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KATASTROPHEN/056: Lehren aus Fukushima - Die Technik vom Ende her denken (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 630-631 / 27. Jahrgang, 4. April 2013

Lehren aus Fukushima

Die Technik vom Ende her denken



Yôtarô Hatamura, Leiter der japanischen Regierungskommission zur Untersuchung der AKW-Havarie in Fukushima: "Es fehlt eine Kultur, die selbständig und aktiv handelnde Personen hervorbringt."


"Mit eigenen Augen sehen, selbst denken, selbst entscheiden und initiativ handeln" - dazu forderte Professor Dr. Yôtarô Hatamura als Lehre aus der Atomkatastrophe von Fukushima Daiichi für die Zukunft auf: "Initiativ und aktiv handelnde Individuen werden gebraucht." Anläßlich des 2. Jahrestages der Katastrophe von Fukushima in Japan hatten die Japanische Botschaft in Deutschland, das Japanische Kulturinstitut Köln und die Technische Universität Berlin unter Mitwirkung des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin zum 11. März 2013 in das japanische Botschaftsgebäude im Berliner Tiergarten eingeladen. Dort sprachen zur Frage, welche Lehren man aus dem Atomunfall für die Zukunft ziehen könne, Dr. Yôtarô Hatamura, emeritierter MaschinenbauProfessor an der Universität Tôkyô, der von Juni 2011 bis September 2012 die Untersuchungs- und Gutachterkommission der japanischen Regierung zur Havarie im Atomkraftwerk der Firma TEPCO in Fukushima geleitet hatte, sowie Dr.-Ing. Masao Fuchigami, berater des japanischen Industriekonzerns Komatsu Ltd. und Technischer Berater dieser Regierungskommission.

Die Blöcke 1 bis 4 des havarierten Atomkraftwerks sind wegen zu hoher Strahlenbelastungen sämtlich nicht betretbar, erklärte Fuchigami. Deshalb seien Aussagen über den Unfallhergang nur aufgrund von Annahmen möglich. Eine davon ist offenbar, daß nach dem Erdbeben zunächst noch sämtliche Rohrverbindungen insoweit intakt waren, daß die Kühlkreisläufe zunächst noch funktionierten und die automatische Notabschaltung in Gang gesetzt wurde. Nachdem er erläutert hatte, wie sämtliche dreifach ausgelegten Notkühlsysteme an den havarierten Kernkraftwerksblöcken nach der Tsunami-Flutwelle ausgefallen waren, nicht oder nur unzureichend funktionierten, und bauliche Mängel sowie Bedienungsfehler die Situation verschlimmerten, und der Reaktorblock 2, der zunächst am längsten standgehalten, schließlich aber die meiste Radioaktivität "wegen fehlender Manpower" freigesetzt hatte (eine notwendige Druckentlastung habe nicht stattgefunden, weshalb der Reaktordruckbehälter beschädigt worden sei), faßte Hatamura das Geschehen zusammen und leitete zum Grundsätzlichen über.

Bereits durch das Erdbeben sei es zum Verlust der externen Stromversorgung gekommen und durch den Tsunami seien alle Stromschalttafeln unter Wasser gesetzt worden, so daß eine Kühlung der Reaktoren nicht mehr möglich gewesen sei. Die Hochspannungsstromschalttafeln befanden sich im Keller und standen unter Wasser, was der unmittelbare Grund der Havarie gewesen sei. Zwar hätten die Kräfte vor Ort den "schlimmsten Fall" verhindert, jedoch dauere die Havarie heute weiterhin an, "bis der Rückbau der AKW abgeschlossen ist" und "Strahlensicherheit" festgestellt werden könne, so Hatamura.

Durch unzureichenden Einsatz des Informationssystems SPEEDI, das die Ausbreitung der Radioaktivität vorhersagen soll, seien entsprechende frühzeitige und richtige Evakuierungen nicht durchgeführt worden, erklärte Hatamura weiter.

Bis heute seien nun 160.000 Menschen in der Präfektur Fukushima evakuiert worden, davon 100.000 in andere Orte innerhalb und 60.000 in Orte außerhalb der Präfektur. Infolge der Katastrophenmaßnahmen seien bis zum 30. September 2012 1.121 Personen zu Tode gekommen - durch die Umstände der Evakuierung, Verschlimmerung von Krankheiten und aus Verzweiflung durch Selbstmord.

Mit der Hypothese denken:
Das Mögliche geschieht immer.
Das Unerwartete kann geschehen.
Auch Ungeahntes kann geschehen.

Yôtarô Hatamura

Um die radioaktiv verseuchten Flächen wieder besiedeln zu können, werde nun Dekontaminiert: 5 Zentimeter der Oberflächen würden abgetragen oder untergepflügt, oberirdisch angehäuft oder 1,55 Meter tief eingegraben und mit 30 Zentimeter unbelasteter Erde abgedeckt. Das wird laut Hatamura als eine sinnvolle Entsorgung angesehen.

