Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → INDUSTRIE

KATASTROPHEN/040: Interview - Grenzen und Defizite des Schutzes bei Atomkatastrophen (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 17 / Sommer 2012

"Dann ist alles Makulatur"

Karin Wurzbacher, Diplom-Physikerin beim Umweltinstitut München, über Grenzen des Schutzes bei Atomkatastrophen und Defizite der amtlichen Katastrophenschutzpläne



Frau Wurzbacher, zwei, zehn, 25 Kilometer - was hat das mit einem Atomunfall zu tun?

Karin Wurzbacher: Das sind die Planungsgrundlagen für die Katastrophenschutzpläne: Hilfsmaßnahmen sind nur für Menschen innerhalb der 25-Kilometer-Zone um ein AKW vorgesehen, Evakuierungen sogar nur bis zehn Kilometer Entfernung. Die Ringe sind noch dazu kuchenförmig in jeweils 12 Sektoren eingeteilt, je nach Windrichtung. Im Falle einer Evakuierung ist jedem Sektor ein eigenes Auffanggebiet zugeordnet.

Und wenn der Wind dreht?

Dann ist das alles Makulatur. Dann können bestimmte Auffanggebiete nicht mehr angefahren werden, alle würden kreuz und quer durcheinander fahren.

Was ist jenseits der 25-Kilometer-Grenze?

Dort gibt es keine besonderen Katastrophenschutzpläne mehr - weil angeblich nicht mehr erforderlich. Zuständig wären dann die Landratsämter. Man muss sich also selbst helfen.

Nach dem Super-GAU in Fukushima wurden dort Menschen zum Teil in Gebiete evakuiert, die viel strahlenbelasteter waren als die, aus denen sie fliehen mussten.

Das kann hier auch passieren. Natürlich sind Messungen geplant und es gibt Wetterprognosen. Aber wir wissen doch, das Wetter ist nicht immer so zuverlässig.

Welche Maßnahmen sollen die Bevölkerung nach einem Atomunfall akut schützen?

Erstens "im Haus bleiben". Zweitens Evakuierung. Drittens Jodtabletten.

Beruhigt Sie das?

Nicht sehr. Ausgangspunkt für all diese Überlegungen ist, dass man mehrere Tage Zeit hat. Dass man es nur mit einem kleinen Leck zu tun hat, dass der Sicherheitsbehälter des Reaktors, das Containment, doch einiges an Radioaktivität zurückhalten kann. Das ist aber völlig unrealistisch. Fukushima hat gezeigt, dass bereits einige Stunden ausschlaggebend sein können. Oder Tschernobyl, das flog mehr oder weniger sofort in die Luft. So was ist in den Katastrophenschutzplanungen nicht vorgesehen. Eine Hochdruckkernschmelze etwa hat man lange Zeit schlicht nicht für möglich gehalten.

Eine was?

Eine Hochdruckkernschmelze. Da würde der Reaktordruckbehälter unter Umständen wie ein Geschoss aus dem Containment fliegen. Es hat dazu Versuche gegeben, da ist er ziemlich weit geflogen. In so einem Fall bleibt natürlich keinerlei Vorwarnzeit mehr.

Greenpeace hat dasselbe mal für den Fall eines Flugzeugabsturzes auf das AKW Brunsbüttel nachgewiesen.

Das ist doch klar: Wenn das Containment, sei es nun durch Flugzeugabsturz, Erdbeben oder Explosion, massiv beschädigt wird, dann kommt es sofort zu Freisetzungen radioaktiver Stoffe.

Brunsbüttel war aber ein besonders altes AKW, praktisch ohne Betonhülle.

Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) hat ja nach den Anschlägen vom 11. September 2001 untersucht, was passiert, wenn ein Flugzeug auf ein AKW abstürzt. Ergebnis: Auch die neuesten Reaktoren hierzulande sind nur gegen den Absturz eines Phantom-Jagdflugzeugs ausgelegt. Schon die Erschütterungen beim Absturz einer großen Passagiermaschine können jedes AKW massiv beschädigen.

Im Haus bleiben oder fliehen - das sind ja nun zwei grundverschiedene Maßnahmen. Wonach richtet sich, welche davon die Behörden anordnen?

