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TIERVERSUCH/725: Versuchstier Nummer zwei (tierrechte)


Magazin tierrechte - Ausgabe 1/2017
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Versuchstier Nummer zwei

von Dr. Christiane Hohensee und Christina Ledermann


Das Erbgut der Ratte stimmt zu 90 Prozent mit dem des Menschen überein. Doch dies ist nicht der einzige Grund, warum die Ratte ein so beliebtes Versuchstier ist. Der kleine Nager ist handlich, fortpflanzungsfreudig, kostengünstig und gut erforscht. Außerdem hat er als vermeintlicher Schädling keine Lobby. Doch - und das wird gerne bei dieser Diskussion verschwiegen - die Ratte ist hochintelligent und leidensfähig.


Im Jahr 2015 wurden über 320.000 Ratten in Versuchen eingesetzt. Die Ratte steht damit an zweiter Stelle der Tierversuchsstatistik und ist - nach der Maus - das am häufigsten in Versuchen eingesetzte Tier. Über die Hälfte aller Ratten musste für gesetzlich vorgeschriebene Sicherheitsprüfungen, sogenannte regulatorische Tests, ihr Leben lassen (53 Prozent). Denn ohne Sicherheitsprüfungen am Tier dürfen Produkte wie Chemikalien, Arzneimittel, Medizinprodukte, Pestizide und Biozide nicht zugelassen und vermarktet werden. Sogar für Nahrungs- und Futtermittel werden Tierversuche gemacht.

Ein Drittel stirbt für die Grundlagenforschung

Während im Bereich der vorgeschriebenen Sicherheitsprüfungen die Tierzahlen langsam zu sinken beginnen, steigen sie in anderen Bereichen rapide an: Mit 27 Prozent starben fast ein Drittel aller Ratten für die anwendungsoffene Grundlagenforschung und 16 Prozent für die angewandte Forschung. Damit wuchs die Zahl der Ratten in der Grundlagenforschung von 2014 auf 2015 um 61,2 Prozent auf 88.488 Tiere und in der angewandten Forschung um 22,3 Prozent auf 52.107 Tiere an. Ratten werden auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung eingesetzt. An rund 12.600 Ratten, dies entspricht etwa vier Prozent, wurde 2015 der Umgang mit sogenannten Versuchstieren erlernt und Techniken trainiert.

Warum wird die Ratte so oft in Versuchen eingesetzt?

Die Frage, welche Tiere bevorzugt in Versuchen eingesetzt werden, regeln die EU-Tierversuchsrichtlinie (2010/63/EU) und das Tierschutzgesetz. Nach Erwägungsgrund 13 der Tierversuchsrichtlinie müssen "...die Arten ausgewählt werden, die die geringste Fähigkeit zum Empfinden von Schmerzen, Leiden oder Ängsten haben oder die geringsten dauerhaften Schäden erleiden (...)." Ähnlich regelt es das Tierschutzgesetz in Paragraf 7a. Leidet die Ratte weniger als ein Affe? Die Tatsache, dass die Ratte am zweithäufigsten in Tierversuchen eingesetzt wird, legt nahe, dass der kleine Nager in dieser Systematik niedriger bewertet wird und weniger leidet als beispielsweise ein Affe. Doch der Nachweis, dass der hochintelligente Kleinsäuger weniger leidet als beispielsweise ein Makak, wurde bisher nicht erbracht. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Ratte aus rein praktischen Erwägungen so häufig eingesetzt wird. Zum einen ist bei der Ratte durch ihr schlechtes Image mit weniger Widerstand zu rechnen als beim Affen. Es wird eher akzeptiert, dass an einem vermeintlichen Schädling geforscht wird. Zudem sind Ratten deutlich günstiger zu kaufen, zu vermehren und zu halten. Die behördlichen Testrichtlinien begründen den Einsatz von Ratten damit, dass sie schon immer eingesetzt wurden und deswegen umfangreiche Daten zu ihrer Physiologie und Pathologie vorliegen. Zudem haben Ratten eine relative kurze Lebensspanne und bilden zuchtbedingt leicht Tumore aus. Ratten und Mäuse werden auch deshalb gern in der Giftigkeitsforschung eingesetzt, weil sie nicht erbrechen können. Per Schlundsonde verabreichte Substanzen bleiben sicher im Magen.

