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CHEMIE/060: Die Chemie stimmt nicht - Von der Notwendigkeit einer globalen stoffpolitischen Wende (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2019 Die Geister, die wir riefen
Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt - Zeit zu handeln!

Die Chemie stimmt nicht
Von der Notwendigkeit einer globalen stoffpolitischen Wende

von Manuel Fernandez


Über Jahrzehnte hinkte die Politik bei der Regulierung von gefährlichen Stoffen den Ereignissen, oder besser, den von der Industrie geschaffenen Tatsachen, hinterher. Gifte wie Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), Lindan, Polychlorierte Biphenyle (PCB), Dioxine und Furane stehen für eine Zeit, in der offizielle Instanzen erst dann in Erscheinung zu treten pflegten, wenn der Schaden bereits angerichtet war. Katastrophen wie im italienischen Seveso 1976, im indischen Bhopal 1984 und in Schweizerhalle 1986 lösten schließlich eine chemiepolitische Diskussion aus. Es wurden europäische und deutsche Gesetze zum Schutz vor Chemikalien erlassen, die chemische Industrie bekannte sich mit der Initiative 'Responsible Care' zu ihrer Verantwortung für die Sicherheit ihrer Produktion und Produkte.


In Europa mündete dies in eine gründliche Reform des Chemikalienrechts der Europäischen Union (EU). Mit ihrem Kernstück, der Chemikalienverordnung REACH (Registration, Evaluation, Authorization of Chemicals/Registrierung, Bewertung und Zulassung von Chemikalien), trat 2007 die weltweit fortschrittlichste gesetzliche Grundlage für den Schutz von Mensch und Umwelt vor gefährlichen Stoffen in Kraft. Nirgendwo sonst sind die Optionen für ein präventives Eingreifen des Gesetzgebers so klar und rechtlich verankert.

REACH - und alles war gut?
Mit REACH wurde das Vorsorgeprinzip gestärkt und die Beweislast vom Staat auf die Industrie verlagert. HerstellerInnen und ImporteurInnen müssen durch entsprechende Daten belegen, dass ihre Stoffe keine Risiken für Mensch und Umwelt darstellen. Für das Inverkehrbringen von Chemikalien gilt der Grundsatz "Keine Daten, kein Markt". Ein Hauptziel von REACH ist die Erfassung von Stoffen mit besonders kritischen Eigenschaften (Substances of Very High Concern, SVHC) in einer sogenannten Kandidatenliste und deren schrittweise Substitution durch weniger schädliche beziehungsweise nachhaltige Stoffe oder Verfahren. REACH ist zweifellos ein großer Fortschritt, doch wie fortschrittlich diese Vorgaben auch sein mögen, sie sind letztlich nur so gut wie ihre Umsetzung in der Praxis.

Kritik ruft insbesondere die mangelhafte Qualität der Daten in vielen der bislang weit über 22.000 eingereichten Registrierungsdossiers hervor. Regelmäßige Stichproben der Europäischen Chemikalienagentur (European Chemicals Agency, ECHA) und eine Studie des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) zeigen, dass ein hoher Prozentsatz der Registrierungen nicht den gesetzlichen Anforderungen genügen. Der Grund sind fehlende oder mangelhafte Sicherheitsdaten zu den gefährlichen Eigenschaften von Stoffen. Daten, die für eine adäquate Risikobewertung unerlässlich sind. Dabei geht es auch um Stoffe, die in sehr großen Mengen produziert und bei der Herstellung von unzähligen Konsumprodukten des täglichen Gebrauchs verwendet werden. Etliche weltweit agierende Unternehmen, unter anderem aus der Kunststoff- und Erdöl-Industrie, sind, wie eine Recherche des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) offenlegte, ihren gesetzlichen Registrierungspflichten nicht nachgekommen. Die Problematik hat generelle Debatten in der Europäischen Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament ausgelöst.

Zu kritisieren ist auch die traditionelle Vorgehensweise, jede Chemikalie einzeln ("substance by substance") zu bewerten. Diese Einzelstoffbewertung ignoriert das Zusammenwirken mehrerer Stoffe und begünstigt die unsägliche Praxis der Substitution durch weniger gut untersuchte Stoffe mit ähnlichem Gefahrenprofil (Beispiel: Bisphenol S ersetzt zunehmend Bisphenol A). Auch berücksichtigt die REACH-Verordnung in ihrer derzeitigen Fassung nicht die besonderen Risiken von Nanomaterialien oder Mikroplastik.

Ferner muss der Informationstransfer in den Lieferketten vor und nach der eigentlichen Produktion verbessert werden, da zahlreiche Unternehmen wesentliche, sicherheitsrelevante Informationen häufig nicht weitergeben. Vor allem erreichen diese Informationen nicht die Recyclingunternehmen, die aus Abfällen wieder marktfähige Produkte herstellen. Enthalten Produktabfälle SVHC, die in der Zwischenzeit nicht mehr verwendet werden dürfen, wird das Recycling zu Sekundärprodukten zusätzlich erschwert. Der aus der novellierten Abfallrahmenrichtlinie abgeleitete Auftrag an ECHA, eine Datenbank mit SVHC-haltigen Produkten aufzubauen, ist ein sinnvoller Schritt zu mehr Transparenz. Es wird aber auch hier auf die effektive Umsetzung ankommen.

"Business as usual"
Schon seit den 1970er und 1980er Jahren wissen wir, dass es häufig bereits zu spät ist, wenn Wirkungen von Stoffen in der Umwelt zweifelsfrei nachgewiesen sind. Deshalb wurde im nationalen und internationalen Recht das Vorsorgeprinzip verankert. Der Gesetzgeber wäre angehalten, Maßnahmen bereits dann zu ergreifen, wenn triftige Gründe zur Besorgnis vorliegen. Doch noch immer ist oft das "Weiter so" die bestimmende Maxime. Es fehlen Mut und politischer Wille, sich gegen die mächtige Lobbymaschinerie der chemischen Industrie durchzusetzen.

