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ETHIK/033: Spitze des Fleischbergs (Ingolf Bossenz)


Spitze des Fleischbergs

Ingolf Bossenz über Europas jüngsten Lebensmittelskandal



Eine Touristenherberge irgendwo in der Slowakei. Ein Ort, an dem zahlungskräftige Kunden ihren ganz speziellen Gelüsten freien Lauf lassen können: Sie misshandeln und töten nach Herzenslust Menschen, die zu diesem Zweck entführt und dort gefangen gehalten werden.

In dem Horrorfilm »Hostel« von 2005 zog der US-amerikanische Regisseur Eli Roth alle Register einer schockierend-realistischen Darstellung. Blutiges Schweinefleisch erwies sich dabei als besonders effektvolles Requisit aus dem Fundus des Schauerlichen. Denn Schopenhauers Idee von der Welt als Wille und Vorstellung hat zweifellos in der Welt der Kunst ihre besondere Domäne. Dabei ist der faktische Anblick, den Roths Film (dem noch Hostel 2 und 3 folgten) zeigt, kaum entsetzlicher, als er sich an der Fleischtheke einer beliebigen Kaufhalle bietet.

Der Mensch sieht, was er denkt und glaubt. Es ist dieser Glaube, der den Kinozuschauer in eine unheilvolle Welt der Gräuel und Schrecken versetzt. Doch er weiß, dass diese Welt nicht real ist. Im Unterschied zu jener Welt, in der die an der Fleischtheke ausliegenden Filets, Schnitzel, Rouladen etc. dem »Verbraucher« als Referenzen eines Prozesses präsentiert werden, der ihm nur noch in dessen blutigen Finalprodukten sichtbar wird. Der Rest ist Schweigen.

Immerhin sind Kenner unter den »Gourmets« noch in der Lage, anhand von Form, Struktur, Farbe und anderen Details tote Teile einem Körper zuzuordnen und das Tier in toto zu benennen.

Doch schon lange hat die abendländische Schlachthauskultur Mittel und Wege gefunden, Tiere in Formen zu bringen, mit denen auch die letzte Erinnerung an ehemals stolze und prachtvolle Kreaturen getilgt wird. Das betrifft Schweine, Rinder, Schafe. Auch Pferde.

Der aktuell Europas Politik, Medien und Konsumenten in Atem haltende Lebensmittelskandal ist sozusagen die Spitze des Fleischbergs, den eine auf industrielle Massenhaltung und -tötung setzende Wirtschaft seit Jahrzehnten mit Milliarden toter Tiere errichtet und dessen Konturen, Bestandteile, Folgen und Gefahren immer weniger erkennbar sind.

Die möglichst rest- und rückstandsfreie Verwertung der gemarterten und massakrierten Leiber sogenannter Nutztiere hat nun zu der bizarren Situation geführt, dass nur noch über kontinentweite Gentests herausgefunden werden kann, welche Tiere im blutigen Brei einer Hackfleisch-Lasagne zwangsvereinigt wurden. Das Fleisch ist willig, wenn alles Leben aus ihm entwichen ist. Der Ungeist, in dessen Namen diese Praktiken inszeniert, akzeptiert und pervertiert werden, ist leider alles andere als schwach. Auch Bundeskriminalamt und Europol, nach denen zu Aufdeckung und Bekämpfung des »Pferdefleischskandals« jetzt gerufen wird, werden diesem Ungeist nicht Einhalt gebieten.

Organisierte Kriminalität? Zweifellos. Aber nicht erst beim Beschicken von Tiefkühlpackungen mit »nicht artgerechten« animalischen Substanzen. Der respektlose und grauenvolle Umgang mit leidensfähigen Wesen, die ausschließlich zum Verwursten und Verhackstücken bestimmt sind, die Etablierung und Akzeptanz dieses Schlachthaussystems hat zu dem Paradox geführt, dass es Jahr für Jahr Milliarden von Opfern gibt, aber keine Täter. Erst wenn der »Verbraucher« selbst zum Opfer dieses Systems geworden ist, werden Fragen nach Schuld und Schuldigen gestellt.

Doch wenn ein paar »Rosstäuscher« dingfest gemacht, die Lasagnen wieder Pferde-frei, nationale Aktionspläne verabschiedet und vielleicht sogar EU-weite »Transparenz-Pässe« für Fleischerzeugnisse eingeführt sind - dann kann weiter nach Herzenslust misshandelt und getötet ... Pardon, die Tier-»Produktion« der EU in den gewohnten, erfolgreichen Bahnen fortgeführt werden.


Der Autor ist Redakteur des »nd« und schreibt unter anderem zu Themen aus dem Bereich Tierrechte/Tierethik.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Februar 2013
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 22.02.2013
http://www.neues-deutschland.de/artikel/813652.spitze-des-fleischbergs.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2013