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TIERHALTUNG/610: Unberechtigte Kritik am Bonitierungssystem der Tierwohl-Initiative (PROVIEH)


PROVIEH Ausgabe 04/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Unberechtigte Kritik am Bonitierungssystem der Tierwohl-Initiative

von Sabine Ohm



PROVIEH hat das Tierwohl-Bonitierungssystem der sogenannten Tierwohl-Initiative (kurz TWI) als einziger Tierschutzverein mitkonzipiert und maßgeblich mitgestaltet (siehe PROVIEHMagazine 4/2012, 1/2013, 3/2013). Kritiker stellen die TWI - noch bevor die Details überhaupt veröffentlicht wurden - schon als Dünnbrettlösung der Privatwirtschaft dar, als eine unlautere Konkurrenz zu bestehenden Labeln. Sie behaupten, die TWI würde Anstrengungen für bessere gesetzliche Tierschutzstandards ausbremsen. Diese Kritik entbehrt jeden Fundaments, wie im Folgenden gezeigt wird.


Die TWI als freiwillige Branchenlösung ergänzt das
Labelangebot

Die TWI wurde von vornherein als ein freiwilliges System konzipiert, offen für alle Interessenten, ohne teure Lizenzgebühren, ohne Label und ohne Marken-Werbung. Dafür gibt es drei sehr gute Gründe:


1. Keine Tierwohl-Kennzeichnung, keine Konkurrenz für Label

Seit über 30 Jahren gibt es verschiedenste Tierschutz-, Bio- und Markenfleischprogramme mit fest vorgegebenen Erzeugerstandards, die oft weit über den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestanforderungen liegen. Viele Programme haben Vorbildcharakter. Zielgruppe sind vor allem bewusste Verbraucher, die tiefer in die Tasche zu greifen bereit sind. Keinem dieser Label, egal ob alt oder neu, macht die TWI in irgend einer Weise Konkurrenz. Das wird gerade durch den Verzicht auf ein TWILabel vermieden.

Ehrlicherweise ist ein einheitliches TWI-Label auch nicht möglich, da die Teilnehmer am System unterschiedliche Kriterien aus einem vielgestaltigen Katalog umsetzen können und nicht ein fest vorgegebenes Set vorgeschriebener Kriterien erfüllen müssen. Vertretbar wäre hingegen, auf Schweinefleischverpackungen darauf hinzuweisen, dass durch den Kauf des Produkts ein finanzieller Beitrag zur Verbesserung der Schweinehaltung geleistet wird. Die genauen Inhalte der TWI werden Interessierten an anderer Stelle (zum Beispiel über das Internet, Broschüren etc.) erläutert.

Die Möglichkeit zu einer bewussten Entscheidung für Produkte mit garantierten, einheitlichen Tierschutzstandards bleibt durch das Angebot verschiedenster Label (wie Neuland, Bioland etc.) erhalten. Label-Kunden werden durch die TWI gar nicht angesprochen oder gar abgeworben; denn sie wissen genau, welchen Standard sie wollen - und sind auch bereit, den erforderlichen Preis dafür zu bezahlen.


2. Raus aus der Nische, Tierwohlmaßnahmen für alle

Alle Label blieben über die Jahrzehnte immer beschränkt auf kleine Marktnischen. Deshalb kamen in Deutschland nur rund 500.000 der ca. 55 Millionen gehaltenen und geschlachteten Schweine (< 1 Prozent) durch ein Label in den Genuss besserer Haltungsbedingungen.

Die übrigen 54,5 Millionen dagegen wurden größtenteils nur gemäß den gesetzlichen Mindestanforderungen gehalten, und zwar auf sehr unterschiedlichen Betrieben: von winzig bis riesig, in alten oder neuen Gebäuden, mit viel oder kaum High-Tech. Auch die finanzielle Ausstattung, örtliche Lage und die Umbaumöglichkeiten für die Umsetzung von mehr Tierwohlmaßnahmen sind bei den rund 28.000 Schweinehaltern im ganzen Land höchst unterschiedlich, ebenso wie die Managementfähigkeiten der Betriebsleiter.

Dieser Vielfalt trägt die TWI Rechnung durch die freiwilligen Wahlmöglichkeiten und die umfassenden Kriterienkataloge, die die gesamte Palette der Bedürfnisse der Tiere und der messbaren Tierwohlaspekte abdecken. Die Tür zur Teilnahme an der TWI steht damit allen Tierhaltern offen, die mehr als das gesetzliche Mindestmaß für ihre Tiere tun - egal, ob schon lange, oder erst seit neuestem. Ausgenommen sind nur die Betreiber von Dunkelställen in Altbauten ohne Fenster.