Fatal, so Hatamura, sei die Katastrophenvorbereitung in Japan gewesen. Man habe nur an Unfälle durch interne Ursachen und nicht an einen extern verursachten Super-GAU gedacht, sei unzureichend auf Tsunamis vorbereitet gewesen, habe komplexe Unfälle nicht bedacht und keine Vorbereitungen für Nachkatastrophen getroffen. "Nicht sehen, was man nicht sehen will, nicht denken, was unangenehm ist", sei das Grundverhalten gewesen. So sei erst anläßlich der Katastrophe bewußt geworden, daß die Feuerwehr für das Einspeisen von Kühlwasser einen Druck von 70 bar hätte überwinden müssen, sie jedoch lediglich 10 bar habe erzeugen können.

Zudem sei die aus Übersee eingeführte Technologie Japans besonderen Bedingungen nicht genügend angepaßt worden. Denn Dinge und Technik könnten zwar transferiert werden, nicht immer aber die Philosophie hinter der Technik, so Hatamura.

Es habe auch keine unabhängige AKW-Sicherheitsaufsichtsbehörde gegeben, Kontrolle sei nur inhaltsleere Formsache gewesen und ebenso die Organisationskompetenz: Nur den Urteilen und Entscheidungen des Staates oder der Kraftwerksleitung sei gefolgt und danach gehandelt worden. Das Verständnis einzelner Einrichtungen und des gesamten Systems sei unzureichend gewesen, es habe keine Ausbildungs- und Organisationskultur gegeben, die auf flexibles Handeln in unerwarteten Situationen vorbereitete, und keine Kultur, die selbständig und aktiv handelnde Individuen hervorbringe.

Hatamura übte auch Selbstkritik: Er selbst habe einst eine Anweisung unterzeichnet, die vorgab, daß ein totaler Ausfall der Stromversorgung in den vorbereitenden Betrachtungen über Unfallszenarien nicht berücksichtigt zu werden braucht. Es geschehe aber, was geschehen könne und es geschehe auch, was man für unmöglich halte, hat Hatamura nun erkannt. Nur der Zeitpunkt des Geschehens bleibe offen. Leider sehe man nur, was man sehen wolle und zu leicht nicht das, was man nicht sehen wolle. Weil sich stets alles ändert, müsse man sich flexibel anpassen und möglichst umfangreiche Vorstellungen und Vorbereitungen entwickeln. Mit der Form alleine funktioniere jedoch nichts. Struktur lasse sich zwar leicht schaffen, aber das Ziel werde dadurch nicht zum Allgemeingut, was jedoch notwendig sei.

Zur Klärung der Frage der Wiederinbetriebnahme oder der Abschaffung der Atomkraftwerke sei eine Kultur und Diskussionsbereitschaft erforderlich, die Gefahr als Gefahr voraussetzt und nicht leugnet, fordert Hatamura. Das Gleichgewicht zwischen Nützlichkeit und Belastung sei neu zu finden. Eine Wiederinbetriebnahme unter der Voraussetzung "Wenn die Sicherheit feststellbar ist ..." dürfe nicht erfolgen, denn mit dem Unfall habe sich diese These als falsch erwiesen. Nur mit der Voraussetzung und Annahme, daß der Unfall geschieht, dürfe und müsse eine Roadmap zur Schadensbegrenzung ausgearbeitet und eine praxisnahe Übung durchgeführt werden. Menschliches Versagen, Systemfehler, Naturkatastrophen, Böswilligkeit und Zufälle seien von den Konstrukteuren und Betreibern der Anlagen bei deren Errichtung und Betrieb zu berücksichtigen. Es sei abzuwägen, ob wir, man selbst und die Bevölkerung, mit den Folgen auch ungeahnter Ereignisse noch weiter existieren und leben und die Art der neuen Existenz verantworten könnten.

"Kernenergie ist nicht preiswert, wenn man die möglichen Unfallkosten einkalkuliert", erklärte Hatamura als seine persönliche Meinung, ohne sich jedoch klar gegen Atomkraft zu positionieren.

Die Hälfte des geladenen Fachpublikums nahm an der abschließenden Diskussion nicht mehr teil. Auf Nachfrage erklärte Fuchigami, daß das mit mehr als 1.500 alten Brennstäben gefüllte und in circa 30 Metern Höhe über dem ausgebrannten Reaktorblock 4 hängende Abklingbecken nur infolge eines glücklichen aber nicht ganz klaren Zufalls bisher nicht trockengefallen und ebenfalls havariert sei. Man könne jedoch nicht sicher sein, ob es einem stärkeren Erdbeben weiter standhalten werde. Deshalb müsse man hier schnell etwas tun.

Th.D.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_13_630-631_S02-03.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, April 2013, Seite 2-3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2013