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ETHIK/015: Tiere als Mitgeschöpfe (PROVIEH)


PROVIEH Heft 1 - April 2008
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Betrachtungen zum Tierschutz
Tiere als Mitgeschöpfe - Biblisch-theologische und rechtsethische Anmerkungen

Von Prof. Dr. Andreas Lienkamp


Auch wenn es strittig ist, ob die Bibel den Tieren als Geschöpfen Gottes Rechte zuspricht, so haben sie in der Heiligen Schrift des Juden- und des Christentums offenbar aus sich heraus legitime Ansprüche, die sie unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen besitzen. Gesteht man aber den Tieren einen Anspruch zu, in einer bestimmten Art und Weise behandelt zu werden, dann haben sie auch ein Recht darauf. Denn ein Anspruch ist nichts anderes als das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen verlangen zu können (vgl. BGB Paragraph 194).


Rechte der Tiere in der Bibel

Aus dem biblischen Gebot, den Sabbat heilig zu halten, geht hervor, dass diese ethische Norm für die gesamte Schöpfung gilt. Die Pflicht des Menschen zur Ruhe am siebten Tag wird u.a. damit begründet, dass auch Rind und Esel ausruhen und zu Atem kommen sollen (vgl. Exodus = 2. Buch Mose 23,12). Tiere haben also wie der Mensch einen Anspruch auf Erholung.

An anderer Stelle heißt es: "Du sollst dem Ochsen zum Dreschen keinen Maulkorb anlegen." (Deuteronomium = 5. Buch Mose 25,4). Und der 1. Brief an Timotheus führt mit Blick auf den Ochsen aus: "Wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Lohn." (1 Timotheus 5,18). Das heißt, dem arbeitenden Tier steht das Recht zu, sich nach seinem Bedürfnis zu ernähren und auch während der Arbeit zu fressen. Analog zum Armenrecht erhalten auch die Tiere das Recht zur "Nachlese" (Exodus 23,11) und damit das Recht, wie die Menschen die wildwachsenden Erträge des Sabbatjahres zu genießen (Levitikus = 3. Buch Mose 25,7). Das ist der Anspruch auf Nahrung und angemessene "Entlohnung".

"Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht" (Sprichwörter 12,10). Um die Bedürfnisse der Tiere zu wissen und sie zu stillen, gilt als Ausdruck der Weisheit und Gerechtigkeit. Auch nach Exodus 20,10 hatten die in enger Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit dem Menschen stehenden Tiere einen besonderen Anspruch auf Fürsorge. Dies kommt auch in der folgenden Weisung zur Sprache: "Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Gegners unter der Last zusammenbricht, dann laß ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!" (Exodus 23,4f). Diese Verse werden zu den Spitzenaussagen alttestamentlicher Ethik gerechnet.

Im Buch Numeri (4. Buch Mose) ist die Erzählung vom Seher Bileam und seiner Eselin überliefert. Anders als Bileam ist das Tier in der Lage, den Engel Gottes wahrzunehmen, der sich ihnen mit einem Schwert in der Hand in den Weg stellt. Dreimal weicht ihm die Eselin aus, und jedes Mal wird sie dafür von Bileam geschlagen, obwohl sie - wie sich später herausstellt - durch ihre außerordentliche Wahrnehmungsfähigkeit ihrem Besitzer das Leben gerettet hat. Der Bote Gottes stellt, nachdem Bileam die Augen geöffnet wurden, diesen zur Rede: "Warum hast du deinen Esel dreimal geschlagen?" (Numeri 22,32). Gott will also ganz offensichtlich nicht, dass Menschen Tiere quälen. Sie haben einen Anspruch auf körperliche Unversehrtheit.

