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DEBATTE/017: Freiheit für die Meere - Eine kurze Geschichte der Kritik der Freiheit der Meere (Intkom)


Verein für Internationalismus und Kommunikation e.V. (IntKom) - November 2009

Freiheit für die Meere
Eine kurze Geschichte der Kritik der Freiheit der Meere

Von Anna-Katharina Wöbse


Es ist eine alte Frage. Seit Menschen sich auf den Meeren bewegen, sie dort einander in friedlicher oder kriegerischer Absicht begegnen, seit sie auf Beutezug gehen und die maritimen Schätze nutzen, seitdem steht sie immer wieder auf der politischen Agenda. Wie tranchiert die Menschheit dieses Vermögen, wie verhalten sich die Nationen zu einem unteilbaren Raum, der über Jahrhunderte Inbegriff der Unergründlichkeit und Ungewissheit war? Das Meer macht 98% der Biosphäre aus - also des Ortes, wo Leben möglich ist. Es bedeckt 71% der Erdoberfläche.(1) War es vielleicht einfach zu groß, um von der Menschheit, die so sehr vom Land aus zu denken gewohnt ist, als verwundbarer Lebensraum, der Menschen, Tiere, Pflanzen, Organismen aller Art trägt, miteinander verbindet und ernährt, verstanden zu werden? Das Meer ist ein Ort historischer Untiefen, von den Geistes- und Sozialwissenschaften vernachlässigt, ohne schlagkräftige Anwaltschaft. Das Dogma der Unerschöpflichkeit und der freien Nutzung war jahrhundertelang mentalitätsprägend für das Mensch-Meer-Verhältnis.(2) Es hat zu einem Missbrauch des Lebensraumes Meer geführt, der dessen erstaunlich großzügige Produktivität existenziell gefährdet.


Das Recht aller Nationen zur vermeintlich gleichberechtigten Nutzung der Hohen See manifestiert sich dieser Tage in Überfischung, Vermüllung und schwerwiegender Verschmutzung der Ozeane. Dieser Ausbeutung birgt eine fast schon klassische Geschichte des Missbrauchs durch jene, die sich dieser Freiheit unbeirrt und Uneingeschränkt bedienten. Das gemeinsame Erbe der Menschheit wurde vor allem von denen ausgebeutet, die über die notwendige technische Infrastruktur und Logistik, über die potentesten Märkte und die politische Macht verfügen. Das hat einerseits zur Folge, dass immer weniger übrig bleibt für die, die nicht über diese Instrumente verfügen. Andererseits wird der Lebensraum der Meeresorganismen in ihrer schier unermesslichen Vielfalt und Eigenart zerstört. Dieser ökologische Verlust ist längst nicht mehr zu trennen von Fragen der Gerechtigkeit. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Kritik an dem Dogma der Meeresfreiheit. Es gibt eine längere und fast vergessene Tradition der Versuche, dem Lebensraum Meer - und das betrifft sowohl dessen Be- als auch AnwohnerInnen - gerecht zu werden.


EINE FOLGENSCHWERE BEHAUPTUNG

Eigentlich sind es drei schlichte Worte mit gutem Klang und dem positiven Ruch von Großzügigkeit, Offenheit und Allgemeinsinn: "Freiheit der Meere". Auf diese Formel brachte es 1605 der niederländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius als Antwort auf die damals schon brennende Frage, wem denn die Meere gehörten. Sein Rechtskonzept verstand die Ozeane als souveränitätsfreie Räume, die allen Völkern des Planeten offen standen. Nicht, dass der gute Mann ohne politische Intention gehandelt hätte. Ihm ging es wohl in erster Linie um die Gewährleistung ungehinderten Transports der Schiffe seines Dienstherren - es bedurfte zu diesem Zeitpunkt der Legitimierung der niederländischen Krone gegenüber den Seemächten Portugal und Spanien, ohne weitere Behinderung weltweit Güter zu verschiffen. Grotius Interpretation setzte sich weltweit durch - das Meer jenseits der Dreimeilenzone galt fortan als uneingeschränkt nutzbarer Raum. Grotius begründete seinen Rechtssatz unter anderem damit, dass die Natur keinem das Recht gebe, sich Dinge anzueignen, die genügend und unerschöpflich vorhanden seien.(3)