Nach der hochgerechneten, in den nächsten sieben Tagen zu erwartenden Strahlendosis. Ab 10 Millisievert lautet die Anordnung "im Haus bleiben", ab 100 Millisievert "Evakuierung". Ursprünglich war es so gedacht, dass die Bevölkerung erst mal im Haus bleibt und dass dann eventuell bei steigender Strahlenbelastung eine Evakuierung folgt.

Wo ist das Problem?

Wenn die Strahlung schon so hoch ist, dass ich unbedingt im Haus bleiben, alle Fenster und Türen dicht machen, die Lüftung ausschalten und in den Keller gehen soll, dann kann ich nicht nach draußen in die radioaktive Wolke gehen, ins Auto steigen, wo ich Radioaktivität einatme. Oder das Fenster öffnen und ein weißes Laken raushängen. Oder mich an einen Sammelpunkt begeben und dort auf den Bus warten, der mich wegbringen soll. Oder mich, wenn kein Bus kommt, an die Durchgangsstraße stellen und den Daumen hochhalten. So was aber sehen die Katastrophenschutzpläne vor.

Bleiben noch die Jodtabletten.

Diese muss man in der Regel abholen und dazu muss man rausgehen - vermutlich genau dann, wenn schon viel radioaktives Jod freigesetzt ist. Jodtabletten sollte man einnehmen, bevor man Kontakt mit der radioaktiven Wolke hat. Schluckt man sie erst später, ist die Wirkung gering oder gar nicht mehr vorhanden.

Das Bundesamt für Strahlenschutz hat nach dem Super-GAU in Fukushima neue Ausbreitungsrechnungen für Unfälle in deutschen AKW durchgeführt. Warum eigentlich?

Weil Fukushima gezeigt hat, dass bei einem Super-GAU auch über einen langen Zeitraum hinweg radioaktive Materialien freigesetzt werden können. Damit hatte man bisher nicht gerechnet. Man hat gedacht, dass man alles in ein paar Tagen gut in den Griff bekommen kann.

Zu welchem Ergebnis kam die Studie?

Dass es sein kann, dass man nach einem Atomunfall in einem ungleich größeren Gebiet Katastrophenschutzmaßnahmen ergreifen muss, als bisher angenommen. Weil auch weit jenseits der 25-Kilometer-Grenze hohe Strahlenbelastungen zu erwarten sind. Und weil der Wind im Laufe von mehreren Tagen drehen kann, sodass sich die radioaktiven Stoffe nicht nur in eine Richtung ausbreiten.

Der Modellrechnung zufolge müssten auch Kinder in 190 Kilometer Entfernung noch Jodtabletten schlucken und wenn man japanische Grenzwerte anlegt, wären sogar Gebiete in 170 Kilometer Entfernung auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar. Ist das ein realistisches Szenario?

Die Simulation geht davon aus, dass bei dem Unfall knapp zehn Prozent des radioaktiven Inventars des Reaktors freigesetzt werden, außerdem liegen ihr die Wetterdaten von Juni beziehungsweise Dezember 2010 zugrunde. In echt kann natürlich auch ein Unfall passieren, bei dem noch mehr Radioaktivität freigesetzt wird, und es kann ungünstigeres Wetter herrschen. Dann würden vermutlich sogar noch weit größere Gebiete kontaminiert.

... womit unweigerlich auch Großstädte betroffen wären, oder?

Ja. Und da ist eine Evakuierung praktisch unmöglich. Wo sollen denn eine Million Menschen so schnell hin?

Die Strahlenschutzverordnung erlaubt eine zusätzliche Strahlenbelastung von einem Millisievert pro Jahr ...

... im Normalfall! Bei einem Störfall ist ein Vielfaches erlaubt. Spätfolgen sollen nur vermindert, akut auftretende Schäden verhindert werden. Wenn´s zur Katastrophe kommt, ist die Strahlenschutzverordnung nichts mehr wert. Dann gelten zum Beispiel Eingreifwerte von 100 Millisievert im Jahr - erst Gebiete, die so stark verstrahlt sind, gelten tatsächlich als langfristig unbewohnbar. Das ist kritisch zu sehen, denn je höher die Dosis, umso höher ist das Risiko, an Krebs zu erkranken. Japan etwa hat einen Wert von 20 Millisievert im Jahr für eine Umsiedlung festgelegt. Ähnlich absurd sind die Regelungen für die Strahlenbelastung von Nahrungsmitteln. Wildschweine etwa mit mehr als 600 Becquerel Cäsium pro Kilo dürfen heute nicht in Verkehr gebracht werden. Nach einem Atomunfall dagegen schon: Da sind EU-weit für Nahrungsmittel bis zu 1.250 Becquerel Cäsium pro Kilo erlaubt, plus 750 Becquerel Strontium, 2.000 Becquerel Jod und 80 Becquerel Plutonium.

