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SCHUTZGEBIET/635: Modelregionen nachhaltiger Entwicklung (Einblicke/Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 51/Frühjahr 2010

Schutzgebiete: Modelregionen nachhaltiger Entwicklung

Von Ingo Mose


Schutzgebiete verfolgen heute mehr als die klassischen Ziele des Naturschutzes und werden zunehmend auch als Instrumente der Regionalentwicklung angesehen. Mit den Herausforderungen und Problemen, die der Schutzgebietsentwicklung aus diesen Ansprüchen erwachsen, beschäftigt sich die geographische Regionalforschung.


Große Schutzgebiete wie Nationalparks oder Biosphärenreservate erfüllen eine zentrale Funktion für den Naturschutz. Sie dienen der Erhaltung einzelner Arten und Lebensräume, der Sicherung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts und der Bewahrung wertvoller Landschaften. Neben dem Naturschutz nehmen Schutzgebiete auch eine Reihe anderer Aufgaben wahr. Unbestritten ist die Bedeutung, die sie für Naherholung und Tourismus, für Umweltbildung und Forschung spielen. Hinzu kommen in vielen Schutzgebieten andere Nutzungen, etwa durch die Land- und Forstwirtschaft.

Mit einer derart multifunktionalen Ausrichtung der Schutzgebiete sind besondere Herausforderungen verbunden. Die vielen Aufgaben, die Schutzgebiete erfüllen sollen, bergen das Risiko räumlicher Nutzungskonflikte, beispielsweise zwischen Naturschutz und Tourismus. Deshalb ist die Abstimmung und Steuerung der unterschiedlichen Funktionen von zentraler Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als multifunktionale Schutzgebiete zunehmend als Instrumente der Regionalentwicklung angesehen werden, mit denen gezielt Prozesse der regionalen Entwicklung befördert, Arbeitsplätze geschaffen und Einkommen generiert werden sollen.


Vielfalt der Schutzgebiete

Weltweit sind die Aufgaben von Schutzgebieten in einer Vielzahl von Gebietskategorien festgelegt. Allein in Europa gibt es eine - oft verwirrende - Vielzahl von Schutzgebieten mit unterschiedlichen Rechtstiteln, die in den nationalen Naturschutzgesetzen verankert sind. Hinzu kommen spezielle Schutztitel der Europäischen Union (Natura 2000). Eine bedeutende Rolle spielen auch weltweite Prädikatisierungen, etwa als Welterbestätten der UNESCO. Um die Ziele von Schutzgebieten transparenter und vergleichbarer zu machen, wurde von der Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature) ein System sechs unterschiedlicher Schutzgebietskategorien entwickelt. Die Implementierung dieses Systems ist freiwillig und setzt gesetzliche Regelungen auf nationaler Ebene nicht außer Kraft.

Betrachtet man die räumliche Verteilung der Schutzgebiete in Europa, so fällt die starke Dominanz der Kategorie V "Geschützte Landschaften" auf. Sie nimmt rund 46 Prozent aller geschützten Flächen ein. Dabei sind die Unterschiede der Schutzgebiete dieser Kategorie beträchtlich. Sie umfasst, um zwei Beispiele zu nennen, den "Naturpark" nach nationalem Recht in Deutschland, Österreich und Südtirol ebenso wie den "Parc Naturel Régional" in Frankreich. Auch das Biosphärenreservat fällt als länderübergreifendes Gebiet in diese Kategorie.

Nicht zuletzt wegen dieser Unschärfe wurde der Kategorie V - im Vergleich zur imageträchtigen Kategorie II "Nationalparke" - lange Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Das allerdings gehört inzwischen der Vergangenheit an. Heute sind es gerade die "Geschützten Landschaften", die in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind, weil hier, so die Definition der IUCN, "das Zusammenwirken von Mensch und Natur im Lauf der Zeit eine Landschaft von besonderem Charakter geformt hat; mit herausragenden ästhetischen, ökologischen und/oder kulturellen Werten und oft außergewöhnlicher biologischer Vielfalt".


Dynamischer Gebietsschutz

In der zunehmenden Ausweisung von Schutzgebieten, die der IUCN-Definition entsprechen, kommt ein ganzheitlicher Anspruch an die Ziele und Aufgaben zum Ausdruck, der als paradigmatische Erweiterung des modernen Gebietsschutzes interpretiert wird. Charakteristisch für dieses Verständnis ist die Überwindung des im Naturschutz lange dominanten Segregationsdenkens, das auf eine weitgehende Trennung von Mensch und Natur in Form von "Reservaten" zielte. Gerade für die seit Jahrhunderten anthropogen gestalteten Kulturlandschaften Europas war diese Trennung nur höchst eingeschränkt realisierbar. Mit einem dynamischen Verständnis des Gebietsschutzes gemäß der IUCN-Definition sind nun die Voraussetzungen dafür gegeben, Schutzgebiete in ihrer Multifunktionalität anzusprechen und als Modellgebiete für eine tragfähige Integration von Schutz- und Entwicklungsfunktionen zu gestalten. Die Almwirtschaft im Hochgebirge liefert hierfür ein Beispiel: Sie dient gleichermaßen der Erhaltung wertvoller alpiner Weideökosysteme und der Vermarktung hochwertiger agrarischer Produkte (Milch, Käse etc.). Damit sind die "klassischen" Ziele des Naturschutzes nicht hinfällig; das erweiterte Verständnis des Gebietsschutzes lässt ausdrücklich unterschiedliche Grade der Integration von Schutz- und Entwicklungsfunktionen nebeneinander zu.

