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TIERVERSUCH/368: Marburg - Studium ohne Tierverbrauch ... (tierrechte)


tierrechte 1.07 - Nr. 39, Februar 2007
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Studium ohne Tierverbrauch - Marburg macht weltweit Schule

tierrechte sprach mit Dr. Hans-Albert Braun


Wer im hessischen Marburg Medizin studieren will, kann dieses Studium absolvieren, ohne an lebenden oder extra für diesen Zweck getöteten Tieren Versuche zu machen. Schon seit Mitte der Neunzigerjahre setzen die Hochschullehrer am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität neben anderen tierfreien Methoden Computerprogramme ein; die dort entwickelt wurden und inzwischen weltweit Anerkennung finden. tierrechte sprach mit Dr. Hans-Albert Braun, einem der Erfinder dieser Programme.


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TIERRECHTE: Herr Dr. Braun, schon seit etlichen Jahren setzen Sie Computerprogramme in der studentischen Ausbildung ein. Für welche Studiengänge sind diese Programme geeignet?

HANS-ALBERT BRAUN: Die Programme eignen sich für alle Studiengänge, die im weitesten Sinn zu den sogenannten Lebenswissenschaften gehören. Dies sind neben Biologie, Zoologie und den verschiedenen medizinischen Fächern, also Human-, Zahn- und Veterinärmedizin, auch Pharmazie und Pharmakologie oder spezielle Studiengänge wie Biophysik.

TIERRECHTE: Setzen Sie ausschließlich Computerprogramme ein oder müssen die Studenten auch selbst Versuche an Tieren machen?

HANS-ALBERT BRAUN: Die Studenten machen keine Versuche an Tieren. Trotzdem machen die Computersimulationen nur einen kleinen Teil unserer Praktikumsversuche aus. In allen anderen Versuchen sind die Studenten selbst die Untersuchungsobjekte. Sie bestimmen beispielsweise ihre Blutwerte, messen gegenseitig das Hör-, Tast- und Sehvermögen, registrieren das EEG, also die Hirnströme per Elektroenzephalogramm, oder am Herzen das EKG usw. Unsere virtuellen Versuche sind in das Gesamtkonzept des Lehrplans eingebunden. Beispielsweise lernen die Studenten in den virtuellen Experimenten mit isolierten Nerven - SimNerv und cLabs-Neuron - die Grundlagen der Nervenerregung und messen dann auch an sich selbst Summenaktionspotenziale und Nervenleitungsgeschwindigkeit. Ein anderes Beispiel: Wir haben verschiedene Versuche zum Herz-Kreislauf-System, z. B. mit Registrierungen von EKG und Blutdruck bei den Studenten selbst. Diese wiederum werden ergänzt durch pharmakologische Experimente zur Untersuchung gängiger Herzmedikamente im virtuellen Labor, also mit dem Programm SimHerz. Es ist klar, dass die Studenten solche pharmakologischen Experimente nicht an sich selbst durchführen können. Hier gibt es zum Tierorgan wirklich nur die Alternative virtuelles Labor.

TIERRECHTE: Was war der Auslöser für den Einsatz solcher Programme?

HANS-ALBERT BRAUN: Mitte der Neunzigerjahre wurden in Marburg die studentischen Proteste gegen die Tierversuche so massiv, dass ein reguläres Praktikum nicht mehr durchführbar war. Wir waren gezwungen, diese Versuche einzustellen. Die wichtigsten Inhalte sollten zumindest über interaktive Videos vermittelt werden. Dabei wurde aber schnell klar, dass dies wenig mit einem richtigen Praktikum zu tun hat. Praktikum ist ja mehr als das Lernen von Fakten. Durch das eigene Experimentieren soll das Verständnis der Zusammenhänge gefördert werden, die ja gerade in der Biologie nicht immer so einfach überschaubar sind.

Eine mögliche Alternative zu jenen Versuchen, welche die Studenten nicht an sich selbst durchführen können, sahen wir in einem möglichst realitätsnahen virtuellen Labor. Dies sollte mit mathematisch simulierten Präparaten ausgestattet sein, die möglichst genauso reagieren wie ein wirkliches Organpräparat. Die Computertechnologie war weit genug fortgeschritten und vor allem konnten wir in unserer Arbeitsgruppe auf das für ein solches Projekt notwendige technische, mathematische und physiologische Wissen und Können zurückgreifen, Das Ergebnis war ein durchschlagender Erfolg! Die virtuellen Labore werden inzwischen an mehreren hundert Universitäten weltweit eingesetzt.

