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ATOM/288: Interview - "Die Regierung versucht, den Widerstand zu bremsen" (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 8 / Frühjahr 2010

"Die Regierung versucht, den Widerstand zu bremsen"

Dieter Rucht, Politologe und Bewegungsforscher, über die Hinhalte-Taktik von Schwarz-Gelb, den ambivalenten Umweltminister und die Chancen der Anti-Atom-Bewegung

Interview: Armin Simon


ARMIN SIMON: Herr Rucht, die Bundesregierung befindet sich seit Monaten im Zwist über ihre Atompolitik. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, sagt man. Gute Zeiten also für die Anti-AKW-Bewegung?

DIETER RUCHT: Es ist immer eine günstige Bedingung für eine soziale Bewegung, wenn die politischen Entscheidungsträger sich uneinig sind.

AS: Die Anti-AKW-Bewegung wird seit vergangenem Sommer deutlich und stetig stärker. Warum?

DR: Weil die Atom-Debatte, die schon beendet erschien, wieder aufgerollt wurde. Der Ausstieg aus der Atomenergie wird wieder öffentlich in Frage gestellt. Das ist ein Alarmsignal für alle, die jahrelang für diesen Ausstieg gekämpft haben und glaubten, das Ganze sei nun endlich eingetütet.

AS: Die Politik in Berlin nimmt diesen Unmut in der Bevölkerung über die Atompolitik sehr wohl wahr. Worin liegt denn die Macht der Anti-Atom-Bewegung?

DR: Zunächst einmal: Dass die Mehrheit der Bevölkerung Atomkraft ablehnt, ist allein noch keine Machtkomponente. Denn es ist häufig so, dass die Regierung auch eine Mehrheitsmeinung sehr wohl übergehen kann. Aber es gibt eben Fragen, die sich auch wahlpolitisch auszuwirken drohen. Darauf reagieren alle Amtsinhaber und Parteien sehr empfindlich. Und es könnte durchaus sein, dass die Atomfrage bei den kommenden Wahlen zu einem sehr wichtigen Thema wird.

AS: Hat die Regierung deswegen alle konkreten Entscheidungen auf die Zeit nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai verschoben?

DR: Ja. Damit versucht sie, den Widerstand zu bremsen. Denn solange nicht ganz klar ist, was passieren soll, bleiben verschiedene Deutungen möglich. Hätte die Regierung schon eine konkrete Entscheidung pro Atomenergie verkündet, wäre das ein zusätzlicher mobilisierender Faktor für die Bewegung und für die Oppositionsparteien.

AS: Bundesumweltminister Röttgen hat in mehreren Interviews das grundsätzliche Ziel eines Atomausstiegs betont - und die harschen Reaktionen von ParteifreundInnen dafür gerne in Kauf genommen.

DR: Naja, das ist ganz klar ein taktischer Schachzug. Tatsächlich vertritt Röttgen eine ambivalente Position, um dem Widerstand die Spitze zu nehmen. Einerseits können die Energiekonzerne erwarten, dass ihre Reaktoren länger laufen dürfen. Andererseits signalisiert er der Bevölkerungsmehrheit, die gegen Atomkraft ist: "Wir wollen ja im Prinzip aussteigen, es geht jetzt nur noch um ein paar Jahre mehr, um die Modalitäten, aber das ist kein Grund zur Aufregung."

AS: Dabei plädiert ja auch Röttgen für längere AKW-Laufzeiten. Und selbst eine Verlängerung um nur vier Jahre würde bedeuten, dass alle Reaktoren weiter am Netz blieben. Besiegt man so den Protest?

DR: Zumindest besteht so die Chance, dass der Protest nicht so scharf ausfällt. Und man gewinnt Zeit.

AS: Zeit wofür?

DR: Für eine neue politische Konstellation, in der man dann alles wieder revidieren kann. Jeder Versuch der Verlängerung der Ausstiegsfristen ist auch ein Versuch, der Atomkraft neue Startchancen zu ermöglichen. Ein verzögerter Ausstieg kann so am Ende sogar der Türöffner für einen neuen Atom-Einstieg sein. Immerhin preisen die Atomkraftbefürworter in Union und FDP ja den von Siemens mitentwickelten "Europäischen Druckwasserreaktor" (EPR) an, der angeblich sicherer sein soll. Und sie behaupten, dass Atomenergie einen Beitrag zum Klimaschutz darstelle.

AS: Was kann eine Bewegung einer solchen Strategie entgegensetzen?

DR: Information, Protest, Widerstand. Die Anti-AKW-Bewegung muss deutlich machen: Das ist eine Hinhaltetaktik, ein Offenhalten der Tür. Ganz abgesehen davon, dass jede Verlängerung auch bedeutet, dass mehr Atommüll angehäuft wird - seit inzwischen 50, 60 Jahren ein ungelöstes Problem.

AS: Und wenn Information und Aufklärung alleine nicht ausreichen?

DR: Dann hilft nur erneuter massiver Protest. Man muss signalisieren, dass man nicht schläft, dass man bereit ist, in den Konflikt wieder einzusteigen, auch in dieser Entschiedenheit, wie es in den 70er- und 80er-Jahren der Fall war. Und dabei die verschiedenen Möglichkeiten des Widerstandes nutzen: von juristischen Einsprüchen und Prozessen über einfache Demonstrationen bis hin zu Zivilem Ungehorsam, Blockaden etwa, die klar machen, es gibt Leute, die bereit sind, auch persönliche Risiken in Kauf zu nehmen für die Sache. So erhöht man den politischen Druck.


Dieter Rucht, 63, ist Ko-leiter der Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin und einer der beiden Herausgeber des "Handbuch Soziale Bewegungen in Deutschland seit 1949" (Foto: E. Riefer-Rucht)


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Quelle:
Rundbrief 8, Frühjahr 2010, S. 3
Herausgeber: .ausgestrahlt
Normannenweg 17-21, 20537 Hamburg
E-Mail: info@ausgestrahlt.de
Internet: www.ausgestrahlt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2010