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TIERHALTUNG/592: Milchkühe zwischen Leistung und Leid (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Milchkühe zwischen Leistung und Leid

Von Stefan Johnigk



Welches Tier in der Landwirtschaft strahlt mehr Gemütsruhe aus als eine behaglich wiederkäuende Kuh im Schatten eines Baumes auf der Weide? Es verwundert wohl kaum, dass diese großen, so ruhig und sanft erscheinenden Nutztiere mit den ausdrucksstarken Augen sogar schon als Co-Therapeuten für Menschen herangezogen werden. "Kuh-Kuscheln" ist als Selbsterfahrungskurs mit Heilwirkung im Nachbarland Niederlande ganz groß im Kommen. Doch der gefühlvolle Eindruck täuscht. Moderne Milchkühe sind längst keine wohlig grasenden Bauernhoftiere mehr. Sie sind Opfer des betriebswirtschaftlichen Leistungsanspruchs an die Milchmenge, die ihnen täglich abgemolken werden soll und durch die sie jeden Tag an ihre biologische Belastungsgrenze geführt werden. Selbst kleine Fehler in der Fütterung, der Haltung und dem Management führen bei ihnen schnell zu Leistungseinbrüchen, Gesundheitsproblemen und Leid. Aus den sanften Bilderbuchfreunden unserer Kinderzeit wurden tierische Extremsportler mit erschreckend kurzer Lebenserwartung gezüchtet.

Nun mag es schwer fallen, sich ausgerechnet eine schwarzbunte Kuh als Extremsportlerin vorzustellen. Wie sollte man auch die oft viel zu dürr erscheinenden Milchproduzenten mit einem stattlich gebauten menschlichen Athleten vergleichen? Vielleicht, indem man beispielsweise die Belastung des Herz-Kreislaufsystems als Maßstab hinzu zieht. Wagen wir einmal einen Vergleich.

Der wohl härteste und belastendste menschliche Sportwettkampf ist der "Ironman" (engl. "Eisenmann"), ein Langstreckenwettbewerb im Triathlon auf Hawaii. Jeder Athlet muss nacheinander 3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer Radfahren und zum Abschluss 42,195 Kilometer Laufen hinter sich bringen. Allein die Laufdistanz entspricht einem vollen Marathonlauf. Nur die weltbesten Athleten können die gewaltige Ausdauerleistung des Ironman-Wettbewerbs in weniger als 8 Stunden bewältigen. Ihr hoch trainiertes Herz pumpt in dieser Zeit rund 15.000 Liter Blut durch den Körper, siebenmal mehr als das Herz eines untrainierten Menschen bei einem gewöhnlichen 8-Stundentag im Büro. Mit derselben Pumpleistung, die das Herz beim achtstündigen Wettbewerb erbringt, könnte man einen ganzen Milchlaster füllen. Es erscheint daher verständlich, dass sich die Wettkämpfer auf diese einmalige Leistungsprüfung viele Monate lang gewissenhaft vorbereiten. Für die meisten von ihnen stellt schon die Teilnahme an einem solchen Wettkampf die Krönung ihres Sportlerlebens dar.

Was aber hat nun eine Milchkuh im deutschen Stall mit dem Ironman auf Hawaii gemeinsam? Die Herz-Kreislaufleistung. Denn für jeden Liter Milch, der im Euter gebildet wird, muss das Herz der Kuh rund 500 Liter Blut durch das Drüsengewebe des Euters pumpen. Zwischen 27 und 32 Liter Milch kann man einer modernen Hochleistungskuh pro Tag abmelken. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass ihr hoch belastetes Herz dafür rund 15.000 Liter Blut durch den Körper pumpen muss, so viel wie ein Ironman-Ausnahmesportler bei einem Wettbewerb. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Ein Mensch unterzieht sich der Tortur eines Ironman-Wettkampfes freiwillig und auch nicht öfter als einmal im Jahr, um sich keinen Schaden zuzufügen. Eine Milchkuh hingegen muss ihre gewaltige Herz-Kreislaufleistung fast täglich erbringen, weil der Mensch (und nicht die Kuh) es so will. 305 Tage hintereinander dauert eine "Laktationsperiode" (die Zeit des Milchgebens). Nur sechs bis acht Wochen "steht die Kuh trocken", um sich für die nächste Kälbergeburt regenerieren zu können.

