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INITIATIVE/006: Zur Lage der Tierrechtsentwicklung (tierrechte)


tierrechte 4.16 - Nr. 77, Dezember 2016
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Zur Lage der Tierrechtsentwicklung

Dr. Christiane Baumgartl-Simons


"Nutztierhaltung" und "Tierversuche" sind die Schwergewichte unserer Tierversklavung. Im Schnitt hat jeder von uns am Ende seines Lebens 21000 Tiere gequält und getötet. Doch dieser unmoralische Umgang mit den Tieren steht zunehmend am Pranger. Die Zeit ist reif für eine Wende.


Schleswig-Holsteins Landwirtschaftsminister Robert Habeck und der Philosoph Richard David Precht haben sich klar ausgedrückt: Es gibt keine ethische Rechtfertigung dafür, dass wir Tiere halten und töten, um sie zu essen [1]. Auf dem diesjährigen Symposium der Tönnies Forschung - der Stiftung des größten deutschen Schlachtkonzerns - stellte Schleswig-Holsteins Landwirtschaftsminister Dr. Robert Habeck als einziger die Grundsatzfrage nach der ethischen Rechtfertigung, Tiere zu töten, um sie zu essen. Für Habeck fehlt die ethische Rechtfertigung, denn der Mensch ist auf Fleisch und Tierprodukte nicht angewiesen, um satt zu werden und gesund zu bleiben. Es sind vielmehr rein wirtschaftliche Zwänge, die für Leid und Tod der Tiere in der Landwirtschaft verantwortlich sind. Habeck ist der erste Politiker, der sich so klar positioniert. Noch vor zehn Jahren hätte er sich damit ins politische Abseits manövriert. Heute aber ist unsere Gesellschaft nicht nur reif für diese Position, sie verlangt danach.


• Der Druck im Kessel steigt

Die allermeisten Menschen wollen, dass Tiere geachtet und gut mit ihnen umgegangen wird, so formuliert es der Philosoph Richard David Precht. In den letzten 100 Jahren ist eine gewaltige Sensibilisierung der Menschen für die Tiere eingetreten. In der Praxis, also in Mastställen und Schlachthöfen, geht es aber barbarischer zu als je zuvor. Wie passt das zusammen? Überhaupt nicht. Vielmehr befindet sich unsere Gesellschaft in einem schizophrenen Zustand. Die wahren Politikgestalter sind global operierende Großkonzerne und Landwirtschaftslobbyisten. Gegen sie sind Politiker und Zivilbevölkerung derzeit ohnmächtig. Geändert werden kann diese verheerende Situation nur dadurch, dass Menschen, die das Wohlergehen der Tiere verfolgen, für ihre Tierethik eintreten. Sie dürfen ihr Verhältnis zu Tieren nicht länger als Privatsache betrachten! Nur so steigt - um mit Precht zu sprechen - der "Druck im Kessel". Der zivilgesellschaftliche Antrieb ist zwingend nötig, damit die Tierethik in der Politik Fuß fasst und Landwirtschaftslobbyisten die Stirn geboten wird. Diesen Schluss zieht Precht in seinem Buch "Tiere denken", das er rechtzeitig zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse vorlegte.


• Tierversuche sind keine gute Wissenschaft

Wie fällt die Standortbestimmung für die tierexperimentelle Forschung aus? Die Gemengelage ist deutlich verworrener als beim Fleischverzehr. Hier leben Vegetarier und Veganer bereits vor, dass sich der Mensch ohne Tierprodukte gesund ernähren kann. Für die Lebenswissenschaften, so auch die Medizin, gibt es vergleichbare Praxis-Belege nicht. Denn Therapien, Medikamente, chemische Produkte, kurzum alles was die Gesundheit von Mensch und Tier beeinflussen könnte, kommt bisher am Tierversuch nicht vorbei. Dafür sorgen unzählige rechtliche Regelungen und die Bindung der Wissenschaftler an den Tierversuch. Dennoch hat sich in den letzten 20 Jahren Erstaunliches ereignet. Renommierte Wissenschaftler kritisieren heute offen die mangelhafte Übertragbarkeit der Tierversuchsergebnisse auf den Menschen. Zu dieser Kritik tragen auch die Untersuchungsergebnisse aus tierversuchsfreien Methoden bei, die noch lange nicht ihr gesamtes Potenzial gezeigt haben. Doch unbewegliche Wissenschafts-Karrieristen argumentieren weiterhin, dass der medizinische Fortschritt auf Tierversuchen beruhe, auch wenn es hierfür keinerlei Belege gibt. Trotz aller Widrigkeiten hat eine Vorwärtsentwicklung stattgefunden, die sich politisch niederschlägt. Die EU-Mitgliedstaaten haben zwei entscheidende Vereinbarungen getroffen, die sie 2010 in der EU-Tierversuchsrichtlinie verbindlich festgeschrieben haben:

1. Tierversuche für wissenschaftliche Zwecke und Bildungszwecke sind vollständig zu ersetzen, so bald dies wissenschaftlich möglich ist.

2. Die Weiterentwicklung alternativer Ansätze wird erleichtert und gefördert.

Aber in Deutschland stehen längst nicht alle Wissenschaftler zu diesen Vereinbarungen, sondern kleben an der tierexperimentellen Forschung, vermutlich weil sie nicht bereit sind, dazuzulernen. Diese Erklärung drängt sich für die "Informationsinitiative Tierversuche verstehen" auf. Sie wurde von der Allianz der führen den Wissenschaftsorganisationen im September gestartet, konzentriert sich einseitig auf die Leistungen des Tierversuchs und verharmlost das Leiden der Tiere im Labor [2].