Die durch den Grundsatz der Meeresfreiheit legitimierte Spirale der Gewalt gegen Natur, von technischer Aufrüstung, Nachfrage nach Rohstoffen und globalen Märkten angetrieben, zeichnete sich bereits im 19. Jahrhundert ab. Zu den spektakulärsten Ausbeutungsgeschichten der Meere gehört ohne jeden Zweifel die Ausrottung diverser Walpopulationen. Die Modeinteressen und der Fetthunger Europas, bald auch Nordamerikas, führten dazu, dass die Walfänger immer weiter hinaus fahren mussten, um Beute zu machen. Der Grauwal war bereits im 17. Jahrhundert im Nordatlantik ausgerottet, die Pottwalbestände schrumpften. Von den mächtigen Nordkapern waren Ende des 19. Jahrhunderts nur noch Reliktbestände vorhanden. Aber das Mantra der Unerschöpflichkeit des Meeres blieb davon unberührt. Noch in den 1850er Jahren erklärten als Stellvertreter des Mainstreams sowohl Herman Melville, Autor des Klassikers "Moby Dick", als auch das zeitgenössische Populärorgan für alle zoologischen Fragen, der Große Brehm, die Unauslöschlichkeit des Wals. Ihre polaren Zufluchtsstätten würden die Wale der Welt vor einer endgültigen Ausrottung bewahren, oder wie Melville sich ausdrückte man erklärte den "Wal als Gattung für ewig"(4).


FRÜHER ZORN

Es gab einige Stimmen, die diesen Optimismus in Frage stellten. 1861 veröffentlichte der bedeutendste französische Historiker seiner Zeit, Jules Michelet, ein erstaunliches Buch über die Natur- und Kulturgeschichte des Meeres. Mit großer Weitsicht beschrieb Michelet darin die zeitgenössischen und zukünftigen Krisen der Meeresnutzung. Ein besonderes Augenmerk legte der Historiker auf die sich bereits im 19. Jahrhundert abzeichnende Übernutzung durch Jagd und Fischerei. Die ungeregelte Selbstbedienung der Nationen an den ozeanischen Schätzen erschien ihm als barbarischer Akt. Eine Übereinkunft müsse her, die Willkür und Chaos durch einen "Zustand der Zivilisation" ersetze. England, Frankreich und die Vereinigten Staaten sollten gemeinsam mit den anderen Nationen der Welt "eine Rechtsprechung des Meeres" erlassen. Michelet wollte aber weit mehr, als die Güter der See redlich unter den Staaten aufzuteilen. Er verlangte eine Neuregelung des Mensch-Natur Verhältnisses: "Es bedarf eines gemeinsamen Kodex der Nationen, anwendbar auf alle Meere, ein Kodex, der nicht allein die Beziehungen der Menschen untereinander, sondern zugleich die Beziehung des Menschen zu den Tieren festschreibt." Denn die bisherige brutale und kurzsichtige Praxis des Fischfangs erschien Michelet erbärmlich. Der Mensch sei es sich und den Tieren schuldig, "nicht ohne Grund zu töten und Schmerzen zu verursachen".(5) Aber solche elementare Kritik fand in einer Zeit der rasant beschleunigten Industrialisierung von Wal- und Fischfang zunächst nicht den Weg in eine breitere Öffentlichkeit.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg nahm ein Schweizer Naturwissenschaftler den kritischen Faden wieder auf. Paul Sarasin berief 1913 eine internationale Weltnaturschutzkonferenz in Bern ein und drang darauf, die gemeinsamen Naturgüter auch gemeinsam zu schützen. Anlass für seinen Rundumschlag für ein internationales Naturschutzsystem war wiederum der Walfang gewesen. Sarasin sparte dabei nicht an gehöriger Kapitalismuskritik. Der industrialisierte Walfang führe dazu, dass mit dem Walöl die "nutzloseste Verschwendung getrieben" werde. Folge der Überproduktion sei, dass beispielsweise in Italien statt des Olivenöls zunehmend Wal- und Seehundtran verwendet oder Tran für billige Seifen genutzt würde. Diese Verbrauchsarten aber "entsprechen keinem Bedürfnis, zwecklos werden die edlen Tiere hingeschlachtet und ausgerottet, nicht um den Dürftigen Nutzen zu bringen, sondern um den Kapitalisten Dividenden auszuschütten".(6) Dem Umwelthistoriker John McNeill zufolge folgten die Walfänger bei der rasanten Vernichtung der sich nur langsam reproduzierenden Walpopulationen nur ökonomischer Logik: "Wirtschaftliche Vernunft verlangte, die Wale so schnell wie möglich zu töten und die Einnahmen daraus in etwas, das sich schneller vermehrte, zu investieren: in Aktien, Anleihen oder selbst in Sparguthaben."(7) So wurden Hunderttausende der großen Meeressäuger dematerialisiert. Wenn nun Naturschutzaktivisten wie Sarasin oder sein amerikanischer Mitstreiter David Starr Jordan internationale Regulierung und Ausweisung großer Meeresschutzgebiete forderten, mussten sie zwangsläufig in harte Konfrontation mit diesen ökonomischen Interessen geraten. Der Erste Weltkrieg brachte die Diskussion über den Umgang mit dem Gemeingut Meer zu einem gewaltsamen Ende.