TIERRECHTE: Welche Vorteile bietet der virtuelle Versuch?

HANS-ALBERT BRAUN: Der wesentlichste Vorteil ist, dass die Studenten im virtuellen Labor auch wirklich selbst experimentieren. Wo sie im Versuch mit Organpräparaten stur den Protokollvorgaben gefolgt sind, einfach um nicht durch irgendwelche Fehler das Präparat zu zerstören, sind zumindest die interessierten Studenten nun viel eher bereit, einfach mal etwas auszuprobieren. Das selbstständige Experimentieren wird deutlich gefördert.

Des Weiteren lassen sich in einem virtuellen Labor Experimente durchführen, die real im studentischen Praktikum überhaupt nicht machbar sind, weil sie zu schwierig und zu aufwendig wären und längere Einarbeitungszeit erfordern. Hierzu gehören beispielsweise die grundlegenden, in allen Physiologie-Büchern beschriebenen Experimente an Fröschen und Ratten zur Messung von Ionenströmen an Einzelneuronen, also einzelnen Nervenzellen, wie sie in SimPatch oder cLabs-Neuron durchgeführt werden, oder Registrierungen der Impulsaktivität von sensorischen Nervenendigungen wie in cLab-SkinSenses.

TIERRECHTE: Wie sind Ihre Erfahrungen? Wie reagieren die Studenten, und wie ist der Lernerfolg?

HANS-ALBERT BRAUN: Spätestens wenn die Studenten in den Videos die Organpräparation sehen, sind die allermeisten sehr froh darüber, dass ihnen dieser Versuchsteil erspart wurde. Diese positive Einstellung wird dann noch mal verstärkt, wenn sie erkennen, dass man im virtuellen Labor wirklich experimentieren kann und nicht nur vorher gesammelte Daten vorgeführt kriegt.

Das Experimentieren ist viel freier und selbstständiger und es ist vor allem auch nicht von negativen Emotionen durch das Töten von Tieren begleitet. Wir haben zwar keine Vergleichsstudie. In einer Befragung haben aber die allermeisten Studenten angegeben, dass sie keinen höheren, sondern eher geringeren Lernerfolg von Versuchen mit Tierpräparaten erwarten würden.

TIERRECHTE: Kann man auf Versuche an lebenden oder extra für diesen Zweck getöteten Tieren im Studium nach Ihrer Einschätzung vollständig verzichten?

HANS-ALBERT BRAUN: In vielen Studiengängen in denen heutzutage noch mit Tierpräparaten gearbeitet wird, könnte sicherlich ohne qualitative Einbußen in der Berufsausbildung darauf verzichtet werden. Für Medizinstudentinnen und -studenten, die später beispielsweise als Internisten arbeiten, sind die praktischen Untersuchungen z. B. zur Atmung oder dem Herz-Kreislauf-System, die sie bei sich oder an den Kommilitonen durchführen, sicherlich viel wichtiger als die Experimente an isolierten Tierorganen - insbesondere wenn sich die Inhalte und die Vorgehensweise beim Experimentieren in einem realitätsnahen virtuellen Labor besser vermitteln lassen.

Natürlich ist kein Computerprogramm in der Lage, den Umgang mit lebenden Gewebe zu schulen und ein Gespür für die Empfindlichkeit und Verletzbarkeit, z. B. von Nervenfasern, zu vermitteln. Um dieses Gespür zu bekommen, braucht es allerdings auch deutlich mehr als zwei- oder dreimal an einer halbstündigen Präparation teilzunehmen - insbesondere wenn diese, wegen der immer größer werdenden Praktikumsgruppen, oft nur passiv miterlebt wird. Wo dies gebraucht wird, z. B. bei Chirurgen oder experimentell arbeitenden Wissenschaftlern, wird der Umgang mit lebendem Gewebe aber ohnehin geschult - bei Chirurgen übrigens oft ohne den Einsatz von Tieren.

TIERRECHTE: Welche Resonanz erfahren Sie bei Ihren Kollegen?

