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PROTEST/004: Japan - Mütter an vorderster Front gegen Kernkraft, Schließung aller AKW gefordert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. Dezember 2011

Japan: Mütter an vorderster Front gegen Kernkraft - Schließung aller AKW gefordert

von Suvendrini Kakuchi


Tokio, 23. Dezember (IPS) - Japans Atomindustrie, die einst gegen jede Kritik gefeit war, sieht sich durch aufgebrachte Mütter in ihrem Fortbestand bedroht. Die Frauen stellen sich gegen jeden weiteren Betrieb der Kernkraftwerke. Die Havarie in der Anlage Fukushima und die unzureichende Informationspolitik der Regierung haben das Vertrauen der Bevölkerung in die Atomkraft nachhaltig zerstört.

"Mütter engagieren sich an vorderster Front in verschiedenen Graswurzelbewegungen, die gemeinsam darauf hinarbeiten, dass ab 2012 alle Atomkraftwerke in Japan stillgelegt werden", sagte Aileen Miyoko Smith, die Vorsitzende der unabhängigen Organisation 'Green Action', im Gespräch mit IPS.

Mehr als hundert zumeist weibliche Atomkraftgegner trafen sich kürzlich mit Vertretern der staatlichen Kommission für nukleare Sicherheit. Sie forderten eine transparente Untersuchung der Kraftwerkshavarie und die endgültige Schließung aller Atomanlagen im Land. Dabei wurde scharf kritisiert, dass die Behörden nach dem Tsunami am 11. März nur ungenaue Informationen über die nukleare Strahlung in dem Atomkraftwerk Fukushima Daiichi verbreitet hatten.

Zurzeit sind sechs der insgesamt 56 japanischen Atomkraftwerke vom Netz. Einige werden so genannten Stresstests unterzogen, nachdem die Ereignisse in Fukushima gravierende Sicherheitslücken ans Tageslicht gebracht hatten.


Mehr als 150.000 Bewohner von Fukushima können nicht nach Hause zurück

Mehr als 150.000 Menschen, die im Umkreis der Anlage lebten, können aufgrund der hohen Strahlenbelastung nicht nach Hause zurückkehren. Inzwischen ist auch bewiesen, dass Reis und Gemüse auf nahe gelegenen Feldern kontaminiert wurden. In Supermärkten wurde belastete Babynahrung gefunden.

Die Behörden teilten kürzlich mit, dass sich der zerstörte Komplex Fukushima Daiichi im Zustand der Kaltabschaltung befindet. Dies bedeutet, dass die Temperaturen im Innern des Reaktors unter hundert Grad Celsius gesunken sind und es zu keinen unkontrollierten nuklearen Kettenreaktionen mehr kommen kann.

"Die erste Phase bei der Kontrolle des furchtbaren Unfalls ist abgeschlossen", sagte der Minister für Atompolitik, Goshi Hosono. "Die Regierung setzt nun einen Plan um, der Fukushima in 30 bis 40 Jahren wieder sicher machen soll." Energieunternehmen und Regierungsvertreter haben zudem Transparenz und eine strengere Einhaltung der Sicherheitsvorschriften zugesichert.

Aktivisten wie Smith wollen sich aber nicht so schnell beruhigen lassen. "Wir verstärken unsere Proteste, damit Regierung und Industrie, die jetzt unbedingt ein Gefühl der Sicherheit erzeugen wollen, die Atomkraftwerke später nicht wieder in Betrieb nehmen."

Trotz des kalten Winters haben mehrere Gruppen von Frauen vor dem Wirtschaftsministerium in Tokio Zelte aufgestellt, um mit einer neuen Sitzblockade zu beginnen. Sie wollen dort zehn Monate und zehn Tage ausharren. In Japan entspricht dieser Zeitraum traditionell der Dauer einer Schwangerschaft.

"Mit unseren Protesten wollen wir eine Wiedergeburt der japanischen Gesellschaft herbeiführen", erklärte Chieko Shina, eine Großmutter aus Fukushima. "Die Strategie der Regierung, die wirtschaftliches Wachstum vor den Schutz menschlichen Lebens gestellt hat, muss sich ändern."

Politische Beobachter sehen die Proteste als Meilenstein für die allmählich wachsenden Sozialbewegungen in Japan. Deren Ziele wurden in einer Gesellschaft, die sich an Leistung und Erfolg orientiert, lange Zeit nicht ernst genommen.

"Die Demonstrationen zeigen die Entschlossenheit einfacher Bürger, sich nicht mit der risikoreichen Atomkraft abzufinden", sagte Takanobu Kobayashi vom Bürgernetzwerk 'Matsudo'.

Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Behörden ist groß, weil die Kernschmelze in den Reaktoren von Fukushima nicht unverzüglich der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde. Die Anwohner wurden durch die Strahlung hohen Gesundheitsrisiken ausgesetzt.


Mythos sicherer Atomkraftwerke zerstört

Im Internet kritisierten Tausende Japaner Versicherungen der Regierung oder der Betreiberfirma Tepco, wonach Atomkraft unbedenklich sei. Seit der Havarie in Fukushima ist der jahrzehntelang aufrecht erhaltene Mythos von den sicheren Kernkraftwerken, mit dessen Hilfe die Regierung Unterstützung für ihre Energieprogramme suchte, zerstört. Angesichts der Empörung zahlreicher Japaner sahen sich die Verantwortlichen gezwungen, Missmanagement einzuräumen und tief greifende Reformen zuzusagen.

Der Soziologe Hideo Nakazawa von der Chuo-Universität betrachtet die Proteste nicht nur als Zeichen der Ablehnung von Atomkraft, sondern auch als unverhohlene Kritik an der Regierung. "Die Demonstrationen haben die Städte erreicht und die Atomfrage ganz oben auf die Agenda der sozialen Bewegungen in Japan gebracht", sagte er. Die Proteste seien allerdings anders als früher unpolitisch, als die Nukleargegner deutlich links orientiert gewesen seien.

Auch die Führungsrolle der Frauen bei den Protestaktionen ist beispiellos. Viele Mütter, die bei den Demonstrationen ganz vorn mitmarschieren, engagieren sich zum ersten Mal in einer öffentlichen Kampagne, weil sie ihre Kinder vor schädlichen Strahlungen bewahren wollen.

"Die japanischen Bürgerbewegungen waren lange marginalisiert, weil die Gesellschaft ihnen die kalte Schulter zeigte", meinte Nakazawa. "Jetzt sind die Barrieren gefallen." (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.greenaction-japan.org/modules/entop2/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106282

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2011