Spätestens seit Beginn der Verhandlungen mit der US-Regierung für das transatlantische Handelsbündnis TTIP im Jahr 2013 versuchen Industrieverbände und Teile der Politik beiderseits des Atlantiks verstärkt, eine Abkehr vom präventiven Ansatz bei der Regulierung gefährlicher Stoffe zu erzwingen. Am EU-Prozess zur Regulierung von hormonell schädlichen Stoffen (endokrine Disruptoren, ED) lässt sich gut nachvollziehen.

Im Jahr 2013 sollte die EU-Kommission im Auftrag des EU-Parlaments Kriterien zur Einstufung und Regulierung von ED vorlegen. Diese sollten später zwar auf alle chemikalienrelevanten Bestimmungen anwendbar sein, aber zunächst für Pestizide und Biozide gelten. Eine ExpertInnengruppe unter Anleitung des deutschen Endokrinologen Andreas Kortenkamp wurde von der Generaldirektion Umwelt mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Auf Grundlage dieses Gutachtens ließ die Kommission einen Vorschlag für ED-Kriterien erstellen, der, wäre er umgesetzt worden, ein Verbot etlicher Pestizide bedeutet hätte. Doch dazu kam es nicht.

Die Landwirtschafts-, Pharma- und Kunststoffbranche, allen voran deutsche Konzerne wie die BayerAG und BASF, lief Sturm gegen das Kommissionspapier. Wie, das belegt eine Auswertung von Dokumenten zu dem Vorgang, die das Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN Europe) auf ein Informationsersuchen von der EU-Kommission erhalten hatte.(1) So bemängelt Bayer in einer Mail an die Kommission, der Vorschlag sei "durchgängig auf Basis des Vorsorgeprinzips konstruiert worden", was "weit reichende, gravierende Auswirkungen auf die Chemiebranche und Agrarindustrie" haben werde.(2) In weiteren E-Mails, Briefen und persönlichen Gesprächen warnten die Industrieverbände vor Verlusten von jährlich drei bis vier Milliarden Euro im Pflanzenschutzbereich. Horrorszenarien von bis zu 50 Prozent Ernteverlusten bei Weizen, Kartoffeln und Raps machten die Runde. Bayer CropScience, die Pestizidsparte des Konzerns, warnte in einer E-Mail an das Generalsekretariat vor signifikanter Beschädigung der Wettbewerbsfähigkeit.(3) Der massive Lobbyvorstoß wirkte: Kortenkamps Bericht verschwand in der Schublade.

Kriterien für ED seien "ein sensibles Thema, wegen [...] der potentiellen Auswirkungen auf die Chemieindustrie und den Handel", schrieb die Generalsekretärin der Kommission, Catherine Day, an die Generaldirektion Gesundheit und Umwelt.(4) Erst 2018 legte die EU-Kommission Kriterien für ED vor, die hohe Nachweishürden setzen. Vermutlich werden deshalb nur wenige Stoffe als endokrin schädlich identifiziert werden. Eine Kategorie von Stoffen, bei denen der begründete Verdacht auf hormonelle Wirkung besteht (analog zu krebserregenden und genverändernden Stoffen), ist nicht vorgesehen. Auch ist die Standardisierung von Prüfverfahren, die verlässlich klären, ob endokrine Wirkungen auftreten, nach wie vor nicht abgeschlossen. Die vorliegenden Kriterien sind offensichtlich nicht vom Vorsorgeprinzip geleitet.

Das Gesamtbild
Dabei ist das Vorsorgeprinzip als Leitbild für eine nachhaltige Entwicklung in der Chemie- beziehungsweise Stoffpolitik unverzichtbar. Das Ziel ist klar und in allen relevanten Abkommen festgeschrieben, im 7. EU-Umweltaktionsprogramm ebenso, wie in den 2015 international vereinbarten Zielen für nachhaltige Entwicklung: Es gilt die Verwendung und Herstellung von Chemikalien so zu gestalten, dass negative Folgen für die Umwelt und unsere Gesundheit weitgehend ausgeschlossen werden können. Das gilt ganz besonders für Stoffe, die in unsere Körper und in die Umwelt gelangen können.

Es ist wichtig, die Stoffmengen, die wir in die Umwelt eintragen, grundsätzlich zu reduzieren. Das gilt umso mehr für solche Stoffe, bei denen verzögerte und unbekannte Wirkungen nicht ausgeschlossen werden können. An einer nachhaltigen Stoffpolitik führt kein Weg vorbei. Und das bedeutet vor allem, nicht wiedergutzumachende Beeinträchtigungen unserer Umwelt zu vermeiden. Vorsorgeprinzip und Nachhaltigkeit müssen Hand in Hand gehen. Ohne Vorsorge wird eine nachhaltige Entwicklung nicht möglich sein.


Der Autor ist zuständig für Chemikalienpolitik beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland.


Anmerkungen

(1) https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/chemikalien-wie-die-industrie-eu-regulierung-beeinflusst-a-1034563.html und https://corporateeurope.org/sites/default/files/toxic_lobby_edc_1.pdf.

(2) https://www.spiegel.de/media/media-36628.pdf, S. 1.

(3) Vgl. ebd., S. 2.

(4) Vgl. https://www.spiegel.de/media/media-36637.pdf, S. 1. Eigene Übersetzung.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 4/2019, Seite 22 - 23
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2020

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