Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → FAKTEN

VIELFALT/229: Der Wert der Vielfalt (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 3/2014

Der Wert der Vielfalt

von Klement Tockner



Die Hälfte der Arten droht bis zum Ende des Jahrhunderts verloren zu gehen. Ihr Erhalt zählt zu den wichtigsten Herausforderungen der Menschheit, denn die Vielfalt ist nicht nur von ökonomischem Wert - sondern Grundlage unseres Wohlergehens.

Wir befinden uns inmitten einer dramatischen Zeitenwende - vom Holozän hin zum Anthropozän. Seit Beginn der industriellen Revolution, besonders aber seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts, hat der Mensch die Geo-, Hydro-, Bio- und Atmosphäre global, langfristig und zumeist unumkehrbar verändert. Dazu zählen die Anreicherung von Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre und die Versauerung der Ozeane ebenso wie die Ausbeutung fossiler Grundwasserspeicher. Besonders betroffen ist die Biosphäre: Ökosysteme wurden fast flächendeckend "domestiziert", das heißt zum größtmöglichen und zumeist kurzfristigen Nutzen für den Menschen verändert. Heute sind mehr als 75 Prozent der eisfreien Landoberfläche durch den Menschen überprägt. Diese Eingriffe in die Biosphäre haben eine rapide Veränderung der biologischen Vielfalt zur Folge.

Neun von zehn Arten unentdeckt

Biodiversität, die Vielfalt des Lebens auf der Erde, von der genetischen Vielfalt über die Artenvielfalt bis hin zur Diversität der Ökosysteme, bildet die Grundlage unseres Wohlergehens. Vielfältige Ökosysteme und Lebensgemeinschaften sichern unsere Ernährung und die medizinische Versorgung, dämpfen die Auswirkungen der Klimaveränderung und versorgen uns mit sauberem Trinkwasser. Die biologische Vielfalt hat somit auch einen ökonomischen Wert. Um zu überzeugen, dass Biodiversität erhaltenswert ist und gefördert werden muss, wird deshalb vermehrt mit ihren "Leistungen" und deren ökonomischen Nutzen argumentiert. Verstärkt berücksichtigt werden müssen jedoch und ethisch begründete Aspekte für den langfristigen Erhalt der Biodiversität.

Die biologische Vielfalt ist gefährdeter denn je. Zwar gibt es heutzutage mehr Arten als je zuvor in der Erdgeschichte, jedoch ist die Aussterberate um das Hundertfache höher als in der Vergangenheit. Ohne tiefgreifende Maßnahmen muss bis zum Ende dieses Jahrhunderts mit einem Verlust von bis zu 50 Prozent der globalen Artenvielfalt gerechnet werden. Der Rückgang der Vielfalt ist wahrscheinlich dramatischer als vermutet, da von den etwa neun bis zwölf Millionen Arten höherer Lebewesen bislang erst 1,2 Millionen beschrieben sind. Das bedeutet, dass rund 90 Prozent aller Arten noch auf ihre Entdeckung warten - und womöglich verschwinden, bevor sie überhaupt erfasst werden können.

Die wesentlichen Ursachen für den rapiden Rückgang der Biodiversität sind der Verlust an Lebensräumen, der Klimawandel, die rasante Ausbreitung gebietsfremder Arten sowie die Überdüngung von Land- und Wasserökosystemen. Zwar macht sich der Artenrückgang zu Beginn kaum bemerkbar, wird jedoch ein bestimmter Schwellenwert unterschritten, kann es zu unvorhersehbaren Folgewirkungen für Mensch und Natur kommen.

Lebensraum Wasser besonders unter Druck

Besonders dramatisch ist die Situation in Gewässern. Bäche, Flüsse und Seen sind Zentren der biologischen Vielfalt. Obwohl sie nur etwa ein Prozent der Erdoberfläche bedecken, beherbergen sie zehn Prozent aller Tierarten, 30 Prozent aller Wirbeltiere und 40 Prozent aller Fische. Bis zu 20.000 dieser Arten sind bereits verschwunden oder besonders gefährdet, so zum Beispiel 15 der 27 Störarten weltweit. Das World Economic Forum listet die globale Wasserknappheit als eine der drei größten Herausforderungen unserer Zeit. Der Druck auf die Ressource Wasser wird also weiter zunehmen. Dabei muss sichergestellt werden, dass Wasser nicht nur als Ressource für uns Menschen dient, sondern zugleich Lebensraum für eine einzigartige und vielfältige Fauna und Flora bietet.

Der langfristige Erhalt der biologischen Vielfalt zählt zu den wichtigsten globalen Herausforderungen der Menschheit. Dabei ist ein grundlegendes Umdenken im zukünftigen Management unserer Ökosysteme erforderlich. Ein rein konservatorischer Ansatz, wie er im Natur- und Artenschutz häufig praktiziert wird, greift im Zeitalter des Anthropozän zu kurz und wird eine nachhaltige Sicherung der biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen nicht gewährleisten können. Zwar muss dem Schutz der naturnahen Lebensräume höchste Priorität eingeräumt werden, zugleich müssen wir aber auch unsere vielfach überformten Ökosysteme auf der Grundlage gesellschaftlicher Erfordernisse aktiv gestalten. Der Erhalt der biologischen Vielfalt muss gleichberechtigt neben der Nutzung unserer Ökosysteme durch den Menschen stehen. Die Biodiversitätsforschung erfordert insbesondere eine integrative und transdisziplinäre Herangehensweise: Forschung und Praxis hängen eng zusammen. Schutz und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt erfordern innovative Maßnahmen und sind zugleich eng an die sozio-ökonomische und demographische Entwicklung, Armutsbekämpfung, soziale Gerechtigkeit und Sicherung der (menschlichen) Gesundheit gekoppelt.

Der Weltbiodiversitätsrat
Der Schutz und die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt haben sich von einem Nischen- zu einem gesellschaftlichen und politischen Megathema entwickelt. Nach jahrelangen Vorbereitungen gründeten im April 2012 in Panama 90 Regierungen die "Zwischenstaatliche Plattform zur Biodiversität und Ökosystemleistungen", kurz IPBES. Die Aufgabe der UN-Organisation: das vorhandene Wissen über die biologische Vielfalt global sicherstellen und gebündelt für politische Entscheidungsprozesse verfügbar machen. Wissenschaftler aus aller Welt werden an einer globalen Bewertung für den ersten "Weltbiodiversitäts-Bericht", ähnlich dem Weltklima-Bericht, als unabhängige Experten und Autoren mitwirken. Die Entscheidung für Bonn als Sitz des IPBES-Sekretariats dürfte zudem neue Impulse für die Biodiversitätsforschung in Deutschland setzen.

Klement Tockner ist Sprecher des Leibniz-Verbunds Biodiversität und Direktor des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Zudem hält der gebürtige Österreicher eine Professur für Aquatische Ökologie an der Freien Universität Berlin. Tockner ist ein gefragter Experte für Umwelt- und Biodiversitätsfragen. Zuletzt berief ihn das nationale japanische Umweltforschungsinstitut NIES als Mitglied seines wissenschaftlichen Beratergremiums.

*

Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft
Nr. 3/2014, Oktober 2014, Seite 14-15
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Chausseestraße 111, 10115 Berlin
Tel.: 030/20 60 49-0, Fax: 030/20 60 49-55
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de
Redaktion:
E-Mail: journal[at]leibniz-gemeinschaft.de
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de/journal

Das Leibniz-Journal erscheint vier Mal jährlich
und kann über die Redaktion kostenlos abonniert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang