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CHEMIE/294: Ökotoxikologie - Von beiden Seiten graben (UFZ-Spezial)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Spezial Oktober 2012: Chemikalien in der Umwelt

Von beiden Seiten graben

von Tilo Arnhold



Der Kollaps von Bienenvölkern beschäftigt die Imker seit Jahren. Trotzdem sind die Ursachen noch immer nicht geklärt. Neben Infektionen mit Varroamilben spielten die Auswirkungen von Chemikalien offenbar eine bedeutende Rolle. Wahrscheinlich ist die kombinierte Wirkung von althergebrachten Stressoren und Pestiziden. Im Verdacht stehen dabei vor allem Neonicotinoide, eine Gruppe gängiger, moderner Insektenvernichtungsmittel, die von den Nutzpflanzen aufgenommen werden. Eines davon ist beispielsweise Thiametoxam. Entsprechend der klassischen Testverfahren müsste dies ein harmloses Pflanzenschutzmittel sein, denn die untersuchten Insekten überleben in der Regel. Dennoch gibt es Nebenwirkungen, wie eine Gruppe französischer Agrarforscher erst kürzlich in SCIENCE zeigte: Das synthetisch hergestellte Mittel mit nikotinartigen Wirkstoffen lässt die Bienen die Orientierung verlieren. Sie finden nicht mehr in ihren Stock zurück, was sich dramatisch auf den Fortbestand des Volkes auswirkt.

Für Dr. Matthias Liess vom UFZ ist das Beispiel der Neonicotinoide symptomatisch: "Wenn die falschen Parameter im Labortest bewertet werden, dann sind solche Stoffe scheinbar unschädlich. Bei DDT zeigte sich auch erst Jahre später, dass es erbgutschädigend wirkt. Wir müssen deshalb vermehrt darauf achten: Was passiert draußen in der Natur? Und uns immer wieder fragen: Was haben wir übersehen?" Dass etwas schief läuft, ist für Liess und seine Kollegen offensichtlich: Erst vor kurzem veröffentlichten die Ökotoxikologen aus Landau, Leipzig, Aarhus und Sydney eine Metastudie, für die sie 111 unterschiedliche Fließgewässer aus sechs verschiedenen Ländern Europas sowie Sibirien und Australien ausgewertet hatten. Das Ergebnis: Der bestehende Bewertungsprozess reicht nicht aus, um das Ökosystem Fluss nachhaltig vor den Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln zu schützen. Bei Konzentrationen, die laut Standardverfahren unbedenklich sind, wurde das Vorkommen empfindlicher Organismen noch um 27 bis 61 Prozent reduziert - je nachdem, ob es unbelastete Flussabschnitte gab, die Effekte zum Teil puffern können. Die Forscher empfehlen daher nicht nur, den Eintrag von Pflanzenschutzmitteln in die Gewässer drastisch zu reduzieren, sondern auch Pufferzonen einzurichten, die als Refugium dienen können.

Auch wenn z.B. die EU und die USA Pestizide vor der Zulassung streng prüfen, der Chemikalieneinsatz in der modernen Landwirtschaft ist offensichtlich ein Faktor, der die Biodiversität bedroht und zum Rückgang der Artenvielfalt beiträgt. Problematisch ist, dass bei den Zulassungsverfahren die Testorganismen unter optimierten Bedingungen untersucht werden. Die Vielzahl natürlicher Umweltfaktoren, die die Wirkung der Pestizide in der Natur verstärken können, ist im Labor nicht zu testen. Auch hat sich die eingesetzte Menge der Insektenvernichtungsmittel in den letzten 15 Jahren in Deutschland mehr als verdoppelt.

"Zusätzlich problematisch ist nicht nur die Menge, sondern auch die Toxizität. Diese Mittel sind heute effektiver als früher, was dem Landwirt nutzt, aber der Vielfalt auf seinem Land schadet", erklärt Matthias Liess.

Der international angesehene Pestizidexperte, der unter anderem die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit berät, sieht noch ein anderes Problem auf europäischer Ebene: Verschiedene EU-Richtlinien wie die Wasserrahmenrichtlinie, die Pestizidrichtlinie oder die Naturschutzrichtlinie laufen aneinander vorbei, weil für sie unterschiedliche Behörden zuständig sind. Für einen wirksamen Schutz der Biodiversität müssten diese besser abgestimmt werden.

Doch es sind nicht nur die Politiker und Behörden, die umdenken sollten. Entscheidungsträger sind auf verlässliche Informationen angewiesen. Und an dieser Stelle ist die Wissenschaft gefragt. "Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Es reicht nicht mehr aus, einerseits isolierte, naturferne Experimente zu machen, um danach die Wirkung auf das gesamte Ökosystem abzuschätzen, und andererseits unspezifische Zustandserhebungen zur Umweltsituation durchzuführen. Wenn wir die Situation verbessern wollen, müssen wir beide Ansätze zusammenführen und kontrollierte Experimente sowie großräumige Erhebungen ergänzend interpretieren. Ähnlich wie bei einem Tunnel, der dann am besten gelingt, wenn man von beiden Seiten gräbt", appelliert Liess. Die Toxikologen könnten in diesem Punkt viel von den Ökologen lernen, bei denen dieses Umdenken schon vor vielen Jahren stattgefunden habe.

UFZ-Ansprechpartner:
PD Dr. Matthias Liess
Leiter Dept. System-Ökotoxikologie

e-mail: matthias.liess[at]ufz.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Der Einsatz von Pestiziden wie in dieser Pfirsichplantage in Italien sorgt dafür, dass die Artenvielfalt in einem Ökosystem zurückgeht.

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Quelle:
UFZ-Spezial Oktober 2012: Chemikalien in der Umwelt, Seite 6
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2012