Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → INTERNATIONALES

KATASTROPHEN/007: Japan - Tagebuch des Grauens, die Katastrophe von Fukushima (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. April 2011

Japan: Tagebuch des Grauens - Die Katastrophe von Fukushima

Eine Reportage von Suvendrini Kakuchi

Yotukura-Fischerdorf nach dem Tsunami vom 11. März - Bild: © Suvendrini Kakuchi/IPS

Yotukura-Fischerdorf nach dem Tsunami vom 11. März
Bild: © Suvendrini Kakuchi/IPS

Fukushima, Japan, 7. April (IPS) - Die IPS Korrespondentin Suvendrini Kakuchi ist mit einem Team von Wissenschaftlern in die japanische Präfektur Fukushima gereist, um sich selbst einen Eindruck von dem Ausmaß der dreifachen Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Atom-GAU zu machen.

Die Einladung sei unwiderstehlich gewesen, berichtete sie im Anschluss an die Reise. Sie sei von Experten gekommen, die der Atomkraftpolitik ihrer Regierung seit jeher kritisch gegenüber stünden. Ihre Beobachtungen hat sie in einem Reisetagebuch festgehalten, das nun in Auszügen vorliegt:

"Wir machen uns um sechs Uhr morgen auf dem Weg, Mineralwasser, Wegwerfkleidung und Schutzmasken im Gepäck. Um den Hals tragen wir Strahlenmessgeräte, die großen Thermometern gleichen und bei jeder akkumulierten Strahlenbelastung anschlagen.

Wir sind angehalten, die Messgeräte während der gesamten Reise zu tragen, um jeden noch so kleinen Anstieg vom Radioaktivität zu notieren und die Werte zusammen mit den Messorten niederzuschreiben.

"Unsere eigene Dokumentation der Radioaktivität ist entscheidend, um den Störfall von Fukushima zu ergründen", meint Yoichi Tao, ein auf Risiko-Management spezialisierter Physiker im Ruhestand.


Bedenken

Tao gehörte nie der Expertengruppe an, die nach dem zweiten Weltkrieg Japans ehrgeiziges Atomprogramm voranbrachte. Als Überlebender des Atombombenanschlags auf Hiroshima - er war damals sechs Jahre alt - ist er ein Verfechter der bitteren Wahrheit, die Japan bis heute zu ignorieren sucht: dass die Sicherheit von Atomkraftwerken eine Mär ist.

"Es wird Zeit, das komplexe Konzept der Sicherheit klarer zu definieren", sagt Tao. "In diesem Zusammenhang ist es wichtig, möglichst viele Sichtweisen zuzulassen und auch die Auswirkung des Unfalls auf andere Länder zu erfassen."

Die dreistündige Autofahrt ist eine 'Sentimental Journey'. Da die meisten Straßen für den Verkehr wieder geöffnet sind, gleiten wir an atemberaubenden Landschaften vorbei, wie sie den Norden Japans prägen: Pinien-bedeckte Berge auf der einen Seite, das blassblau glitzernde Meer auf der anderen.

Heftige Böen erfassen unser Fahrzeug auf einer nahezu leeren Straße - ein Anzeichen dafür, dass Fukushima seinen Reiz als Touristendestination verloren hat.


Zerstörung

Grauenhafte Bilder erwarten uns in Iwaki, unserem Einfallstor nach Fukushima. In der Fischerstadt hat der Tsunami mit seinen 14 Meter hohen Wellen ganze Arbeit geleistet. Später machen wir Halt im Dorf Yotsukura. Fast die Hälfte der 1.000 Einwohner musste schwere Verluste hinnehmen. Diejenigen, die versuchen, den Schutt von dem Gelände zu räumen, auf dem einst ihr Haus stand, tragen Gesichtsmasken, die sie irreal erscheinen lassen. Noch immer werden Menschen vermisst. "Weil es den Geschäften vor Ort an Nahrungsmitteln, Wasser und Benzin fehlt, müssen viele Menschen aus Yotsukura weiterhin in weit verstreuten Notunterkünften ausharren", berichtet der Rettungssanitäter Yuuji Kojima.