Mehr als 100.000 Ratten starben in Giftigkeitstests

Im Jahr 2015 wurden über 100.000 Ratten in Giftigkeitstests von Chemikalien, Pestiziden, Bioziden und Arzneimitteln eingesetzt. Zusätzlich starben etwa 67.220 Ratten nach Qualitätskontrollen und Sicherheitstests. Wegen der Vielzahl der vorgeschriebenen Tierversuche, in denen Ratten eingesetzt werden, können wir hier nur einige aktuelle Beispiele anführen. Im Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen Tests müssen ein Großteil der Ratten in sogenannten Reproduktions- und Entwicklungstoxikologischen Tests leiden. Bei diesen Tests soll untersucht werden, ob sich ein Stoff schädlich auf die Reproduktionsfähigkeit und die Entwicklung der Nachkommen, beispielsweise auf die Organe und das Nervensystem auswirkt.

2.600 Tiere pro Testsubstanz

Dazu wird Rattenmüttern eine Testsubstanz in mindestens drei unterschiedlichen Dosierungen während der Trag- und Stillzeit verabreicht. Dies erfolgt über eine Schlundsonde, über das Trinkwasser, per Inhalation oder über die Haut.

Einige Testrichtlinien verlangen, zusätzlich zu den Rattenmüttern zwei Generationen (also Kinder- und Enkel) zu untersuchen. So müssen je nach Testrichtlinie bis zu 2600 Tiere pro Substanz sterben. Um die hohe Zahl der Tiere zu reduzieren, hat man die sogenannte die "Extended-One-Generation"-Studie eingeführt. Mit ihr kann die Zahl der Tiere um etwa 1000 pro Substanz reduziert werden.

Todesangst im Wasser

Während der Tragzeit und nach der Geburt werden Muttertier und Säuglinge auf Vergiftungsanzeichen und Schäden untersucht. Bis zum Ende der Stillzeit wird dann eine bestimmte Anzahl Säuglingen getötet und ihre Gehirne auf Veränderungen untersucht. Andere Rattensäuglinge werden funktionellen und Verhaltenstests unterzogen. Neben Tests zur sexuellen Reife und Verhalten werden auch motorische und sensorische Funktionen sowie Lernen und Erinnern überprüft. Um den Orientierungssinn zu testen, wird auch der berüchtigte Water-Maze-Test eingesetzt. Dabei muss die Ratte eine unter der Wasseroberfläche befindliche, nicht sichtbare Plattform finden und sich deren räumliche Position merken. Da es aus der Perspektive des Tieres kein Ufer gibt, kann es bei untrainierten und durch die Chemikalien beeinträchtigten Ratten dazu kommen, dass sie Panik entwickeln und zumindest zeitweise unter Todesangst leiden.

Stundenlange Inhalation unter Zwang

Ein weiteres Beispiel für einen gesetzlich vorgeschriebenen Test ist der subchronische Inhalationstoxizitätstest. Damit soll erforscht werden, wie schädlich sich beispielsweise das Einatmen von staubförmigen Stoffen für Industriearbeiter auswirkt. Beim 90-Tage Inhalationstest werden 80 bis 100 junge Ratten an fünf Tagen in der Woche für sechs Stunden täglich in eine Inhalationsapparatur eingespannt und müssen 90 Tage lang eine Substanz über die Nase einatmen. Bei Arzneimitteln müssen die Tiere die leidvolle Fixierung sogar an sieben Tagen in der Woche ertragen. Nach 13 Wochen werden sie getötet, ihre Organe entnommen und untersucht. Ähnliche Tests werden gemacht, um herauszufinden, ob inhalierbare Stoffe beispielsweise Gen- oder Chromosomenmutationen auslösen.

Die Ratte in der Grundlagenforschung

Die Grundlagenforschung versteht sich als erkenntnisorientierte und anwendungsoffene Wissenschaft. Sie untersucht unter anderem Aufbau, Verhalten und Funktionsweise des gesunden und kranken Körpers. Das Erbgut der Ratte stimmt zu 90 Prozent mit dem des Menschen überein. Deshalb meinen Forscher, so gut wie alle genetisch bedingten Erkrankungen des Menschen auch an Ratten erforschen zu können. Ratten werden in der Grundlagenforschung vor allem für Studien des Nervensystems eingesetzt, gefolgt von Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, für neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson und in der Erforschung von Suchterkrankungen. Da Ratten lernfähiger sind als Mäuse, sind sie auch in der Kognitionswissenschaft beliebt. Untersuchungen zu Krebserkrankungen spielten in 2015 eine untergeordnete Rolle.