GEMEINGUT WELTMEER

1920 wurde der Völkerbund gegründet, mit dem sich zunächst die politikgewordene Hoffnung verband, die internationale Staatengemeinschaft würde gemeinsam in einer offenen Diplomatie für Frieden, Gerechtigkeit und Teilhabe sorgen. Auch hier tauchte bald die Frage auf, wem denn nun das Meer gehöre. Das Thema wurde 1925 in der Kommission zur Kodifikation internationalen Rechts behandelt. Es war der argentinische Juraprofessor José Léon Suárez, der seinen Kollegen Diskussionen über die Besitzverhältnisse an den Meeren und deren Schätzen geradezu aufdrängte.(8) Denn mit der so hoch gehaltenen Freiheit der Meere hatte gerade Südamerika schlechte Erfahrungen gemacht: Der Norden hielt sich an den Ressourcen des Südens schadlos. Suarez berichtete, was sich vor den Küsten dort abspielte: Argentinien hatte beispielsweise aufgrund der massiven Abnahme von Walen und Robben Jagdverbote jenseits der Dreimeilenzone erlassen. Verschiedene Staaten - darunter Großbritannien - hatten umgehend erfolgreich Beschwerde eingelegt. Ebenso hätte die USA interveniert, als Brasilien versucht habe, gewisse Nutzungskontrollen der Fischbestände jenseits der Zone durchzusetzen. Uruguay hatte der politischen Einflussnahme der englischen Regierung zugunsten kanadischer Robbenjäger nachgeben müssen. Regionaler Schutz wurde also durch internationale Ansprüche verhindert.

Was der argentinische Jurist vor über 80 Jahren in Genf diagnostizierte, ist heute keinen Deut weniger aktuell. Angesichts der Tatsache, dass sich die Ernährungssituation nicht proportional zu den steigenden Bevölkerungszahlen entwickele, sei man in absehbarer Zukunft dringend auf die Meere als zusätzlichem und reichen Nahrungslieferanten angewiesen. Suarez machte es dringend - es ging ums Hier und Jetzt.(9) Aus den nördlichen Gefilden seien die Wale und Robben schon verschwunden. Den gleichen Prozess könne man nun an den Küsten Patagoniens beobachten. Man bräuchte also "a wise System of regulation for marine industries", das über die Dreimeilenzone hinausreiche eine Art maritimes Gesamtmanagement. Suarez klagte an: die selbst ernannten Kernländer des Fortschritts und der Zivilisation nähmen nicht nur der Naturwissenschaft ihre Forschungsobjekte und bereicherten sich am Allgemeinbesitz, sondern sie vergriffen sich auch noch an "Wehrlosen". Hier wurde nicht weniger als die ökonomische Vorherrschaft einiger weniger fisch- und walfangenden Nationen der nördlichen Hemisphäre angefochten. Diese Fragen lägen im allgemeinen Interesse der Menschheit. Die Reichtümer der Meere stellten ein gemeinsames Erbe dar.

