Hossa-Hossa!-Schlagermove teil, um in Schlaghosen, Plateauschuhen und anderen 70er-Jahre-Klamotten abzufeiern. [8]

Aber geringe Mobilisierungszahlen haben die Tierrechtlerinnen und Tierrechtler noch nie davon abgehalten, ihre Absichten zu verfolgen. Die Demonstrationen am Samstag vor dem LPT-Hauptquartier und am Sonntag vor dem Aufzucht- und Versuchslabor des LPT in Mienenbüttel, Neu Wulmstorf, sollen laut dem Organisationsteam der Auftakt einer Kampagne sein, die erst mit dem Schließen des Labors enden soll.

Für die, die womöglich aufgrund der überwältigenden Herausforderung dieses Ziels Verzagtheit verspüren, hatte der aus Italien angereiste Lorenzo Loprete ermutigende Worte im Gepäck. Vor den Toren des LPT berichtete er von den sehr erfolgreichen Tierbefreiungsaktionen der Green Hill-Kampagne in seiner Heimat und einer enormen Massenmobilisierung gegen Tierversuchslabore, in denen Hunde vernutzt wurden. Später am Abend, im Anschluß an seinen Vortrag im Café Knallhart auf dem Uni-Campus in Hamburg, sagte er gegenüber den SB-Redakteuren, daß Hunde in Italien einen sehr weitreichenden Schutz genössen, was auch auf ihre Kampagne zurückginge. (Wir werden auf den Vortrag Lorenzo Lopretes in einem gesonderten Beitrag näher eingehen.)

Protestierende vor dem Gittertor des LPT-Firmengeländes - Foto: © 2013 by Schattenblick

Tierversuchslabore aus der Anonymität holen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das LPT war schon in den achtziger Jahren Ziel von Protesten. 1981 hatten Aktivistinnen und Aktivisten 48 und im Jahr darauf 55 Beagles aus der Mienenbütteler Aufzuchtanlage befreit. Ende der 90er Jahre kam es zu weiteren Aktionen. Und wenngleich in den Augen der Tierbefreierinnen und -befreier (und zweifellos denen der befreiten Tiere) jedes einzelne vor dem Tod bewahrte Wesen als Erfolg zu bezeichnen ist, verfolgt die LPT schliessen!-Kampagne eine übergreifende politische Stoßrichtung. Demo-Sprecherin Martina Kunze in ihrer Ansprache vor dem Start des Protestmarsches:

"Für die Kampagne LPT schliessen! liegt das Problem vielmehr in der Wissenschaftspolitik beziehungsweise Forschungsethik, die den Tierversuchen zugrunde liegt. Wie kann es sein, daß eine moderne Wissenschaft noch immer auf millionenfacher Tötung und Gewaltanwendung basiert? Die Kampagne LPT schliessen! fordert daher die Etablierung einer eindeutigen Forschungsethik, die die absichtsvolle Verletzung fühlender Wesen untersagt. Es muß zu den ethischen Grundlagen wissenschaftlicher Forschung gehören, daß sie keine Opfer produziert."

Doch Tierbefreierinnen und -befreier haben keine Lobby in der Gesellschaft. Weder haben sie eine politische Partei im Rücken noch eine der großen Umweltorganisationen noch eine andere einflußreiche gesellschaftliche Gruppe. Sie, die mindestens eine vegetarische, meist sogar eine vegane Ernährungsweise bevorzugen - das heißt tierische Produkte in welcher Form auch immer ablehnen -, sind mit ihrem Anliegen alleingestellt und sehen sich oftmals sowohl staatlichen Repressionen ausgesetzt (in den USA und Großbritannien wird gegen Tierbefreierinnen und Tierbefreiern die Terrorismusgesetzgebung zur Anwendung gebracht) als auch einer Diskriminierung in ihrem persönlichen Lebensumfeld.

In ihrer Klasse wurde sie als Spinnerin angesehen, sagte eine 19jährige, die erstmals an einer Demonstration teilnahm, gegenüber dem Schattenblick. Ein anderer Demonstrant erklärte, es werde bereits als Provokation aufgefaßt, wenn man beim Grillen einfach nur kein Fleisch ißt, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Dann werde das Thema einfach von den Noch-Fleisch-essenden-Menschen aufgegriffen. Prompt geriete man dann in eine Verteidigungsposition, pflichtete ihm eine Frau bei, das wiederum werde ihnen als Missionarismus ausgelegt.