2014 werden die technischen Details der Tierwohl-Kriterien veröffentlicht, deren Einhaltung zu Tierwohl-Boni berechtigen. Jeder Betriebsleiter kann dann so viele Kriterien erfüllen, wie er will, ohne Obergrenze. Dafür muss er nur ein Audit bestehen, in dem die Einhaltung von Pflicht-, Wahlpflicht- und freiwilligen Kriterien überprüft wird (siehe PROVIEH-Magazin 3/2013).

Gerade aufgrund der Vielfalt der Kriterien können Maßnahmen für mehr Tierwohl weit mehr Tieren zugute kommen als je zuvor - endlich. Denn viele hätten schon lange gern mehr für ihre Tiere getan, konnten es sich aber bisher nicht leisten. Die Bonuszahlungen der TWI sollen es möglich machen.


3. Faires Entgelt für faire Erzeugung

Die TWI soll außerdem denjenigen konventionellen Bauern eine angemessene Bezahlung bieten, die auch bisher schon auf eigene Rechnung mehr für das Tierwohl als gesetzlich vorgeschrieben taten, dabei aber nicht bei einem Label mitmachen konnten oder wollten; denn immer mehr dieser Bauern mussten in den vergangenen Jahren aufgrund des steigenden Wettbewerbsdrucks aufgeben. Sie wurden zunehmend von Großinvestoren verdrängt, die Anlagen mit zehntausenden Tieren betreiben und mit wenigen Billiglohnarbeitern und viel Technikeinsatz meist nur das Allernötigste für die Tiere tun. Die TWI bietet jetzt eine Möglichkeit, dieser Art von "Strukturwandel" zu entkommen und damit den bäuerlichen Familienbetrieben eine langfristige Überlebensperspektive, und das nicht trotz, sondern wegen ihrer Bemühungen für mehr Tierwohl.

Für die vertraglich zugesicherten Bonuszahlungen will der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) einen unabhängigen TWI-Fonds einrichten und in den ersten drei Jahren mit insgesamt 300 Millionen Euro ausstatten. Mit den Zahlungen aus dem Fonds sollen Bauern für faire Erzeugung ein faires Entgelt bekommen, zum Beispiel dafür, dass sie den Tieren mehr Platz, Auslauf, Einstreu, Raufutter oder die Einrichtung von Mikroklimazonen bieten. Der LEH wird die Kosten für die Bonuszahlungen nach Möglichkeit über die Preise an die Verbraucher weitergeben. Dadurch werden sich die Preise für konventionelle Waren im Handel wahrscheinlich schrittweise erhöhen. Denn Tierschutz gibt es nicht zum Nulltarif.

Eine solche gemeinsame Initiative, an der sich (nach derzeitigem Stand) alle großen Handelsketten beteiligen, hat es noch nie gegeben. Sie bietet eine einzigartige Chance, das Tierwohl voranzubringen. Die TWI kann also nur mehr, keinesfalls weniger Tierwohl schaffen.


TWI und Tierschutz-Gesetze beflügeln einander

Unser Einsatz für das Ziel, das Los möglichst vieler Schweine über die privatwirtschaftliche TWI zu verbessern, führt nicht zur Vernachlässigung unserer Arbeit an anderen Stellschrauben. Im Gegenteil: Wir führen unsere politische Lobbyarbeit fort und kämpfen zum Beispiel seit 2009 auf europäischer Ebene dafür, dass die EU-Richtlinie 2008/120/EG zum Schutz der Schweine endlich in allen Mitgliedsstaaten vollständig eingehalten werden muss. Auf unsere Klagen reagierte die EU-Kommission mit Druck auf die Mitgliedsstaaten. Seit März 2013 werden EU-Leitlinien für die Umsetzung der genannten Schweinehaltungsrichtlinie - insbesondere des Kupierverbots - entworfen, an deren Ausarbeitung PROVIEH als einziger deutscher Tierschutzverein beteiligt ist.

