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WASSER/217: Die Unterwasserwelt von Nord- und Ostsee ist in Gefahr (Naturschutz heute)


NATURSCHUTZ heute - Heft 2/12
Mitgliedermagazin des Naturschutzbundes (NABU) e.V.

Überraschend bunt und vielfältig
Die Unterwasserwelt von Nord- und Ostsee ist in Gefahr

von Julja Koch



Leuchtend gelbe und rosafarbene Korallen, violette Schnecken mit fluoreszierenden Tentakeln, blau schillernde Fische, die zwischen den zierlichen Gewächsen ihre Jungen großziehen - wer schon einmal in Nord- oder Ostsee tauchen war, der weiß, dass unsere heimischen Meere an manchen Orten der exotischen Unterwasserwelt der Tropen kaum nachsteht. Direkt vor unserer Haustür leben bunte Schwämme, Seeanemonen und Korallen - letztere bilden in der nördlichen Nordsee sogar große Kaltwasserriffe in mehreren hundert Metern Tiefe.

Neuentdeckte Kaltwasserriffe

Tatsächlich war die Existenz von Korallenriffen in den dunklen Tiefen der Nordsee lange unbekannt. Ende der 90er Jahre wurden die ersten kilometerlangen Riffe in norwegischen Fjorden entdeckt. Doch nicht nur hier bilden die Riffe ganz besondere, faszinierende Lebensräume. Auch die oberflächennahen Felsriffe in den flachen Bereichen der deutschen Nordsee sind mit ihrem vielfältigen Bewuchs aus Seenelken, Anemonen und Miesmuscheln unverzichtbare, sichere Verstecke für seltene und bedrohte Arten. "Die Mosaike aus Felsen, sandigen und schlickigen Meeresböden sind Nahrungs-, Laich- und Rückzugsgebiet für viele Fischarten, aber auch für Deutschlands einzigen heimischen Wal, den Schweinswal", erklärt NABU-Meeresschutzexperte Dr. Kim Detloff.

Zwar stehen inzwischen 45 Prozent der deutschen Meeresfläche unter Schutz, doch die Riffe und andere hochsensible Lebensräume sind trotzdem in Gefahr. Denn auch in den Natura-2000-Gebieten, wie die europarechtlich geschützten Flächen heißen, sind Fischerei, Schifffahrt und Kiesabbau erlaubt.

Wichtig auch für Seevögel

"Eine Lederkoralle wächst in einem Jahr wenige Millimeter. Man kann sich also ausrechnen, wie viele Jahrzehnte es dauert, bis ein Lebensraum wie die insgesamt 154 Quadratkilometer großen Riffstrukturen des Sylter Außenriffs in der Nordsee entstehen", meint Detloff, der selbst leidenschaftlicher Taucher ist. "Wenn Fischer mit ihren Netzen über den Grund schürfen, weil sie wissen, dass in den Riffen viele Fische leben, dann zerstören sie dabei die Korallen und andere am Boden siedelnde Tiere wie Schwämme und Röhrenwürmer - oftmals unwiederbringlich."

In der Nordsee erstrecken sich die vier Natura-2000-Gebiete in der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands - dem Gebiet zwischen 12 und 200 Seemeilen vor der Küste - über eine Fläche von 7.900 Quadratkilometern. Fast 70 Prozent davon macht das Sylter Außenriff aus. In der Ostsee stehen in sechs weiteren Gebieten insgesamt 2.500 Quadratkilometer unter Schutz. Die Pommersche Bucht als eines der größten Gebiete ist anders als das Sylter Außenriff auch Vogelschutzgebiet. Schließlich leben nicht alle Meeresbewohner unter Wasser. "Millionen Seevögel nutzen die Bucht als Rastplatz, für die Mauser oder als Nahrungsgrund. Allein 500.000 Meeresenten stellen sich hier Jahr für Jahr ein", erläutert Detloff.


Der Kuckuckslippfisch
Die bunten Kuckuckslippfische leben in der Nordsee, in der Algenzone felsiger Küsten. Sie können 35 Zentimeter groß und 20 Jahre alt werden. Die Männchen sind schillernd blau gefärbt, die Weibchen blassrot. Im Alter zwischen sieben und dreizehn Jahren können die Fische ihr Geschlecht wechseln. In jedem Revier gibt es nur ein Männchen, das keine Rivalen duldet. Es gibt chemische Botenstoffe an das Wasser ab, die die Weibchen daran hindern, das Geschlecht zu wechseln. Stirbt oder verschwindet das Männchen, wird aus einem der verbleibenden Weibchen ein neues Männchen.
Die Grasnadel
Als grün-braune, langgestreckte Fische sind Grasnadeln in den Seegraswiesen der Ostsee gut getarnt. Sie gehören zur gleichen Familie wie Seepferdchen und wie bei diesen wachsen die Jungen beim Vater auf. Die Weibchen erzeugen im Sommer 100 bis 250 Eier, die sie unbefruchtet in die Bruttasche am Bauch des Männchens übergeben. Erst dort werden sie befruchtet. Nach vier Wochen schlüpfen die Jungen, verbleiben aber noch einige Zeit in der väterlichen Bauchtasche. Die Miniaturausgaben der ausgewachsenen Fische sind nicht alle von der gleichen Mutter. Ein Männchen wird von meist von mehreren Weibchen mit Eiern versorgt.

