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INITIATIVE/405: Brancheninitiative für Tierwohl, Erfolg mit Dominoeffekt (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 1/2015
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Brancheninitiative für Tierwohl gestartet - Erfolg mit Dominoeffekt

Von Sabine Ohm


PROVIEH freut sich über den endlich vollzogenen Start des Bonitierungssystems für Schweinehalter im Rahmen der so genannten Initiative Tierwohl (ITW), an der wir seit 2010 gearbeitet haben. Der endgültige Startschuss fiel nach langem Hin und Her im Januar 2015. Die teilnehmenden Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels (LEH) und der Fleischverarbeitung haben mit Einzahlungen von je vier Cent pro verkauftem Kilogramm Schweinefleisch (inklusive Wurst und Importware) an den unabhängigen Tierwohl-Fonds begonnen. Auch die Auditoren werden bereits geschult. Die Betriebe können sich ab März zur Teilnahme anmelden, ab April werden die betrieblichen Audits beginnen. Die ersten Auszahlungen von Tierwohlboni an Ferkelerzeuger und Mäster sind für Juli 2015 geplant. Zunächst werden rund 65 Millionen Euro pro Jahr für den Kostenausgleich für freiwillige Maßnahmen für mehr Tierwohl in den Schweineställen zur Verfügung stehen, weitere 21 Millionen für die ab Herbst 2015 geplante Initiative Tierwohl für Masthühner.


Kurzer Rückblick

PROVIEH hatte ab April 2010 mit einem kleinen Initiativkreis aus Landwirtschaft, Schlachtbranche und Lebensmitteleinzelhandel (Tönnies, Böseler Goldschmaus, Thönes Natur, später auch REWE) sowie mit Wissenschaftlern und Beratern das Grundkonzept für die freiwillige Brancheninitiative entwickelt. Es sollte möglichst vielen Schweinehaltern eine Verbesserung des Tierwohls gegen fairen Kostenausgleich ermöglichen. Im April 2012 stellte REWE das Konzept der Branchenorganisation QS (Qualität & Sicherheit) vor. Ab Herbst 2012 wurde es dort weiter ausgearbeitet, über weite Strecken unter Beteiligung von PROVIEH. Im August 2013 wurden die Kriterienkataloge für freiwillige Tierwohlmaßnahmen verabschiedet. Danach feilschten Landwirtschaft, Fleischverarbeiter und Handel noch über ein Jahr lang um Details und modifizierten dabei das Konzept und die Kriterienkataloge, leider nicht immer zum Besten. Was lange währt, wird nicht immer gut - aber was nicht ist, das kann noch werden.


PROVIEH bleibt dran

Manche unserer Vorstellungen konnten wir durchsetzen, andere (noch) nicht. Das ist üblich bei Verhandlungen. Nicht in unserem Sinne ist, dass die Boni pro Tier und der Fonds insgesamt gedeckelt wurden und dass einige technische Details nicht tiergerecht gestaltet wurden. So wurde beispielsweise für den "ständigen Zugang zu Raufutter" nur ein einziger Behälter mit 20 Zentimeter Durchmesser für bis zu 100 Ferkel, 80 Mastläufer, 60 Mastschweine oder auch 60 Sauen vorgeschrieben! Das ist viel zu wenig und könnte kontraproduktiv für die Bauern werden, wenn der Kampf um das knappe Raufutter zu Unruhe und Rangkämpfen führt. Um unkupierte Ringelschwänze intakt zu halten, wird dies ebenfalls nicht ausreichen. Derartige Widersinnigkeiten müssen baldmöglichst beseitigt werden, sonst werden die Tierhalter in die Irre geführt.

Darauf kann PROVIEH hinwirken, weil wir im Beirat der neu gegründeten "Trägergesellschaft" (ein Ableger von QS) einen Sitz haben und deshalb an der inhaltlichen Weiterentwicklung und Verbesserung der ITW mitwirken können. Der Beiratssitz ermöglicht uns ebenfalls die Teilnahme an Tierwohl-Auditorenschulungen und Betriebsaudits. Kontrolliert wird einmal pro Kalenderjahr mit jeweils 48 Stunden Vorwarnung. Das gilt bei QS als "unangekündigt", ist aus Sicht von PROVIEH aber unzureichend. Die Auditoren müssen erfahrene Schweinehaltungsauditoren sein und vorab eine Schulung absolvieren. Natürlich steht und fällt die ITW mit der Glaubwürdigkeit und deshalb auch mit der Qualität und Unabhängigkeit der Audits. PROVIEH wird mit konstruktiver Kritik seinen Beitrag für ein verlässliches, dem Tierwohl dienendes Auditsystem leisten.