Für den Nachmittag haben wir uns vorgenommen, möglichst nah an den Ort der atomaren Verseuchung heranfahren. Wir nehmen nicht die Küsten- sondern die Überlandstraße. Auf dem Weg zu unserem Ziel passieren wir Geisterdörfer, in denen nur noch verlassene Katzen und Hunde herumstreunen.

Es wird dunkel, und wir haben Angst, dass es regnen könnte und sich für uns das Risiko, radioaktiv verseucht zu werden, erhöhen könnte. Wir verschwinden hinter unseren Masken und ziehen uns weitere Kleidungsstücke über. Dann beobachten wir unsere Monitore.

Als wir die 30-Kilometer-Grenze überfahren, eine Erweiterung der 20-Kilometer-Zone um die Unglücksreaktoren, erreichen wir Miyakojimachi, ein verlassenes Bauerndorf. Am Ortseingang steht ein Polizeiwagen. Die Beamten halten uns an und erklären uns höflich aber bestimmt, dass nur Regierungsbeamten oder Mitarbeitern des Tokioter Elektrizitätswerks die Durchfahrt gestattet sei. Wir stellen den Wagen ab und suchen nach einer geeigneten Stelle, um die Kontrollmessgeräte der Wissenschaftler abzustellen.

Der Regen geht in Schnee über. Im Wageninnern nimmt die Radioaktivität zu, wie die Monitore zeigen. Mein Messgerät gibt die radioaktive Belastung mit 325 Mikrosievert an. Das entspricht bereits der Röntgenbelastung, die bei einem Brustbild anfällt.


Notunterkünfte

Deprimierend ist die Lage der vielen Menschen, die in den Notunterkünften ausharren. In einem Gymnasium in der Stadt Tamura halten 800 Menschen die Stellung. Sie sind nicht Opfer des Tsunamis, sondern der Katastrophe, die der Reaktor ausgelöst hat, den sie seit 40 Jahren ignorieren. Mit Wänden aus Pappe versuchen die Menschen ein bescheidenes Maß an Intimität herzustellen. Ältere Menschen liegen in Decken eingewickelt am Boden.

Gäste werden gebeten, ihre Schuhe auszuziehen. Die angebotenen Schlappen lehne ich ab. Meine Füße werden augenblicklich kalt wie Eis. Wie schrecklich muss die Lage für die Nuklearflüchtlinge sein, die seit Wochen mit dem kalten Boden leben müssen.

Im zweiten Flüchtlingszentrum befinden sich die tragbaren Toiletten außerhalb des Gebäudes - besonders für ältere Menschen wird der nächtliche Gang nach draußen zu einem Alptraum. Eine einsame Ärztin spricht von wahren Patientenströmen, die für medizinische Hilfe anstehen. "Wir glauben den Politikern nicht mehr", sagt sie und besteht auf Anonymität. Dann sagt sie nichts mehr und konzentriert sich auf ihre Patienten.


Lektionen

Seit Japan mit dem Atom-GAU konfrontiert ist, wird im Lande der Ruf nach einem alternativen Energiemodell lauter. Die atomare Katastrophe könnte die Wende einleiten. Wissenschaftler stehen bereit, um mit Unterstützung ihrer ausländischen Kollegen eine der umfangreichsten Sicherheitsstudien vorzubereiten.

Bisher jedoch versuchen Tao und sein Team einen Weg aus den kontrollierten bürokratischen Systemen zu finden, die einer Intervention von außen so viele Jahre hinderlich waren. Die Abschottung ist einer der irritierenden Aspekte der japanischen Wirtschaftsentwicklung, die nun durch das Desaster deutlich in Erscheinung treten.

Auf der nächtlichen Rückfahrt nach Tokio überlegen wir uns, welche Lektionen Japan aus der Katastrophe gezogen haben könnte. Und wir fragen Tao, was wohl als nächstes geschehen sollte. "Antworten brauchen Zeit", sagt er. "Am wichtigsten ist es jetzt, dass Atomkraftgegner und -befürworter gemeinsam die nukleare Tragödie zum Stillstand bringen."

Seit 20 Jahren lebe ich in Japan. Und ich weiß, dass Tao recht hat. So gilt es zunächst, einen Schritt nach dem anderen zu setzen. Erst dann kann es die richtige Plattform geben, um die großen Herauforderungen anzugehen." (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.kek.jp/intra-e/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=55156

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 7. April 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2011