Wandernde Arten im Blick

Dass all diese Tiere dort nicht ungestört sind, ist das eine Problem, das andere ist, dass viele von ihnen nicht ihr gesamtes Leben im Schutzgebiet verbringen. Etwa 15 Prozent der bisher untersuchten Meerestiere sind nach Aussagen der Weltnaturschutzunion IUCN vom Aussterben bedroht.

Darunter sind auch viele wandernde Tiere wie Stör oder Aal, viele Hai- und Walarten, Meeresschildkröten, aber auch zahllose Seevögel. In ihrem Leben legen sie weite Strecken zurück und überschreiten dabei mehrere Landesgrenzen. Eine internationale Zusammenarbeit im Meeresschutz ist daher unerlässlich.

Damit die Schutzbemühungen nicht zu spät kommen, muss es Regeln und Maßnahmen für die ausgewiesenen Gebiete geben. Bis 2014 werden Managementpläne für alle Natura-2000-Flächen in Europa erarbeitet. Darin sind Entwicklungsziele und Schutzmaßnahmen festgelegt, sowie Monitoringprogramme, mit denen die Einhaltung der Ziele kontrolliert werden.

Die Fadenschnecke
Die bunten Fadenschnecken sehen nicht nur faszinierend aus, sie besitzen auch einen besonders trickreichen Abwehrmechanismus. Sie stehlen ihrer Beute die Waffen und nutzen sie für sich. Nesseltiere sind die Hauptnahrung der Schnecken, vor allem kleine Polypen. Die winzigen Geschöpfe versuchen, sich mit einer Art Giftpfeile gegen ihre Angreifer zu wehren. Gegen die Meeresschnecken haben sie aber keine Chance. Die Opfer werden verspeist, aber nicht komplett verdaut. Die kleinen Giftpfeile, Nesselzellen genannt, werden in der Hautoberfläche der Schnecke eingelagert. Werden die Schnecken angegriffen, feuern sie diese "importierten" Waffen ab.

"Wir können nur hoffen, dass die Maßnahmen tief genug greifen. Die bedrohten Arten müssen sich in den ausgewiesenen Gebieten ungestört entwickeln können. Nur dann können wir sie dauerhaft sichern. Denn von hier können sie sich auch wieder auf andere Areale ausbreiten, aus denen sie bereits verschwunden sind. Dieser 'spillover effect' ist vor allem für bereits überfischte oder beschädigte Habitate entscheidend", berichtet der Meeresbiologe Detloff.

Verantwortung für Schweinswale

Eine dieser besonders geschützten Arten ist der Schweinswal. Das Sylter Außenriff hat für diese Art in der deutschen Nordsee eine herausragende Rolle. Nirgendwo finden sich mehr Mutter-Kalb-Paare. "Der besonderen Verantwortung für die nur zwei Meter großen Tiere werden wir momentan nicht gerecht. Die Nordsee ist eines der am stärksten genutzten Meeresgebiete der Welt und eine intensiv befahrene Schifffahrtsstraße", so Detloff.

"Und nicht nur das: Mehr als 100 Windparks sind in der deutschen Nord- und Ostsee momentan in Planung. Das Verankern der Windräder im Meeresboden ist mit erheblichem Unterwasser-Lärm verbunden, der bei Walen, aber auch Fischen und anderen Meerestieren Verletzungen des Gehörs verursachen kann. Es gibt zwar erste technische Ansätze, dies mit besonderen Schallschutzmaßnahmen zu verhindern, doch die Technik wird noch weiterentwickelt."

Für die bedrohten Arten sind das reichlich Widrigkeiten, mit denen sie innerhalb ihres letzen Rückzugsortes zu kämpfen haben. Wenn die faszinierende Unterwasserwelt unserer heimischen Meere auch unsere Kinder und Enkel noch verzaubern soll, dann müssen wir weit mehr als bisher für sie tun.

Der NABU hat zum Thema ein A4-Faltblatt "Meeresschutz mit Zukunft - Deutschlands küstenferne Schutzgebiet in Nord- und Ostsee" (Bestell-Nummer 5230) herausgegeben. Im Rahmen des NABU-Projektes "Lokale Umsetzung der nationalen Biodiversitätsstrategie" erschien zudem eine Broschüre "Praxis an Küsten und Meeren" (Bestell-Nummer 5121). Bezug jeweils kostenfrei gegen Portoübernahme beim NABU-Shop, online unter www.NABU.de/shop.

http://www.nabu.de/nabu/nh/2012/2/14875.html

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Quelle:
Naturschutz heute - Heft 2/12, S. 8-11
(Text in der Internet-Fassung)
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
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"Naturschutz heute" ist das Mitgliedermagazin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2012