Demozug führt an Litfaßsäule mit Werbung für Urlaubsreisen vorbei. Auf der Werbefläche ist ein lässiger Mann mit Sonnenbrille im knallgelben Anzug zu sehen, rechts und links untergehakt zwei Frauen in Bikini, die ihn anhimmeln - Foto: © 2013 by Schattenblick

Befreiung von Tier und Mensch - auch von der vorherrschenden Rollenzuteilung
Foto: © 2013 by Schattenblick

Für die Vision einer Gesellschaft ohne Ausbeutung von Tier und Mensch besteht nicht nur kein gesellschaftlicher Rückhalt, selbst in der Menschheitsgeschichte gibt es dazu keine Vorbilder. Bestenfalls stößt man in Mythen und Legenden oder - in unserem Kulturkreis - religiös überprägten Vorstellungen vom Paradies und einer Welt, in der Löwe und Lamm zusammenleben, auf vage Spuren, kaum mehr als Andeutungen einer Vorstellung von Lebensgemeinschaften, in denen Raub und Ausbeutung von Tier und Mensch zum Versiegen gebracht worden sein könnten.

Die Tierbefreiungsbewegung rüttelt an den Grundfesten der Gesellschaft, die auf die Verwertung von Tieren, sei es in der auf die Spitze getriebenen Form der Versuchslabore und Massentierhaltung oder in Form der vermeintlich harmlosen Zurschaustellung in Zoos, nicht verzichten will. In der heutigen Zeit der sich zuspitzenden globalen Krisen, vom Klima über die Ressourcenversorgung bis zum kapitalistischen Verwertungssystem, verdient das Bemühen, solch einer umfassenden Ausbeutung den Boden zu entziehen, alle Unterstützung. Nicht auszuschließen, daß andernfalls dem Menschen selbst eines Tages die Rolle des Versuchstiers in der evolutionären Entwicklung zukommt; die hat dem organischen Leben schon mehrmals in Verlauf der Erdgeschichte radikale Einschnitte verpaßt.

Wer sich die Befreiung von Tier und Mensch von jeglicher Herrschaft auf die Fahne geschrieben hat und es damit ernst meint, wird womöglich mit der Aussichtslosigkeit seines Anliegens konfrontiert. Dennoch die eigene Absicht nicht aufzugeben, könnte eine Stärke hervorbringen, deren Wirkmächtigkeit gar nicht absehbar ist. Zur Resignation, gar bevor man überhaupt angefangen hat, gibt es keinen Grund. Oder genau umgekehrt: Die Gründe sind vielfältig, aber niemand ist gezwungen, sich von ihnen aufhalten zu lassen.


Fußnoten:

[1] http://www.lpt-pharm-tox.de/home.html

[2] Vielversprechend ist nicht gleichbedeutend damit, daß durch den Wirkstoff voraussichtlich Menschen (oder Tiere) vor schwerer Krankheit geschützt werden, sondern es bedeutet, daß Aussicht besteht, aus dem Stoff ein vermarktungsfähiges Produkt zu machen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Beispielsweise kommt es vor, daß erst die Produkte und anschließend der Markt für sie geschaffen werden, beispielsweise indem neue Krankheitsbilder erfunden werden, so daß plötzlich das Bedürfnis entsteht, ein Verhalten oder ein Phänomen medikamentös behandeln zu müssen.

[3] http://www.atemwegsforschung.de/de/klinische-studien.html

[4] Die Europäische Union hat am 11. März dieses Jahres die letzten Ausnahmeregelungen von der Tierverbrauchsforschung für die Kosmetikindustrie abgeschafft. Dennoch gibt es Schlupflöcher. Wenn zum Beispiel Stoffe getestet werden, die nicht nur in Kosmetika enthalten sind, sondern auch in anderen Produkten, die unter die Chemikalienrichtlinie fallen, darf ihre Verträglichkeit weiterhin an Tieren überprüft werden. Zudem machte der Anteil der Tierversuche in der Kosmetikbranche innerhalb der EU laut der Veterinärmedizinerin Dr. Corina Gericke von der Organisation "Ärzte gegen Tierversuche" nur 0,016 Prozent aus [http://www.lobby-pro-tier.de/lpt2011/2013.107.0.html]. Somit ist das EU-weite Vermarktungsverbot für an Tieren getestete Kosmetika, gemessen an der Gesamtzahl an weiterhin durchgeführten Tierversuchen, nur Kosmetik ...

[5] Aus: Datenbank Tierversuche, Dokument Nr. 8, Versuchsbeschreibung.

[6] http://www.datenbank-tierversuche.de/deutschland/index.php4

[7] http://de.statista.com/themen/1297/tierversuche/

[8] http://www.bild.de/regional/hamburg/schlagermove/das-war-der-hossa-hammer-31052926.bild.html


4. Juli 2013