Zudem werden wir in den kommenden Monaten das geplante "Ringelschwanzpaket" im Rahmen der ITW, für das PROVIEH sich besonders einsetzt, zügig vorantreiben, um den Schweinehaltern endlich den Kupierverzicht finanziell zu ermöglichen. Und wir wollen auch, dass in der Ferkelerzeugung die Auszahlung von Sauenwohl-Boni an die Zahl der gehaltenen Sauen gekoppelt wird und nicht (wie jetzt) an die Zahl der abgesetzten Ferkel; denn dies ist ebenfalls kontraproduktiv, da es die Hochleistungszucht auf höhere Ferkelzahlen pro Sau und Jahr weiter antreibt. Insbesondere die DanZucht treibt diese Qualzucht immer weiter auf die Spitze (derzeit 20 bis 30 Ferkel pro Wurf!). Dadurch werden viel mehr Ferkel geboren, als die Sau Zitzen zum Säugen hat. Außerdem gilt: Je größer der Wurf, desto mehr untergewichtige Ferkel sind dabei und desto ungleichmäßiger ist die Gewichtsverteilung zwischen den Wurfgeschwistern (wir berichteten). Die jüngste Empfehlung dänischer Experten, alle Ferkel unter einem Kilogramm Geburtsgewicht systematisch totzuschlagen, hat Ende Februar 2015 zu einem Aufschrei in den dänischen und schwedischen Medien geführt und das Augenmerk der Öffentlichkeit auch dort endlich auf die grausame, oft illegale Tötung lebensschwacher Ferkel kurz nach der Geburt gelenkt.


Was die ITW schon erreicht hat

Die ITW ist rein privatwirtschaftlich organisiert, hat aber die Politik angetrieben. Am 17. September 2014 startete Bundesagrarminister Christian Schmidt eine politisch organisierte Tierwohl-Initiative des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung (BMEL) mit den Worten: "Tierwohl ist eine Frage der Haltung - nicht nur in den Ställen, sondern auch in den Köpfen." Auf dem Niedersächsischen Tierärztetag am 24. Januar 2015 in Hannover hoben Vertreter des BMEL hervor, dass die privatwirtschaftliche ITW der Politik wichtige Impulse geliefert hat. Das neue politische Konzept der "freiwilligen Verbindlichkeit", das reale Tierwohl-Ergebnisse wie den Kupierverzicht in absehbaren Fristen fordert, unterstützt unsere Arbeit - genau wie die seit Ende 2014 laufenden Tierwohl-Gespräche des BMEL mit den Dänen und den Niederländern, die viele Ferkel nach Deutschland liefern. Unser Einsatz hat sich also gelohnt.

Schon die von allen teilnehmenden Betrieben zu erfüllenden Grundanforderungen gehen über die gesetzlichen Regelungen hinaus. Zum Beispiel werden mindestens 1,5 Prozent Fensterfläche vorgeschrieben; denn laut Gesetz dürfen Altbauten auch fensterlos mit rein künstlicher Beleuchtung sein. Die Vielzahl von freiwilligen Tierwohl-Maßnahmen und Wahlpflichtkriterien bieten außerdem einer breiten Mehrheit der Bauern die Möglichkeit zur Teilnahme. Wir gehen davon aus, dass sie vielen Schweinen zugutekommen werden.


ITW, Label und Gesetze

Die ITW steht nicht in Konkurrenz zu Tierwohl-Labeln oder strengeren Gesetzen, sondern kann ihnen im Gegenteil den Weg ebnen durch Schließung struktureller Lücken.

Bei Tierwohl-Labeln ist - im Unterschied zur ITW - die Eingangshürde meist hoch und kann deshalb von den meisten heute in Deutschland existierenden Betrieben (über 90 Prozent haben Betonvollspaltenböden) nicht übersprungen werden. Sogar einige unserer bestehenden gesetzlichen Bestimmungen brächten bei Umsetzung hohe Kosten mit sich, zum Beispiel das Kupierverbot für Ringelschwänze (wir berichteten), die bei den derzeitigen Preisen nicht von den Tierhaltern gestemmt werden können. Unter anderem wegen der hohen Einstiegsanforderungen bekommen die Betreiber von Labeln meist nicht genug Schweinebetriebe zusammen, um die Mindestmengen für ein einigermaßen interessantes Absatzprogramm im Lebensmitteleinzelhandel zu bedienen. Also bleibt der Absatz auf kleine regionale Nischen beschränkt. Dieses Problem entfällt komplett bei der ITW.

