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ATOM/326: Großflächige Verseuchung durch freigemessenen AKW-Abraum (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 638-639 / 27. Jahrgang, 1. August 2013

"Freigemessene" Radionuklide aus dem Rückbau von Atomkraftwerken werden mit Sickerwässern aus Deponien freigesetzt

Von Thomas Dersee



Alles konzentriert sich auf die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle. Inzwischen werden weitgehend unbeachtet die mit Abstand größten Abraummengen aus dem Rückbau der Atomkraftwerke den Vorschriften der Strahlenschutzverordnung gemäß "freigemessen" und zum Recycling oder zur Ablagerung auf normalen Deponien freigegeben. Wer nachfragt, ob auf einer solchen Deponie radioaktive Stoffe abgelagert wurden, erhält die Auskunft, dies sei nicht der Fall. So wurden zum Beispiel auf der Deponie Ihlenberg bei Schönberg, östlich von Lübeck, bis Mitte 2010 mehr als 14.500 Tonnen sogenannte freigemessene radioaktive Abfälle aus dem stillgelegten Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald abgelagert. Strahlentelex hatte ausführlich berichtet. [1]

Von den Atomkraftwerken Greifswald/Lubmin und Rheinsberg wird ein radioaktives Abfall- und Restvolumen von insgesamt 210.000 Kubikmeter erwartet. Nach Darstellung der Energiewerke Nord GmbH (EWN) können allein aus dem Atomkraftwerk Greifswald circa 1.200.000 Tonnen radiologisch restriktionsfreies Material und circa 500.000 Tonnen freizumessende Reststoffe in den Wirtschaftskreislauf beziehungsweise zur Deponierung als gewöhnliche Abfälle verbracht werden. Lediglich circa 100.000 Tonnen radioaktive Reststoffe müssen später als radiologische Abfälle zwischen- beziehungsweise endgelagert werden. [1]

Tatsächlich definiert die 2001 von der damaligen Bundesregierung novellierte Strahlenschutzverordnung die Stoffe unterhalb dort genannter Aktivitätskonzentrationen für die Freigabe als nicht mehr radioaktiv und entläßt sie aus der Überwachung. [2] Insofern sagen die Deponiebetreiber nicht die Unwahrheit, wenn sie behaupten, sie hätten keine radioaktiven Materialien bei sich zu liegen, obwohl Materialien aus dem AKW-Abriß mit entsprechenden Belastungen abgelagert wurden.

Mittlerweile entweichen die Radionuklide auch mit den Sickerwässern in die weitere Umgebung. Seit Mitte 2011 wird das Sickerwasser der Deponie Ihlenberg in halbjährlichem Abstand vom Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen der Untersuchungen nach Paragraph 3 des Strahlenschutzvorsorgegesetzes (IMIS-Routinemessprogramm) auf Radioaktivität untersucht, teilte das Schweriner Ministerium für Wirtschaft, Bau und Tourismus Mecklenburg-Vorpommern auf Bürgernachfrage in einem Bescheid vom 22. März 2013 mit. [3] In der Tabelle sind hier diejenigen Radionuklide aufgelistet, für die Meßwerte oberhalb der Nachweisgrenzen angegeben wurden.

Radionuklide in Sickerwässern der Deponie Ihlenberg lt. [3, 2]




Besonders auffällig ist die Belastung der Sickerwässer mit Tritium (H-3). Die angegebenen Werte zwischen 400 und 576 Becquerel pro Liter bzw. pro Kilogramm liegen zwar weit unter den laut Strahlenschutzverordnung für eine uneingeschränkte Freigabe zulässigen 1 Million (!) Becquerel pro Kilogramm, normal wären jedoch Werte kleiner als 2 bis 3 Becquerel pro Liter bzw. Kilogramm, was der Nachweisgrenze entsprechen würde.

Tritium (radioaktiver Wasserstoff) ist ein reiner Betastrahler mit einer physikalischen Halbwertzeit von 12,3 Jahren. Überwiegend wird es mit Wassermolekülen transportiert, in denen ein Wasserstoffatom durch Tritium ersetzt wird. Tritium kann deshalb die Erbinformationen in der DNA verändern und stark mutagen wirken. Im Strahlenschutz wird Tritium, das durch Filter oder ähnliches nicht zurückgehalten werden kann, vielfach mit der Begründung auf die leichte Schulter genommen, es könne sich nicht anreichern. Das ist jedoch falsch. Tritium hat im Vergleich zu Wasserstoff eine dreifach höhere Masse, weshalb Tritiumwasser zum Beispiel einen geringeren Dampfdruck hat, langsamer verdunstet und schneller kondensiert. Deshalb kann es sich in Böden und bei der Nährstoffaufnahme in Pflanzen anreichern. Der Tritiumgehalt in Böden und Pflanzen kann deshalb größer sein als im daneben fließenden Bach. Dasselbe gilt für Fische und Muscheln. [4]

Kommentar

Die mit der Freigabepraxis verbundenen Probleme einer großflächigen radioaktiven Verseuchung bleiben von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Eine Besonderheit ist dabei, daß es praktisch keine parlamentarische Opposition zu diesem Problemkreis gibt. Denn die Freigaberegelungen in der Strahlenschutzverordnung wurden 2001 unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung eingeführt.



Anmerkungen

[1] Brunnenvergiftung durch Freigabe von Atommüll in die Umwelt, Strahlentelex 564-565 v. 1.7.2010, S.1-2;
www.strahlentelex.de/Stx_10_564_S02-03.pdf und
Große Mengen Atommüll vorgeblich "freigemessen" und wie gewöhnlicher Müll auf Deponie abgelagert, Strahlentelex 570-571 v. 7.10.2010, S. 9-10;
www.strahlentelex.de/Stx_10_570_S09-10.pdf

[2] Strahlenschutzverordnung - StrlSchV vom 20. Juli 2001 in der zuletzt geänderten Fassung vom 4. Oktober 2011 (BGBl. I 2011, Nr. 51, S. 2000), Anlage III, Tabelle 1, Spalte 5 (uneingeschränkte Freigabe, feste und flüssige Stoffe)

[3] Ministerium für Wirtschaft, Bau und Tourismus Mecklenburg-Vorpommern, Kai Erichsen, Bescheid vom 22.03.2013, AZ: V-580-03200-2010/053-005

[4] S. Pflugbeil: Gründe für besondere Aufmerksamkeit im Umgang mit dem Wasserstoffisotop Tritium, Strahlentelex 406-407 v. 4.12.2003, S. 5-7
www.strahlentelex.de/Stx_03_406_S05-07.pdf
R. Scholz: Das Tritium-Problem, Informationen zur Strahlenchemie/biologie/pathologie und Bewertung einer Strahlenbelastung durch Tritium. Strahlentelex 122-123 v. 6.2.1992, S. 1,3,4
R. Scholz: "Was schwer Meßbar ist, kann auch nicht schaden"? Die falsche Bewertung von Tritium, Strahlentelex 84-85 v. 2.8.1990, S. 4
www.strahlentelex.de/Umweltradioaktivitaet.htm#Tritium


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_13_638-639_S06-07.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, August 2013, Seite 6-7
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2013