Schattenblick →INFOPOOL →TIERE → TIERRECHTE

ETHIK/024: Die schlichte Wahrheit (Ingolf Bossenz)


Die schlichte Wahrheit

Von Ingolf Bossenz


Als Ilse Aigner dieser Tage Auskunft geben sollte, ob sie »noch mit Genuss« Hähnchenfleisch esse, war die prompte Antwort: »Ja, keine Frage.« Denn ungeachtet der den Tieren zu Lebzeiten verabreichten Antibiotika werde das Fleisch »ja verarbeitet und erhitzt«.

Die Reaktion der Agrarministerin ist exemplarisch für Einstellung und Verhalten vieler »Verbraucher«. Das verwundert nicht. Schließlich werden Politiker nicht gewählt, um ihren Wählern lieb gewordene Gewohnheiten zu verleiden. Also sollen zweifelhafte Praktiken in der Tier-»Produktion« nicht zu Zweifeln bei den Konsumenten führen oder ihnen gar den Appetit verderben.

Allerdings geht es inzwischen längst nicht mehr nur um die sogenannte Lebensmittelsicherheit, sondern auch um das Leben, das diese »Lebensmittel« vor ihrem gewaltsamen Ableben im Schlachthaus hatten. Und dieses Leben ist für Millionen »Nutztiere« in Deutschland und der Europäischen Union nach wie vor ein erbärmliches. Eine Realität, die zwar von den chromblitzenden Fleischtheken der Supermärkte konterkariert werden soll, die aber über Massenmedien, Organisationen und andere Kanäle in der Öffentlichkeit präsent ist.

Also muss Politik der Öffentlichkeit vermitteln, dass sie etwas tut für den »Tierschutz« beispielsweise der von Frau Aigner so geschätzten Masthähnchen, die bei einem Besatz von bis zu 25 Vögeln pro Quadratmeter im Alter von 32 bis 35 Tagen unters Schlachtmesser kommen.

Die Europäische Kommission hat deshalb diese Woche eine neue, auf vier Jahre angelegte Strategie zur Verbesserung des Tierschutzes in der EU verabschiedet. Darin wabern die Wortnebel von »Optimierung der politischen Kohärenz« und »Markttransparenz innerhalb eines umfassenden Rechtsrahmens für den Tierschutz« über dem eigentlichen Problem, das von der Kommission immerhin genannt wird: Der Markt biete nämlich »keine ausreichenden wirtschaftlichen Anreize zur Einhaltung der Vorschriften«. Im Klartext: Tierschutz schadet dem Profit. An dieser Tatsache wird sich auch in den nächsten vier Jahren (sowie danach) nichts ändern, weil es um das grundlegende moralische Dilemma der herrschenden Schlachthauskultur geht: Ein System, das strukturell auf Elend, Leid und Tod gründet, ist nicht reformierbar. Es ist wie mit der Folter: Erlauben oder abschaffen - ein Dazwischen gibt es nicht. Und solange Fleisch in exorbitantem Ausmaß verzehrt wird, wird es Schlachthäuser und Massentierhaltung mit all ihren hässlichen Begleiterscheinungen geben. »Tieren Leid zuzufügen, ist nicht zulässig«, erklärte Ministerin Aigner. Schön wär's. Wer diesem Diktum folgen will, darf kein Fleisch mehr essen. Eine schlichte Wahrheit. Doch Politiker, die sie aussprechen, gibt es nicht. Nicht in Deutschland, nicht in Europa. Stattdessen wird stolz die Absicht propagiert, die Kastration männlicher Ferkel ohne Betäubung in allen EU-Ländern verbieten zu wollen - ab 2017.

Offenbar funktioniert diese Vertuschungsstrategie, denn die Zahl der Vegetarier und Veganer dümpelt in Europa nach wie vor im einstelligen Prozentbereich - auch wenn Medien bisweilen den Eindruck erwecken, Fleischverzicht gehöre inzwischen zum guten Ton.

Laut einer Prognose der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO wird die weltweite Fleisch-»Produktion« von derzeit rund 228 Millionen Tonnen auf 463 Millionen Tonnen im Jahr 2050 steigen. Tonnen. Die einzelne Kreatur zählt längst nicht mehr in der Gigantomanie dieses Geschäfts, an dem europäische Konzerne bestens verdienen. Allein Deutschland hat die Fleischexporte seit 2001 mehr als verdoppelt. Wer angesichts solcher Entwicklung dem Tierschutz der EU vertraut, mag auch künftig »mit Genuss« Fleisch essen.


Der Autor ist Redakteur des »nd« und schreibt unter anderem zu Themen aus dem Bereich Tierrechte/Tierethik.


*


Quelle:
Ingolf Bossenz, Januar 2012
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 27.01.2012
http://www.neues-deutschland.de/artikel/216708.die-schlichte-wahrheit.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2012