Suarez erhielt prominente Unterstützung: Das deutsche Kommmissionsmitglied Walther Schücking, ein renommierter Völkerrechtler, ordnete das Thema in einen global-juristischen Kontext ein und forderte ein radikales Umdenken. Das Verschwinden der Meeresfauna sei eine Konsequenz daraus, dass man das freie Meer bisher als "Res nullius" und nicht als "Res communis" verstanden habe. Der Völkerrechtler sah in einem neuen Meeresregime eine grundsätzliche Chance - nicht nur für die bedrängten Walfische. Die gemeinsame Nutzung und der gemeinsame Schutz des Meeres sollte als neues Rollenmodell für internationales Recht dienen. Und dieses neue Rechtsverständnis würde auf Solidarität der Nationen basieren. Die Chancen, einen Präzedenzfall für eine zukünftige internationale Rechtsordnung, die die Welt jenseits der Nationalstaaten als eine globalen Allmende verstehen würde, zu schaffen, verging jedoch. Für einen kurzen Moment hatte sich eine Tür zu einer wegweisenden Neuinterpretation der Verantwortung über die dauerhafte Nutzung von und die gemeinsame Verantwortung für die Ozeane geöffnet. Aber die einzige Regulierung, auf die sich die Staatengemeinschaft 1931 verständigen konnte, war eine erste Walfangkonvention. Sie war ein schwaches Instrument, weil sie keinerlei Sanktionsmöglichkeiten gegen Verstöße bot. Immerhin lieferte sie langfristig die Basis für alle späteren Konventionen - bis hin zum Walfang-Moratorium von 1986.


EINE LOBBY FÜR DAS MEER

In der Nachkriegszeit blieb das Meer zunächst seltsam unbeachtet. Auch die junge Weltnaturschutzorganisation IUCN, 1946 mit Hilfe der UNESCO gegründet, war diesen Fragen gegenüber erstaunlich ignorant. In einzelnen Bereichen bewegten sich zwar etwas, aber nicht unbedingt zum Guten. 1946 beispielsweise wurde die Internationale Walfangkommission IWC gegründet. Aber hier wurde der Bock zum Gärtner beziehungsweise die Walfangnationen zu Regulierern gemacht - und der Walfang explodierte. 1958 verabschiedete die UN ihre erste Seerechtskonvention, die in erster Linie das überkommene Gewohnheitsrecht spiegelte. Währenddessen wuchsen auch die Ansprüche an die Weltmeere. Die USA begann die Nutzungsrechte ihres Kontinentalschelfs durchzusetzen, die Walfängerflotten wuchsen ebenso wie die Fischereiflotten der Industrienationen, und die nun souveränen sogenannten Drittweltstaaten konnten nur dabei zusehen, wie vor ihren Küsten hemmungslos aus dem Meer gefischt wurde, was nicht bei drei aus der Reichweite der Netze war. Dieser Zugriff hatte wiederum zur Folge, dass diese jungen Staaten oft ihre Hoheitsgewässer massiv ausdehnten. Mit jedem neuen Nutzungsanspruch wuchs ein Stück weit die Anarchie im Umgang mit dem Meer.

Eine Lobby, die dem Lebensraum Meer jenseits ökonomischer und militärischer Interessen zu einer öffentlichen Präsenz verhalf, musste erst noch entstehen. Die kleine internationale Naturschutzcommunity konzentrierte sich zunächst auf die schillernden Tiergestalten an Land. Selbst eminente Forscherinnen wie die US-amerikanische Biologin Rachel Carson oder der Franzose Jacques Costeau, die mit ihren Büchern und Filmen halfen, die Schönheit, Eigenart und Faszination der ozeanischen Unterwasserwelt zu popularisieren, gingen zunächst davon aus, die Meere seien im großen und ganzen unverletzlich. Erst im Laufe der 1960er Jahre rückten die Meere mehr in den zivilgesellschaftlichen Fokus. Zu den Umweltorganisationen, die quasi dem Meer entstiegen, gehört Greenpeace. Sie entstand als Reaktion auf die Atomwaffentests vor der Küste Alaskas. Nordamerikanischer FriedensaktivistInnen machte sich im September 1971 auf den Weg, um gegen die menschen- und naturzerstörerische Atomwaffenpolitik selbst einzustehen und die Sache publik zu machen. Kurz darauf protestierten Aktivistinnen gegen das Robbenschlachten in Kanada, bald warfen sie sich auf offener See in den notorischen Schlauchbooten zwischen die sowjetischen Walfangschiffe und die Gejagten - die Wale. Diese Aktionen trugen ohne Zweifel erheblich dazu bei, aus dem gejagten Wal ein Symbol für die bedrohten Weltmeere zu machen.