Egal ob Mensch oder Kuh: Wer solche Höchstleistungen dauerhaft erbringen soll, ohne Schaden zu nehmen, muss topfit sein und bestens ernährt werden. Bei der Bildung einer täglichen Milchmenge von 29,5 Kilogramm werden dem Blut einer Kuh etwa 1,475 Kilogramm Zucker, 1,130 Kilogramm Fett und 0,980 Kilogramm Protein entzogen. Diese Nährstoffe müssen dem Stoffwechsel des Tieres wieder zugeführt werden. Sonst geht die Milchproduktion an die Substanz, und die Kuh zehrt ihren eigenen Körper auf, um dem Blut die benötigten Inhaltsstoffe für die Milchbildung zuzuführen. Nun frisst eine Kuh bekanntlich Gras, ernährt sich aber großenteils von Bakterien. Klingt verblüffend, stimmt aber. Denn was die Kuh an Futter aufnimmt, gelangt in den Pansen und dient zuallererst dem komplexen Fermentierungsprozess ihrer Verdauungspartner, der symbiotischen Pansenbakterien. Sie können sogar die Zellulose der Pflanzenzellwände abbauen, so dass das Zellinnere dann direkt auch von der Kuh verdaut werden kann. Ohne ihre Mikroben wäre eine Kuh nicht einmal in der Lage, sich allein mit Raufutter am Leben zu erhalten.

Die symbiotischen Bakterien im Pansen einer Hochleistungskuh sind höchst anspruchsvolle Lebenspartner. Von Natur aus reicht ihre Fermentationsleistung aus, um den normalen Nährstoffbedarf der Kuh auf verschiedene Weise zu decken, Kälber zu gebären und sie mit Milch zu versorgen. Doch für die enormen Milchmengen, die Tag für Tag gemolken werden, reicht die Fütterung mit Raufutter nicht aus. Eiweißreiches Kraftfutter muss zugefüttert werden, sonst wäre eine Hochleistungskuh mit ihrer Körperkraft schnell am Ende. Wie schnell das gehen kann, lässt sich schon an einer Kuh nach dem Kalben beobachten: Selbst bei optimaler Fütterung magert die Kuh in dem Maße ab, wie die durch Melken entnommene Milchmenge zunimmt. Wenn alles gut geht und die Kuh gesund bleibt, gleicht sie diesen Verlust an Körpermasse nach Ende der Laktationsperiode wieder aus. Treten aber gesundheitliche Probleme wie zum Beispiel entzündete Zitzen oder Klauenerkrankungen auf oder kommt es zu Störungen im Fermentationsprozess der Pansenbakterien, kann schnell das vorzeitige Ende für die Milchkuh nahen. Deshalb überleben die meisten Hochleistungskühe heutzutage nicht mehr als zwei bis drei Laktationsperioden, bevor sie wegen Leistungsminderung oder Erkrankungen zum Schlachthof kommen. Dieses Schicksal ist tragisch für die Kuh und den Landwirt. Eine gesunde Milchkuh kann bei guter Pflege durchaus 20 Jahre alt werden und erreicht ihr "bestes Alter" erst mit sieben bis acht Jahren. Endet sie aber vorher am Fleischerhaken, bedeutet dies für den Landwirt einen wirtschaftlichen Verlust im Vergleich zu dem, was sich bei hoher "Lebensleistung" melken ließe.

Doch der Leistungsdruck ist nicht nur für Milchkühe gestiegen, sondern auch für die Landwirte. Noch vor einer Generation war die Anbindehaltung von Milchkühen weit verbreitet. Heute haben schon viele Betriebe die alten und wenig tiergerechten Ställe gegen moderne Laufställe ausgetauscht - sofern sie es sich leisten konnten. Denn solche Investitionen kosten Geld, und der Kapitaldienst für das aufgenommene Darlehen muss bedient werden. Ertrag erwirtschaftet aber nur die Leistung der Kühe. Den Konkurrenzdruck auf kleine Betriebe erhöht auch die "Economy of scale", also einer besseren Wirtschaftlichkeit durch größere Betriebseinheiten. Einige Agrarfabriken halten bereits Herden von über tausend Milchkühen. Das spart Kosten, zum Beispiel beim Einkauf von Eiweißkraftfutter. Und gespart wird auch am Personal. Eine Herdenmanagerin eines Großbetriebes, die namentlich nicht genannt werden möchte, beklagt gegenüber PROVIEH: "Immer öfter werden bei uns ungelernte Betriebshelfer eingesetzt, weil sie bereit sind, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten als gelernte Landwirte. Ob eine Kuh unter einer Ketose oder Azidose leidet (Anmerkung: Das sind fütterungsbedingte Stoffwechselstörungen bei Milchkühen), können die oft gar nicht mehr selbst erkennen." Statt rechtzeitig behandelt zu werden, endet das Tier dann oft vorzeitig beim Schlachthof. Das Wohl des Einzeltieres geht unter, wenn man mit Hunderten Milchkühen und unterbezahltem, unerfahrenem Personal arbeitet, um wirtschaftlicher zu produzieren.

PROVIEH will auch für die Milchkuhhaltung ein finanzielles Tierwohl-Bonitierungssystem entwickeln, wie es für Schweine bereits branchenweit diskutiert wird. Erste Molkereien haben dazu bereits Gespräche aufgenommen. Aber bis dadurch der Leistungsdruck im Milchviehstall spürbar abnehmen wird, werden sich unsere schwarzbunten Milchkühe noch lange weiter als Extremsportler im Stall behaupten müssen - Tag für Tag im gnadenlosen Leistungswettbewerb.

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013, Seite 10-13
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2013