HANS-ALBERT BRAUN: Wir haben durchgehend nur sehr positive, teils euphorische Berichte aus vielen anderen Universitäten weltweit. Die Anwender zeigen sich insbesondere von der offensichtlich nicht erwarteten Leistungsfähigkeit und vor allem von der Realitätsnähe der virtuellen Labore beeindruckt.

Besonders bemerkenswert erscheint mir, dass ich verschiedentlich Rückmeldungen erhalten habe, vor allem aus den USA, wonach die virtuellen Labore eigentlich nur zur Ergänzung oder Vorbereitung auf die wirklichen Tierversuche gedacht waren, dass dann aber die Tierversuche abgeschafft wurden, weil erkennbar war, dass alle Experimente in den virtuellen Laboren eigentlich viel besser und mit größerem Lernerfolg durchgeführt werden können. Es konnte niemand mehr, weder die Lehrenden und vor allem auch nicht die Studenten, einen Sinn darin sehen, nach den virtuellen Experimenten das Ganze noch mal, mit erwartungsgemäß denselben Resultaten, am Tierorgan durchzuexerzieren.

TIERRECHTE: Was ist aus Ihrer Sicht nötig, damit Studierende zumindest wählen können, ob sie ihre Kurse ohne Tierverbrauch absolvieren können?

HANS-ALBERT BRAUN: Eine stärkere Differenzierung innerhalb der einzelnen Studiengänge könnte ein erster Schritt sein, wenn beispielsweise festgelegt wird, für welchen Abschluss oder welche Berufsausübung eine Bescheinigung über erfolgreich durchgeführte Experimente an lebenden Organen erforderlich ist. Diese Experimente sollten dann auch nicht nach dem üblichen Praktikumsschema durchgeführt werden, sondern in einem gesonderten Intensivkurs zu Tierexperimenten, wie es ihn in verschiedenen Studiengängen an verschiedenen Universitäten ohnehin schon gibt. Ein derartiger Kurs ist an der medizinischen Fakultät in Marburg beispielsweise für die experimentell arbeitenden Studenten der Humanbiologie verbindlich vorgeschrieben, während in der gleichen Fakultät das klassische Medizinstudium tierversuchsfrei ist.

TIERRECHTE: Sind mehr finanzielle Mittel für Lehrzwecke erforderlich?

HANS-ALBERT BRAUN: Mehr Geld für Lehrmittel wäre insgesamt wünschenswert. Die Einrichtung von Computer-Laboren ist dabei allerdings noch recht preisgünstig gegenüber der Anschaffung von Messgeräten, die dem aktuellen technischen, z.B. klinischen Standard entsprechen.

Auch politische Entscheidungen und Gesetzesänderungen könnten natürlich ein Mittel sein, die gewünschten Veränderungen in der Ausbildung durchzudrücken, was meines Wissens zurzeit in Dänemark ansteht. Es zeichnet sich aber auch in Deutschland, zugegebenermaßen etwas langsamer, ein Sinneswandel ab, indem z. B. die didaktischen Vorteile virtueller Labore auch an Instituten anerkannt werden, von denen früher nur negative Kommentare zu hören waren.

Allerdings scheint es gerade in den Lebenswissenschaften besonders ausgeprägte Aversionen gegen Computersimulationen zu geben - nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Forschung. Ursache ist offensichtlich die in diesen Fachgebieten mangelnde Kenntnis der oft gar nicht so schwierigen mathematischen Grundlagen von Computersimulationen. Diese Aversionen abzubauen, ist ein Ansatz, dem wir innerhalb eines 'EU Network of Excellence', genannt 'Biosimulation for Drug Development' (BioSim), besondere Aufmerksamkeit widmen, nicht zuletzt durch das Angebot entsprechender Kurse schon in der Ausbildung.

TIERRECHTE: Herr Dr. Braun, vielen Dank für das Gespräch.

(Die Fragen stellte Marion Selig)


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Dr. Hans-Albert Braun, Humanbiologe und Elektroingenieur, lehrt und forscht am Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Philipps- Universität Marburg. Er hat mehrere Computerprogramme zum Ersatz von Versuchen an Tieren in der Ausbildung entwickelt und dafür mehrere Preise gewonnen.


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Quelle:
tierrechte - Nr. 39/Februar 2007, S. 6-7
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2007