Auf nationaler Ebene konnten wir die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (NRW) in den vergangenen drei Jahren bei bahnbrechenden Projekten unterstützen, die den Verzicht auf das Kupieren des Schweineschwanzes und die vollständige Umsetzung der Schweinehaltungsrichtlinie entscheidend vorangebracht haben. Erlasse auf Landesebene sowie eine 2014 zur Abstimmung stehende Bundesratsinitiative belegen die Vorreiterrolle von NRW. Und in Schleswig-Holstein leitet PROVIEH seit Herbst 2013 die von der Landesregierung einberufene "Arbeitsgruppe Schwein" zur Initiative "Runder Tisch Tierschutz".

All dies vollzog sich parallel zur Arbeit an der TWI und hat die gerade genannten Entwicklungen nicht blockiert, sondern im Gegenteil beflügelt. Umgekehrt haben die genannten Entwicklungen die Arbeit an der TWI beflügelt, weil die privatwirtschaftlichen Akteure die Notwendigkeit zu handeln erkannten.

PROVIEH macht auch weiterhin viel Druck auf die Gesetzgeberseite. Aber wir wollen nicht, dass Tierhalter durch zu hohe und womöglich unvergütete Anforderungen in den Ruin getrieben werden (siehe Infobox). Damit würden die Probleme in der Tierhaltung nicht gelöst, sondern die Produktion würde nur ins Ausland verdrängt werden. Das wäre kontraproduktiv, denn in vielen Ländern sind die Standards und deren Überwachung schlechter als in Deutschland. Und irgendwo müssen all die Tiere ja gehalten werden, deren Fleisch etwa 85 Prozent der Deutschen nach wie vor fast täglich verzehren. 2012 waren es im Durchschnitt allein über 54 Kilogramm Schweinefleisch pro Kopf. Mit Hilfe der TWI soll das Tierwohl schrittweise angehoben und dadurch mehr Klasse statt Masse wirtschaftlich möglich gemacht werden - für eine zukunftsfähige, regionale, rückverfolgbare, kontrollierbare und tiergerechtere Erzeugung in Deutschland.


Fazit: Die TWI bringt das Tierwohl in jeder Hinsicht voran

Neben den oben genannten Vorteilen bringt die TWI das Tierwohl sogar schon vor dem offiziellen Start voran. PROVIEH bekommt dazu seit Monaten positive Rückmeldungen aus Beraterkreisen: Landauf, landab orientieren sich schon jetzt viele Tierhalter bei der Planung ihrer Neu-, Um- oder Erweiterungsbauten an den TWI-Kriterienkatalogen.

Der Deutsche Bauernverband hatte sie vorab intern für Bauern veröffentlicht, obwohl noch nicht alle technischen Details endgültig ausgearbeitet sind. Zum Beispiel muss noch festgelegt werden, welches und wie viel Raufutter Sauen, Ferkel und Mastschweine täglich bekommen müssen, damit ein Bonusanspruch entsteht.

Die TWI schafft so bereits vor ihrem offiziellen Start die Basis für mehr Tierwohl in den Ställen, weil zum Beispiel schon Vorrichtungen zur Raufuttergabe gleich eingeplant werden.

Werden unsere im vorigen Heft erläuterten Forderungen bezüglich der Kontrollen und Einbindung von PROVIEH in alle relevanten Entscheidungen erfüllt, werden wir uns auch künftig mit voller Kraft der erfolgreichen Ausarbeitung und Umsetzung der Tierwohl-Initiative widmen.


INFOBOX
Die TWI kann Bauern dabei helfen, ihre Betriebe schon lange vor dem Inkrafttreten neuer Gesetze an die neuen, höheren Tierwohlstandards anzupassen. Denn wenn neue Tierschutzgesetze verabschiedet werden, gibt es meist lange Übergangsfristen von bis zu 25 Jahren. Das liegt am gesetzlichen Bestandsschutz für bereits getätigte oder genehmigte Investitionen. Die TWI wirkt als Anreiz für die Betriebe, schneller umzustellen, weil Boni nur bis zum Ende der offiziellen Übergangsfristen in Anspruch genommen werden können. Das hilft insbesondere kleineren und mittleren Betrieben, die sich investitionsträchtige Umstellungen wegen des hohen Wettbewerbs- und Preisdrucks sonst nicht leisten könnten. Allein 2012 gaben in Deutschland ca. 2.000 Sauenhalter auf - mehrheitlich wegen der im Oktober 2001 beschlossenen und ab 1. Januar 2013 EU-weit vorgeschriebenen Gruppenhaltung für trächtige Sauen.

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Quelle:
PROVIEH Ausgabe 04/2013, Seite 20-24
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2014