• Die Niederlande handelt

Ein Blick auf die Niederlande zeigt, dass es auch anders geht. Dort haben die Vereinbarungen der EU-Tierversuchsrichtlinie die Regierung bereits zum Handeln veranlasst. Im November 2015 hat sich das Wirtschaftsministerium an die Zweite Kammer - das gesetzgebende Organ - mit einem Fortschrittsbericht zu Tierversuchsalternativen gewendet. Im April 2016 beauftragt das Wirtschaftsministerium ein Fachgremium, einen Abbauplan für Tierversuche zu erstellen und gibt dazu klare Zielvorgaben. So sollen unter anderem in den nächsten zehn Jahren die gesetzlich vorgeschriebenen Giftigkeitstests eingestellt werden. Dies würde die Tierversuchszahlen im Land um zehn Prozent reduzieren. Die Niederlande zeigen sich ehrgeizig und wollen 2025 Weltspitze für tierversuchsfreie Innovationen sein. Vergleichbare Initiativen sind in Deutschland nicht erkennbar.


• Worauf es jetzt ankommt

Im Schwerpunktteil dieser Ausgabe lassen uns verschiedene Persönlichkeiten an ihrem Wissen und ihren Erfahrungen teilhaben. Sie geben uns Einblicke in unterschiedliche Arbeitsbereiche und leben vor, dass es zielführend ist, sich für Tierrechte einzusetzen und für ihre Durchsetzung zu kämpfen. Der Philosoph Richard David Precht ist ein Optimist. Er ist sich sicher, dass unsere Schlachthöfe in naher Zukunft zu Gedenkstätten werden. Die industrielle Tierhaltung ist, seiner Ansicht nach, nicht nur aus ethischen Gründen ein Auslaufmodell. Sie wird in absehbarer Zeit - wenn die Entwicklung von künstlichem Fleisch weiter vorangeschritten ist - auch nicht mehr wirtschaftlich sein. Dies sieht auch Microsoft-Gründer Bill Gates so. Für ihn ist pflanzliches Fleisch "die Nahrung der Zukunft".

Dieser Optimismus tut gut. Doch darauf können wir uns nicht ausruhen. Unser Einsatz für die Rechte der Tiere darf nicht länger unsere Privatsache sein. Wir müssen ihn in die Gesellschaft hineintragen. Nur wenn aus der schweigenden Mehrheit eine laute und fordernde wird, wird der Druck auf die ohnmächtige Politik groß genug, um Tierrechte gesellschaftlich gegen alle wirtschaftlichen Zwänge durchzusetzen. Bisher hat auf Bundesebene nur Schleswig-Holsteins Landwirtschaftsminister Robert Habeck Rückgrat gezeigt. Wir brauchen weitere Politiker, die tatkräftig den unmoralischen Umgang mit den Tieren beenden wollen.


• Fazit und Ausblick

Die Aktivitäten von Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt lassen vermuten, dass ihm der Tierschutz ein Anliegen ist, nicht aber die Rechte der Tiere. Diese aber brauchen wir, wenn unser Umgang mit den Tieren moralisch gut werden soll. Die Perspektiven "Ein kurzes gutes Leben bis zur Schlachtung" und "Schmerzfrei durch den Tierversuch" drücken sich vor den wirklichen Herausforderungen unserer Zeit. Diese heißen: "Tierleidfreie Ernährung" und "Tierleidfreie Wissenschaft". Wir Menschen für Tierrechte stellen uns diesen Aufgaben und sind dankbar für Ihre Unterstützung.


[1] Precht bekennt sich dazu, noch immer ab und zu Biofleisch zu essen. Das steht im Widerspruch zu seiner Argumentation. Teile der Tierrechtsbewegung lehnen ihn deswegen ab. Wir finden auch, dass er inkonsequent ist. Dennoch muss man anerkennen, dass er diese Schizophrenie reflektiert und auf dem Weg ist. Mit seinem neuen Buch "Tiere denken" setzt er die richtigen Akzente, um die gesellschaftliche Diskussion über unseren Umgang mit den Tieren am Köcheln zu halten.

[2] Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen befasst sich mit Fragen der Wissenschaftspolitik, Forschungsförderung und strukturellen Weiterentwicklung des deutschen Wissenschaftssystems. Mitglieder der Allianz sind die Alexander von Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, die Hochschulrektorenkonferenz, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Wissenschaftsrat. Für das Jahr 2016 hat die Leopoldina die Federführung in der Allianz übernommen. Der Bundesverband hat sich direkt nach Bekanntwerden der Initiative in einem Offenen Brief an die Allianz gewendet und sie aufgefordert, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden und sich aktiv an der Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren zu beteiligen. Im Deutschlandfunk folgte ein Streitgespräch mit Dr. Christiane Baumgartl-Simons vom Bundesverband und Prof. Treue vom Primatenzentrum Göttingen. Für den Bundesverband ist dies erst der Auftakt.

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Quelle:
tierrechte 4.16 - Nr. 77/Dezember 2016, S. 16-17
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
tierrechte erscheint viermal jährlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2017

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