Indem Schutzgebiete vermehrt Aufgaben der Regionalentwicklung übernehmen, wachsen die Herausforderungen an ihre Planung und Kommunikation. Lange Zeit wurden Schutzgebiete meist "von oben" durchgesetzt, ohne Bevölkerung und Akteure hinreichend zu informieren. Eklatante Akzeptanzdefizite in den betroffenen Regionen waren oft die Folge. Heute setzt sich die Einsicht durch, dass Naturschutzplanungen bereits im Vorfeld unter den Betroffenen kommuniziert und stärker als bisher "von unten" entwickelt werden müssen. Dies wird als zentrale Voraussetzung dafür gesehen, dass eine ausreichende Akzeptanz hergestellt und in Kooperation mit den Betroffenen dauerhaft gesichert wird.

Als vorbildlich im Hinblick auf die Planung gelten heute - mehr als andere Gebietstypen - viele Biosphärenreservate. Die ihnen zugrunde liegenden konzeptionellen Vorstellungen bieten ideale Voraussetzungen dafür, diese Gebiete modellhaft als "living landscapes" zu erproben. Dabei spiegelt die Entwicklung der Biosphärenreservate selbst die sukzessive Erweiterung des modernen Gebietsschutzes wider. So geht das Konzept der Biosphärenreservate auf eine weltweite Initiative der UNESCO aus dem Jahr 1974 zurück. Ursprüngliches Ziel des unter dem Programm "Man and Biosphere" etablierten Netzwerks von Schutzgebieten war der weltweite Schutz wertvoller natürlicher Ökosysteme. In Folge des Weltgipfels in Rio de Janeiro 1991 wurde diese Konzeption im Rahmen der sogenannten Sevilla-Strategie ab 1996 um die modellhafte Erprobung nachhaltiger Formen der Landnutzung und Regionalentwicklung erweitert. Voraussetzungen für die erfolgreiche Implementierung dieser neuen Generation von Biosphärenreservaten sind das zugrunde liegende Zonierungskonzept, die Einbeziehung von Bevölkerung und Akteuren in Planung und Entwicklung, der Aufbau professioneller Managementstrukturen, die Etablierung eines Monitorings zur Qualitätssicherung sowie die Nutzung geeigneter Förderprogramme für die Entwicklung des Schutzgebiets.


Ausblick

Wie die jüngere Entwicklung des Gebietsschutzes zeigt, ist in fast allen Ländern Europas ein großer Zuwachs an Schutzgebieten festzustellen. Diese Entwicklung ist noch längst nicht abgeschlossen. In einigen Staaten ist im Gegenteil in naher Zukunft mit einer substantiellen Ausweitung des Schutzgebietssystems zu rechnen. Vor allem die Implementierung dynamisch ausgerichteter Schutzgebiete, die unter die IUCN-Kategorie V fallen, spielt dabei eine herausragende Rolle. Bezeichnend ist auch die aktuelle Diskussion in der Schweiz und Norwegen, wo eine Implementierung neuer Schutzgebietstypen auf der Agenda steht, die sich am Paradigma des dynamischen Gebietsschutzes orientiert.

Die praktische Ausgestaltung dynamischer Schutzgebietskonzepte in Europa vermittelt bislang noch ein ausgesprochen heterogenes Bild. Obwohl viele der neuen Schutzgebiete von ihrem Anspruch her dem dynamischen Ansatz zuzuordnen sind, ist nach wie vor ein erhebliches Theorie-Praxis-Gefälle zu konstatieren. Vielfach ist dieses dem experimentellen Status geschuldet. Viele Biosphärenreservate dagegen repräsentieren erfolgreiche Beispiele für die Ausgestaltung integrierter Entwicklungsansätze nach dem Leitbild der Nachhaltigkeit. Erfahrungen aus einer Reihe etablierter Biosphärenreservate, z.B. aus dem Entlebuch in der Schweiz oder der Rhön in Deutschland, können eine Vorbildfunktion für andere dynamische Schutzgebiete übernehmen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Schutzgebiete in Zukunft mehr noch als bisher einer überzeugenden Kommunikation ihrer Ziele und Aufgaben bedürfen - und zwar sowohl innerhalb der betroffenen Region als auch in der Gesellschaft als Ganzes. Best Practice-Beispiele können dabei helfen, den großen Wert der Schutzgebiete sichtbar zu machen und gleichzeitig für die Idee des Gebietsschutzes zu werben. In diesem Sinne bedürfen Schutzgebiete einer intensiven Partizipation, um im Zusammenwirken von öffentlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren eine möglichst dauerhafte Akzeptanz zu erzielen. Hierin liegt auch der Schlüssel für die Modellfunktion, die Schutzgebiete heute für eine nachhaltige Entwicklung einnehmen sollen: Als Vorbildregionen für unsere Landschaften von morgen.


Der Autor

Prof. Dr. Ingo Mose ist seit 2005 Hochschullehrer für Regionalwissenschaften am Institut für Biologie und Umweltwissenschaften (IBU) und Gründungsmitglied von ZENARiO, dem Zentrum für Nachhaltige Raumentwicklung in Oldenburg. Mose studierte Geographie, Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Universität Osnabrück, Standort Vechta. Von 1986 bis 1992 war er dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Geographie. Anschließend übernahm er Lehraufträge, Vertretungs- und Gastprofessuren, u.a. an der Universität Bremen, der Keele University (Großbritannien) und der Universität Wien (Österreich). Bevor er an die Universität Oldenburg wechselte, war Mose von 1998 bis 2005 Professor für Regionalwissenschaften an der Hochschule Vechta. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gebietsschutz, Regionalentwicklung, Regional Governance und Nachhaltiger Tourismus.


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Quelle:
Einblicke Nr. 51, 25. Jahrgang, Frühjahr 2010, Seite 12-15
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2010