Der Wal- und Robbenfang ist nach wie vor ein wichtiges Thema der Organisation, aber der Blick auf das Meer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm erweitert. Es ist längst klar, dass Umweltdiskurse nicht ohne die Frage von Gerechtigkeit geführt werden können. Die massive Entnahme großer Raubfische beispielsweise droht das gesamte Ökosystem Meer zu destabilisieren und damit auch die Lebensverhältnisse derer, die unmittelbar von den Ozeanen abhängig sind. Ende der 1990er Jahre starteten die großen Kampagnen gegen Piratenfischerei. Der Begriff signalisiert, dass es sich dabei um eine Form von maritimer Gewaltherrschaft handelt und die letzte Konsequenz eines Wirtschaftssystems repräsentiert, das skrupellos nimmt, was es kriegen und verkaufen kann. Piratenfischer registrieren ihre Fangschiffe in sogenannten Billigflaggenländern, die keinem Fischereiabkommen angehören. Diese Länder verkaufen ihre Flaggen an Schiffseigner in Japan, den USA und Europa, die so die internationalen Fischereiabkommen umgehen können. Greenpeace setzt diesen modernen Freibeutern, deren Flotte auf etwa 1300 Schiffe geschätzt wird, nach. Und sie dokumentiert ihre Beutezüge wie beispielweise 2001 vor der westafrikanischen Küste. Die Piratenfischer setzen dort gezielt auf die Schwäche dieser Staaten. Guinea etwa besitzt lediglich vier Schlauchboote, um seine Küstengewässer zu kontrollieren. Greenpeace unterstützt zudem gezielt die Bevölkerung der kleinen südpazifischen Inselstaaten in ihrem Kampf gegen die Übermacht der industriellen Fangflotten aus Europa, den USA und Südostasien, die den großen Raub- und Speisefischen wie Schwertfisch, Thunfisch und Kabeljau nachsetzen. Hier gibt es noch große intakte Bestände, zu denen sich die Industrienationen durch unfaire Fischereiabkommen Zugang verschaffen. Der Profit geht in den Norden. Ganz einfach. 2006 wurde die Zusammenarbeit mit den Staaten von Mikronesien und Kiribati verstärkt. Die gemeinsamen Patrouillen von zivilgesellschaftlichen, staatlichen und lokalen Akteuren während einer siebenwöchigen "joint enforcement exercise" sollte die Übergriffe durch die Industriefischerei des Nordens bekannt machen und eindämmen. Es geht bei diesen Kampagnen nicht allein darum, die Piratenfischerei zu dokumentieren, die Verbraucherinnen aufzuklären oder politisch Einfluss zu nehmen, sondern auch die Menschen sichtbar zu machen, die ihrerseits auf diesen Schiffen missbraucht werden. Dort herrschen oft sklavenähnliche Ausbeutungsverhältnisse. Inzwischen kooperiert Greenpeace deshalb auch mit Organisationen wie der "Environmental Justice Foundation" und der "International Transport Workers Federation".