Am Schluss des Buches Jona nimmt Gott Abstand vom angedrohten Strafgericht gegen die Einwohner von Ninive, weil nicht nur sie, sondern auch ihre Tiere fasten, sich in Bußgewänder hüllen (Jona 3,7f), weil also die Stadt als Ganzes ihren umfassenden Wandel bekundet. Über die Barmherzigkeit Gottes ist Jona, der Prophet wider Willen, jedoch so empört, dass er nicht länger leben will. Er, dessen Name "Taube" bedeutet, der von einem großen Fisch gerettet wird und im Schatten eines Rizinusstrauches wieder Lebensfreude gewinnt, will trotz seines Erfolges die Zerstörung der Stadt mit allem, was in ihr ist. Doch Gott erteilt ihm eine Lektion. Wenn es Jona schon um den (inzwischen eingegangenen) Strauch Leid tut, den er weder gepflanzt noch gehegt hat, wie sollte dann Gott kein Mitleid mit der Stadt haben, in der so viele Menschen leben "und außerdem so viel Vieh"? Erneut erweist sich Gott nicht nur als barmherzig, sondern zugleich als "Liebhaber des Lebens" (Weisheit 11,26). Er hat "keine Freude am Untergang der Lebenden" (Weisheit 1,13).

Haben für Gott auch die Tiere ein Recht auf Leben? Darüber gehen die Meinungen innerhalb der Theologie und Ethik auseinander. Hans Kessler und Rainer Hagencord etwa sprechen von einem zu respektierenden eigenen Lebensrecht der Geschöpfe bzw. Tiere. Michael Schlitt hingegen verneint dies; er lehnt generell ab, von Tierrechten zu sprechen, leugnet deswegen aber keineswegs die Pflicht des Menschen zu einem verantwortlichen Handeln gegenüber den Tieren. Otfried Höffe hingegen, der ebenfalls eine entschieden anthropozentrische Ethik vertritt, räumt ein, dass Tiere zumindest ansatzweise auch ein Recht besitzen.

Auch die in der Bibel so zahlreich belegten und von Gott offenbar geforderten Tieropfer sprechen nicht gegen ein individuelles Lebensrecht der Fauna, denn die prophetische Kult- und Opferkritik mahnt an, dass die eigentliche Verehrung Gottes nicht in Opfern, sondern im Leben nach seinen Geboten besteht (vgl. Jeremia 7,21-24; Hosea 6,6; Amos 5,21f). "An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen, ... Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude" (Ps 40,7-9).

In diesem Sinne heißt es im Buch Jesaja: "Was soll ich mit euren vielen Schlachtopfern?, spricht der Herr. Die Widder, die ihr als Opfer verbrennt, und das Fett eurer Rinder habe ich satt; das Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke ist mir zuwider. ... Eure Hände sind voller Blut. Wascht euch, reinigt euch! Laßt ab von eurem üblen Treiben! Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!" (Jesaja 1,11.16f). Ein Leben gemäß der Weisung Gottes und folglich die Liebe im Sinne von Recht und Gerechtigkeit auch gegenüber den Tieren sind also offenbar das, was Gott von den Menschen erwartet. Dann wird das Leben der Tiere nicht länger geopfert. Tieropfer sind mit der gottgewollten Friedensordnung unter allen Lebewesen nicht vereinbar. Nach Psalm 50 weist Gott darum die geopferten Stiere, Böcke und Vögel zurück, denn sie sind sein Eigentum (vgl. Psalm 50,9-13). Der Mensch hat nicht das Recht, sie zu kultischen Zwecken zu töten. Jesus stellt sich in diese prophetische Tradition. Auch für ihn sind praktizierte Gottes- und Nächstenliebe weit wichtiger als alle Brandopfer und Rauchopfer (Markus 12,28-34).


Das Recht der Tiere im deutschen und im EU-Recht

Sowohl die deutsche Verfassung ("Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...", Präambel) als auch der Vertrag über die Europäische Union ("schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas", Präambel) beziehen sich auf christliche Fundamente. Damit stellt sich die Frage, wie sie sich zum Tier als Mitgeschöpf stellen und ob sie die biblischen Impulse in irgendeiner Weise aufgreifen.