Künstlich krank gemacht

Beispiel Parkinsonforschung: Als Therapie gegen Parkinson werden Patienten Zellen implantiert, die den Nervenbotenstoff Dopamin produzieren. Um herauszufinden, wie dabei Nebenwirkungen reduziert werden können, wird dies in der Ratte nachgestellt. Hierzu wird bei den Ratten zunächst ein parkinsonähnlicher Zustand ausgelöst, indem die entsprechenden Nervenzellen mit Gift zerstört werden. In einer zweiten Operation werden - wie beim Menschen - neue Zellen in das Hirn der Ratte implantiert. Nach 20 Wochen Untersuchungszeit werden die Tiere getötet. In diesem Versuch leiden sie erheblich unter den Operationen und den künstlich erzeugten Parkinson-Symptomen.

Leiden unter Entzug: alkoholkranke Ratten

Ratten werden auch in der Suchtforschung eingesetzt: Um herauszubekommen, inwieweit das "Kuschelhormon" Oxytocin einen positiven Einfluss auf das Verlangen nach Alkohol hat, werden Ratten künstlich alkoholabhängig gemacht. Bei einem Teil der Ratten wird dann der Oxytocin-Rezeptor im Gehirn blockiert. Anschließend wird Oxytocin in die Bauchhöhle gespritzt, um die Auswirkungen des Hormons auf das Suchtverhalten zu untersuchen. Die Tiere leiden dabei mehrfach: Einmal unter den Eingriffen, dann unter den Untersuchungen und den Entzugserscheinungen. Am Ende des Versuches steht - wie bei fast allen Versuchen - der Tod. Versuche dieser Art werden in unterschiedlichen Variationen durchgeführt.

Die Ratte in der angewandten Forschung

Ratten werden ebenfalls in der angewandten Forschung, auch translationale Forschung genannt, eingesetzt. Hier wird geprüft, ob die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sich auch in der Praxis bewahrheiten, beispielsweise, ob eine neue Substanz sich tatsächlich als Arzneimittel oder Medizinprodukt eignet und ob sie wirkt. In 2015 mussten die meisten Ratten in Tests von Medikamenten für Hormon- und Stoffwechselerkrankungen sowie für Nerven- und psychische Erkrankungen leiden. Fast 20.000 Ratten wurden beispielsweise zur Untersuchung der Wirksamkeit von Arzneimitteln gegen Rheumatoide Arthritis (RA) genehmigt - eine entzündliche und sehr schmerzhafte Gelenkentzündung.

Arthritis-Tests: erst Schmerzen, dann Tod

Auch hier wird die Krankheit künstlich in der Ratte erzeugt, indem entsprechende Bakterien in ein Gelenk injiziert werden. Durch die entstehende Entzündung schwillt das Gelenk an und beginnt stark zu schmerzen. Nun wird der Ratte das Medikament verabreicht und untersucht, ob es die Entzündung 4% beseitigt oder lindert. Am Ende der Versuche werden alle Ratten getötet. Der Versuch wurde wegen der dauerhaften und starken Schmerzen als schwer belastend eingestuft. Auch hier werden unterschiedliche Versuche durchgeführt. Ein weiterer Bereich, in dem viele Ratten eingesetzt werden, ist die Untersuchung der Wirksamkeit von Arzneimitteln für die sogenannte Osteoarthrose (OA). Die OA ist die häufigste Gelenkerkrankung. Erkrankte leiden unter chronischen Schmerzen durch den Abbau von Knorpel und Knochen. Auch hier wird die Erkrankung auf verschiedene Arten künstlich bei der Ratte erzeugt. Die Ratten leiden an dauerhaften Schmerzen und werden nach Abschluss der Testreihen getötet.