EINE ANDERE FREIHEIT

Eisensulfatdüngung, CO2-Speicherung, Piratenfischerei, Manganknollenernte im großen Stil, Territorialisierung und Privatisierung: Der Zugriff auf die Weltmeere hat sich in den letzten Jahren derart beschleunigt, dass die Umwelt- und EntwicklungsaktivistInnen sich bisweilen nur schockiert die Augen reiben. Das Dogma der Unerschöpflichkeit ist inzwischen ad absurdum geführt. Viel zu lange hat es die Begehrlichkeiten des Wachstumszwangs bedient. Die alte Doktrin der Meeresfreiheit hat ihr ganzes zerstörerisches Potenzial gezeigt und ein Free-Rider-Verhalten gefördert, dass der Allgemeinheit auf Dauer massiv schadet. Freiheit muss anders sein, wenn es um eine ökologische und soziale Gerechtigkeit geht. Eine radikale Neuinterpretation hat die Umwelt-Organisation Greenpeace International angeboten. Es ist ein einziges Wort, mit dem Greenpeace im Mai 2005 den Paradigmenwechsel auf den Punkt brachte: Aus "Freedom of the Seas" soll "Freedom for the Seas" werden.(10) In der Umdeutung der Freiheit spiegeln sich die Forderungen der frühen KritikerInnen wider, der Vielfalt der Bedürfnisse von Be- und AnwohnerInnen gerecht zu werden. Grundlage ist die Anerkennung des Meeres als gemeinsamen Erbe der Menschheit. Um dieses Erbe auf Dauer zu enthalten, bedarf es einer Reihe konkreter Massnahmen, die auf eine Entschleunigung der Ausbeutung abzielen. Es soll fortan ein Vorsorgeansatz für jegliche Bewirtschaftung der internationalen Gewässer gelten. Sie werden zu Meeresschutzonen, die erst genutzt werden dürfen, wenn der Nachweis erbracht ist, dass das Öko-System nicht geschädigt wird.

Die Frage, wem denn das Meer gehöre, muss mit einer neuen Vehemenz auf die politische Agenda gebracht werden. Das wird nicht ohne eine neue breite Allianz ganz unterschiedlicher Akteure gehen. Der Zersplitterung des Meeres im politischen Diskurs, seine Zerlegung in seine ökonomischen, militärischen, ökologischen und sozialen Teile, läuft seinem globalen Charakter zuwider. Gleichzeitig könnte das Meer den einen Pool bilden, in dem die sich die so unterschiedlichen Anrainer und Akteure jenseits nationaler Interessen zur gemeinsamen Identitätsfindung zusammenfinden. Es ist dringend Zeit, das Meer als gemeinsamen Raum der Menschheit zu entdecken und zu vermitteln. Nur in der Lesart eines Gemeingutes, eines "global commons" kann man dem globalen Charakter der Ozeane gerecht werden.(11)


Anmerkungen

1) Poul Holm: Oceans and Seas, in: Shepard Krech III / J.R. McNeill / Carolyn Merchant: Encyclopedia of World Environmental History, Band 3, New York, London (Routledge) 2004, S. 957-962.

2) Callum Roberts: The unnatural history of the sea. Washington (Island Press), 2007.

3) Norman Paech/Gerhard Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg (VSA_Verlag) 2001, S. 806-807.

4) Hermann Melville: Moby Dick. Frankfurt am Main (Insel Verlag), 2003, S. 615.

5) Jules Michelet: Das Meer. Frankfurt/New York (Campus), 2006. S. 242-243.

6) Paul Sarasin: Über die Ausrottung der Wal- und Robbenfauna sowie der arktischen und antarktischen Tierwelt überhaupt. Basel 1912, S. 9.

7) John McNeill: Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York (Campus), 2003, S. 260.

8) Archiv des Völkerbundes, Genf: 6th Meeting of the Committee of Experts for the Progressive Codification of International Law, 6th April 1925. C.P.D.I./1st Session/P.V. S. 29-30.

9) Archiv des Völkerbundes, Redebeitrag Suarez, 8th Meeting, 7.4.1925. C.P.D.I./1st Session/P.V.

10) Greenpeace International: Freedom for the seas, for now and for the future. Mai 2005.
http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/meere/Freedom_for_the_seas.pdf
S.a. http://www.greenpeace.at/uploads/media/Freedom_For_the_Seas.pdf und http://www.greenpeace.at/meeresschutz.html

11) Helfrich, Silke / Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter. München (oekom), 2009. S.a. Kaul, Inge / Grunberg, Isabelle / Stern, Marc: Global Public International Cooperation in the 21st Century. New York 1999.


Die Autorin Anna Katharina Wöbse ist Umwelthistorikerin in Bremen.


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Quelle:
Wem gehört das Meer?, S. 56 - 61
Eine Informations- und Bildungsbroschüre zur Meerespolitik 11/2009
Herausgeber und Redaktion:
Verein für Internationalismus und Kommunikation e.V.
Bernhardstraße 12, 28203 Bremen
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Internet: www.intkom.info


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2010