Die Deutschen konsumieren auch vorzugsweise nur noch ganz bestimmte Edelteile wie Filet, Kotelett und Schinken, so dass der Rest des Schlachtkörpers exportiert wird. Bei herkömmlichen Labelprogrammen sind deshalb die Edelteile meist besonders teuer, weil auf sie die Mehrkosten umgelegt werden müssen. Für die restlichen Teile lassen sich auf dem Weltmarkt keine höheren Preise erzielen, da Tierwohl in den meisten Abnehmerländern bisher nicht beachtet wird. Der relativ große Preisabstand zu konventioneller Ware schreckt offenbar viele Verbraucher vom Kauf von Label-Produkten ab; denn es besteht eine große Lücke zwischen der in Umfragen angegebenen Kaufbereitschaft für Tierwohl-Produkte und dem realen Kaufverhalten. Die ITW kann helfen, diese Preislücke Schritt für Schritt zu schließen: Je mehr konventionelle Betriebe Tierwohl umsetzen, desto mehr wird der Handel an den Fond zahlen müssen, und dafür müssen die Preise für konventionelle Ware künftig stufenweise erhöht werden.

Der ITW können sich auch Bio- und Tierwohllabelbetriebe anschließen. Umstellungswilligen Betrieben kann durch die Bonuszahlungen der schrittweise Weg zu einem höherwertigen Labelprogramm geebnet werden. Auch höhere gesetzliche Bestimmungen können künftig dank der ITW leichter umgesetzt werden als bisher, weil die Tierhalter in der Übergangsfrist die notwendigen Anpassungshilfen über die Tierwohl-Boni bekommen. Auf diesen Wegen werden auch die realen Kosten für eine angemessene Tierhaltung langsam aber sicher vernünftigerweise an die Verbraucher weitergegeben, so dass langfristig wieder realistischere Preise Einzug halten, die nicht nur zu den gesellschaftlich gewünschten Verbesserungen in der Tierhaltung sondern auch zu einer angemessenen Wertschätzung von Fleisch führen werden.

Schließlich führt die ITW nicht zur Konkurrenz bei Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels (LEH), weil sie fast alle mit an Bord sind: REWE und Penny, EDEKA und Netto, ALDI Süd & Nord, LIDL, Kaufland, real und Kaiser's Tengelmann. Sie vereinen bereits 80 bis 85 Prozent des deutschen Schweinefleischumsatzes auf sich. Die TWI steht aber weiterhin allen anderen Marktteilnehmern offen. PROVIEH wird darauf hinwirken, dass sich auch Unternehmen wie Metro, Globus, CITTI, COOP oder Famila möglichst bald anschließen, damit der Fonds weiter wächst.


Ausblick

Einige Organisationen haben zwar kritisiert, dass Verbraucher im Supermarkt nicht erkennen könnten, welches Fleisch von TWI-Bauern kommt und welches nicht, und welche Tierwohl-Kriterien eingehalten werden. Diese Sorge ist aber unbegründet. Wer will, kann weiterhin hochwertige Tierwohllabel-Ware kaufen, das Sortiment wird derzeit sogar parallel zur ITW ausgebaut. Und wer die ITW unterstützen will, kann seine Ware bei den oben genannten Unternehmen kaufen, die sich der Brancheninitiative angeschlossen haben. Mit der ITW wird eine historische Chance ergriffen, in Deutschland - und im Erfolgsfall hoffentlich auch über die Landesgrenzen hinaus - das Tierwohl auf ganz breiter Basis schrittweise und freiwillig gegen einen fairen Kostenausgleich zu verbessern. So können gestiegene gesellschaftliche Anforderungen an die Standards umgesetzt werden, ohne unsere Bauern zu ruinieren oder die Produktion (und mit ihr die Tierwohlprobleme) in Länder zu verlagern, in denen das Tierwohl keine oder kaum Beachtung findet.

PROVIEH möchte dieses erfolgversprechende Konzept möglichst zügig auch in der Rindermast, Milchviehhaltung und in anderen Bereichen der Geflügelwirtschaft vorantreiben, also einen Dominoeffekt herbeiführen. Wir führen bereits Vorgespräche, die zuversichtlich stimmen; denn auch bei den anderen Tierarten gibt es starken Handlungsbedarf in Sachen Tierwohl, der dank weiterer Branchenvereinbarungen praxistauglich schrittweise umgesetzt werden könnte.

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 1/2015, Seite 16-20
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen
tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2015

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