Großes Geschäft: Transgene Rattenmodelle

Noch ist die Maus das am häufigsten gentechnisch manipulierte Tier, doch auch die Zahl der genetisch veränderten Rattenmodelle wächst. So wurde beispielsweise eine Nacktratte für die Krebsforschung erzeugt, deren Immunsystem ausgeschaltet wurde. Weitere Beispiele sind Ratten mit künstlich erzeugtem Diabetes, Nierenerkrankungen, Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Darmkrebs oder Chorea Huntington. Für Untersuchungen an der Haut wurden durch gentechnische Veränderungen spezielle haarlose Albinoratten "erzeugt". Die "Herstellung" und Zucht dieser gentechnisch krank gemachten Tiere ist mittlerweile ein großes Geschäft. Eine schlanke Ratte eines nicht insulinpflichtigen Diabetes Typ II kostet beispielsweise je nach Alter des Tieres zwischen 330 und 590 Euro pro Tier. Bei all diesen Tieren, die als Modelle für die verschiedensten Krankheiten dienen, steckt das Leid quasi schon in den Genen und sie leiden ihr ganzes, meist kurzes, Leben unter den Symptomen.

Zweifel an der Übertragbarkeit

Die Befürworter von Tierversuchen - seien es Giftigkeitsstudien, Arzneimittelwirksamkeitsprüfungen oder die Grundlagenforschung - können sich der zentralen Kritik an der tierexperimentellen Forschung nicht entziehen: Tierversuchsergebnisse lassen sich nicht zuverlässig auf den Menschen übertragen. Grund sind die Artunterschiede. Selbst Menschenaffen reagieren mitunter ganz anders auf Wirkstoffe als wir. Belege dafür sind die vielen für sicher gehaltenen Medikamente, die trotz tierexperimenteller Erprobung wegen unerwarteter oder gefährlicher Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen werden mussten. Ähnlich sieht es bei den sogenannten Tiermodellen aus. Mittlerweile kritisieren selbst Tierversuchsbefürworter deren Übertragbarkeit auf den Menschen.

Kein Medikament trotz Tiermodellen

Konkretes Beispiel Osteoarthrose: Trotz der vielen "Tiermodelle" gibt es bisher kein zugelassenes Medikament, das den Krankheitsverlauf der Erkrankung nachweislich verbessert. In einem Faktenblatt der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes wird eingeräumt, dass die translationale Validität beschränkt sei und mehrere Arzneimittel sich zwar bei Tiermodellen als wirksam erwiesen hätten, bei der menschlichen Schmerzlinderung jedoch erfolglos gewesen seien.

Leiden für unnötige Medikamente

Ein weiterer zentraler Kritikpunkt ist, dass ein Drittel der neu auf den Markt gebrachten Medikamente keinen zusätzlichen Nutzen für Patienten haben. Dies ergab eine Anfang Januar 2017 veröffentlichte Untersuchung der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Nur bei 44 von 129 Medikamenten wurde ein klar nachweisbarer Zusatznutzen festgestellt. Bewertet wurden vor allem Medikamente, die bei Krebserkrankungen, Infektionserkrankungen wie Hepatitis oder bei Diabetes mellitus zum Einsatz kommen. Für all diese unnötigen Medikamente wurden Tierversuche durchgeführt. Der vermeintliche "Zusatznutzen" lieferte die Begründung für die "Unerlässlichkeit" der Versuche.

Lichtblicke bei den Sicherheitstests

Doch es gibt auch Lichtblicke: Im Vergleich zu 2014 ist der Anteil der verwendeten Ratten bei gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitstests um 7,5 Prozent auf 171.861 zurückgegangen. Auf OECD-Ebene laufen zudem aktuell mehrere Initiativen, um die Zahl der verwendeten Tiere im Bereich der akuten Giftigkeitstests weiter zu reduzieren. Dies zeigt, dass auch bei den Behörden ein Umdenken einsetzt.

Nötig: Gesamtstrategie zum Ausstieg aus dem Tierversuch

Noch hat die Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren jedoch wenig Auswirkung auf die tatsächliche Lage der fast drei Millionen Tiere, die jedes Jahr in Deutschland ihr Leben in Tierversuchen lassen. Um hier endlich den überfälligen Paradigmenwechsel weg vom Tierversuch durchzusetzen, setzt sich der Bundesverband für eine Gesamtstrategie zum Ausstieg aus dem Tierversuch ein. Dazu brauchen wir einen Masterplan, der klare Verantwortliche benennt, die gezielte Förderung tierversuchsfreier Verfahren und neue Kriterien bei der Vergabe von Fördermitteln.


Weitere ausführliche Informationen zum Versuchstier des Jahres finden Sie unter:
www.tierrechte.de

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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 1/2017, S. 7-9
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2017

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