Könnte man den Katastrophenschutz verbessern?

Man könnte die akuten Eingreifwerte senken, ab denen man zum Beispiel Gebiete evakuiert oder umsiedelt. Das würde schon einen besseren Schutz darstellen.

Das würde aber den Bereich, den man evakuieren muss, massiv vergrößern, oder?

Genau. Hier kommt man sowieso jetzt schon an Grenzen: Straßen sind verstopft, Busse kommen nicht rein, die Notrufe werden überlastet sein, Panik wird ausbrechen. Für solche Situationen ist der Katastrophenschutz überhaupt nicht ausgelegt. Das ist schlicht nicht leistbar. Man kann aber die Atomkraftwerke abschalten - so schnell wie möglich.

Karin Wurzbacher, Diplom-Physikerin,
leitet den Fachbereich "Radioaktivität"
beim Umweltinstitut München e.V.

Interview: A. Simon


Wie der Katastrophenschutz funktionieren soll

Katastrophenschutz ist Sache der Bundesländer; Bund, Strahlenschutzkommission (SSK) und Reaktorsicherheitskommission (RSK) geben lediglich Rahmenempfehlungen. Für die Katastrophenabwehr konkret zuständig ist der Landkreis, in dem das AKW steht. Die Bevölkerung soll mit Sirenen alarmiert werden. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es davon allerdings nicht mehr wirklich viele.

Droht ein größerer Unfall, ist der AKW-Betreiber verpflichtet, dies dem Innenministerium zu melden - ein gravierender Interessenskonflikt. Denn falls es ihm doch noch gelingen sollte, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen, muss er die enormen Folgekosten für den "Fehlalarm" tragen.

Das Gros der Katastrophenschutzmaßnahmen müssten Feuerwehr, Technisches Hilfswerk und Rotes Kreuz leisten - zumeist mit ehrenamtlichen Helfern. Alle Personen können darüber hinaus zur Hilfe verpflichtet und dürfen dabei eine Strahlenbelastung von bis zu 100 Millisievert abbekommen. Das ist das Hundertfache der normalerweise zulässigen Jahresdosis.

Den Katastrophenschutz innerhalb des AKWs haben die Betreiber zum größten Teil an die Kerntechnische Hilfsdienste GmbH (KHG) in Karlsruhe outgesourct. Die soll bei einem Super-GAU ihr Spezialgerät binnen zwölf Stunden zum Reaktor schaffen - Zeit, die möglicherweise gar nicht zur Verfügung steht.

Alle Planungen beruhen auf vielen fragwürdigen Annahmen, die zum Teil weder in Tschernobyl noch in Fukushima erfüllt waren. So wird in allen Plänen eine längere "Vorfreisetzungsphase" unterstellt, in der es möglich ist, erste Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die Pläne gehen nur von einer begrenzten Freisetzung radioaktiver Stoffe aus, meist etwa zehn Prozent des Inventars. Es gibt kein Konzept für die zu erwartende Massenflucht samt Verkehrskollaps; da alle AKWs an Flüssen stehen, sind Brücken und Tunnel enge Nadelöhre, die leicht komplett verstopfen können. Es gibt zudem keine Schätzungen, wie viele der haupt- und ehrenamtlichen Helfer im Ernstfall selbst die Flucht ergreifen. Verschiedene Maßnahmen stehen im Widerspruch zueinander: wer im Haus bleiben soll, kann nicht fliehen oder Jodtabletten abholen. Und Jodtabletten müssen vor dem Eintreffen der radioaktiven Wolke, mithin also kurz vor dem Unfall eingenommen werden.

*

Quelle:
Rundbrief 17, Sommer 2012, Seite 6-7
Herausgeber: .ausgestrahlt
Marienthaler Straße 35, 20535 Hamburg
E-Mail: info@ausgestrahlt.de
Internet: www.ausgestrahlt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2012