Im Jahr 2002 wurde der Tierschutz als Staatsziel in das deutsche Grundgesetz (GG) verankert. Es gilt gegenüber einzelnen Individuen und ganzen Arten: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung" (Art. 20a GG). Zum rechtssystematischen Stellenwert dieses und anderer Staatsziele ist zu sagen, dass sie keine "Verfassungsrhetorik", sondern Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung darstellen und somit den Rang von Richtlinien für das staatliche Handeln und für die Auslegung von Gesetzen und sonstiger Rechtsvorschriften haben. Mit Artikel 20a, so kann man ohne Übertreibung sagen, wurde die Anthropozentrik des Grundgesetzes aufgebrochen.

Entsprechend der fraktionenübergreifenden Begründung für das neue Staatsziel "Tierschutz" hat der Mensch die "Verpflichtung, Tiere in ihrer Mitgeschöpflichkeit zu achten", und er hat den "Anspruch der Tiere auf Schutz vor Leiden, Schäden oder Schmerzen" zu respektieren (Bundestags-Drucksache 14/8860, 3, 1). Nach der obigen Definition des Begriffs "Anspruch", die bei den Abgeordneten als bekannt vorausgesetzt werden darf, haben Tiere mit ihrem Anspruch auf Schutz also auch ein Recht auf Schutz vor "nicht artgemäßer Haltung, vermeidbaren Leiden sowie der Zerstörung ihrer Lebensräume" (ebenda, 3).

Die Notwendigkeit der Verankerung des neuen Staatszieles "Tierschutz" begründen die Fraktionen damit, dass die "Herleitung der verfassungsrechtlichen Absicherung des Tierschutzes aus dem bereits in Artikel 20a Grundgesetz geregelten Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" nicht genüge, weil darin "der Schutz des einzelnen Tieres vor vermeidbaren Leiden, Schäden oder Schmerzen nicht erfasst" sei (ebd., 1). Durch die Einbindung in Artikel 20a Grundgesetz sind somit "sowohl einzelne Tiere geschützt ... als auch - mit Blick auf die Zukunft - Tiere als Gattung" (ebd., 3).

Umgesetzt wird das Staatsziel u.a. im deutschen Tierschutzgesetz. Dieses soll dem Zweck dienen, "aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen" (Paragraph 1 TierSchG). Anders als die Abgeordneten in ihrer Begründung spricht das Gesetz zwar nicht von Ansprüchen oder Rechten der Tiere, wohl aber mehrfach von Bedürfnissen der Tiere (vgl. Paragraph 2 Nr. 1; Paragraph 2a I Nr. 1 Tier-SchG) und verwendet ausdrücklich - wie schon die Begründung der Neufassung von Art. 20a GG - den theologischen Begriff des "Mitgeschöpfes".

In die gleiche Richtung geht die Neupositionierung der EU: Mit dem "Vertrag von Lissabon" vom Dezember 2007 wurde dem "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" ein neuer Artikel 6b - jetzt Artikel 13 - hinzugefügt: "Bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Gemeinschaft in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt und Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt tragen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung".

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass völlig unabhängig vom Ausgang der theologischen, ethischen und juristischen Debatte um die Rechte von Tieren inzwischen ein Minimalkonsens in der Tierethik erzielt wurde, der sich in der gegenwärtigen deutschen und europäischen Rechtslage widerspiegelt: Tiere sind als Mitgeschöpfe und fühlende Wesen zu respektieren. Also sind sie auch um ihrer selbst willen vor negativen Folgen für ihr "Leben und Wohlbefinden" zu schützen.


Dr. Andreas Lienkamp, 1962, ist Professor für theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, stellvertr. Geschäftsführer der ICEP - Berliner Institut für christliche Ethik und Politik und Mitglied der Arbeitsgruppe für ökologische Fragen der deutschen Bischofskonferenz.
Forschungsschwerpunkte: Klimawandel und Gerechtigkeit, Fragen der Umwelt-, Medizin- und Bioethik, Theologie und Ethik Sozialer Arbeit.


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Quelle:
PROVIEH Heft 1, April 2008, Seite 30-34
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2008