Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → FAKTEN

KATASTROPHEN/079: Neue Notfallpläne bringen nur vergleichsweise reduzierten Strahlenschutz (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 654-655 / 28. Jahrgang, 3. April 2014

Katastrophenplanung

Neue deutsche Notfallpläne bringen nur vergleichsweise reduzierten Strahlenschutz

von Thomas Dersee



Zum dritten Jahrestag der Reaktorenkatastrophe von Fukushima hat die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK) jetzt neue Empfehlungen für die Notfallpläne rund um die deutschen Atomkraftwerke vorgelegt. Sie beziehen sich auf eine Analyse des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) vom April 2012, "basierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima" (vergl. Strahlentelex 646-647 vom 05.12.2013, S. 6-7). Demnach sollen nach einer schweren Atom-Havarie in Deutschland oder in den Nachbarstaaten die Anwohner in einem Radius von künftig fünf statt bisher zwei Kilometern innerhalb von spätestens sechs Stunden aus dieser sogenannten Zentralzone evakuiert werden. Die SSK geht davon aus, daß in diesem Bereich effektive Strahlendosen von 1.000 Millisievert (mSv) und 1.000 Milligray (mGy) Dosis für das rote Knochenmark bei Erwachsenen und Kleinkindern innerhalb von 7 Tagen bei Daueraufenthalt im Freien für die dortige Bevölkerung erreicht und überschritten werden können. Schwellendosen von etwa 100 mGy für Fehlbildungen, die besonders in den Wochen 3 bis 7 einer Schwangerschaft ausgelöst werden können und von etwa 300 mGy für geistige Retardierung nach Exposition in den Wochen 8 bis 15 (nach Ansicht der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP 2007), würden außerhalb eines 5-Kilometer-Radius nicht mehr erreicht.

Der Radius der sich daran anschließende Mittelzone soll zudem von 10 auf 20 Kilometer vergrößert und innerhalb von 24 Stunden geräumt werden. Bis zu dieser Entfernung müsse mit dem Überschreiten der Eingreifrichtwerte für "Evakuierung" (100 mSv effektive Dosis), "Einnahme von Jodtabletten" (Schilddrüsen-Organdosen von 50 mSv für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und Schwangere sowie 250 mSv für Personen von 18 bis 45 Jahren) und "Aufenthalt in Gebäuden" (10 mSv effektive Dosis durch äußere Exposition und inhaliertes Radiojod bei Daueraufenthalt im Freien) sämtlich innerhalb von 7 Tagen gerechnet werden.

Die Außenzone von bisher 50 soll zudem auf 100 Kilometer Radius erweitert werden. Hier sollen die Behörden darauf vorbereitet sein, den Teil der Bevölkerung schnell mit Jodtabletten zu versorgen, der nicht älter als 45 Jahre ist, weil für diese die vorstehenden Eingreifrichtwerte für die Schilddrüse ebenfalls noch erreicht und überschritten werden können. Und weil das auch noch in Entfernungen bis zu 200 Kilometern möglich sei und mit einem Radius von 200 km um deutsche und grenznahe Anlagen der Nachbarstaaten fast das gesamte deutsche Staatsgebiet abgedeckt wird, hält es die SSK für sinnvoll, im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Vorbereitungen zur Verteilung von Jodtabletten zu treffen. In dem neuen 100-Kilometer-Ring um die Atomkraftwerke befinden sich dann auch zahlreiche Großstädte, darunter die Millionenstädte Hamburg und München. In ihrem Einzugsbereich liegen die aktiven Atomkraftwerke Brokdorf (Schleswig Holstein) und Isar (Bayern).

Damit wohnen nicht mehr einige hunderttausend Menschen in Evakuierungsgebieten, sondern mehrere Millionen, womit alle mit der Katastrophenbewältigung befaßten Behörden und Organisationen überfordert sein dürften. Die bisherigen Notfallplanungen waren zudem lediglich von einer einmaligen, zeitlich begrenzten Freisetzung von Radionukliden ausgegangen, nicht aber von einer länger andauernden, wie dies in Fukushima stattfand und teilweise immer noch anhält.

Furcht vor Diskussionen

Langfristig umgesiedelt werden soll bislang in Gebieten, in denen eine jährliche Strahlenbelastung von mehr als 100 Millisievert infolge des radioaktiven Niederschlags zu erwarten ist. Wie verlautet hatte man in der SSK diskutiert, diesen Wert auf 50 mSv zu halbieren. In ihrer jetzt veröffentlichten Empfehlung spricht die SSK jedoch nicht mehr davon. In Japan beträgt dieser Wert nämlich lediglich 20 Millisievert und bei Tschernobyl betrug er sogar nur 5 Millisievert pro Jahr. Der deutsche Strahlenschutz ist damit schlechter als der in Japan und in den Ländern der früheren Sowjetunion. 20 Millisievert jährlich ist zudem der Wert, der beruflich strahlenexponierten Personen zugemutet wird. Diese Tatsachen könnten zu einer Diskussion des deutschen Richtwertes führen und dessen Absenkung die Größe der betroffenen Gebiete und die Zahl der betroffenen Personen vervielfachen, wird befürchtet. Offenbar ist das der Grund, weshalb dies jetzt von der SSK nicht mehr erwähnt wird.

Die neue Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) erklärte am 10. März 2014 in Berlin, sie unterstütze die Empfehlungen der SSK und werde diese an die Innenministerkonferenz weiterleiten. Zudem sollten die Notfallpläne auch mit den Nachbarstaaten abgestimmt werden, denn diverse ausländische Atomkraftwerke stehen in unmittelbarer Nähe der Landesgrenzen. Die Region Berlin-Brandenburg wäre zudem künftig von dem von der polnischen Regierung unter dem Premier Donald Tusk befürworteten Bau eines Atomkraftwerks bei Danzig bedroht. Für die Umsetzung der Pläne sind in Deutschland die Bundesländer zuständig. Deshalb ist unklar, wann sie in Kraft treten werden. Die zuständigen Innenminister treffen sich das nächste Mal im Juni 2014. Eine vorangegangene Empfehlung der SSK aus dem Jahre 2006 war erst nach zwei Jahren rechtlich wirksam geworden.

Strahlenschutzkommission (SSK):
Planungsgebiete für den Notfallschutz in der Umgebung von Kernkraftwerken - Empfehlungen der Strahlenschutzkommission vom 13./14. Februar 2014. www.ssk.de


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_654-655_S09-10.pdf

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, April 2014, Seite 9-10
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2014