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LAIRE/126: Weltrekord für Elektroautos - Begleitmusik der Ausbeutung (SB)


Die Ausbeutungsgesellschaft erfindet sich immer wieder neu

Mit einer Ablösung des Verbrennungsmotors durch den Elektroantrieb würde nicht einmal ein Fahrspurwechsel vollzogen


Für die Lobbyisten der individuellen Elektromobilität ist der jüngst erzielte Weltrekord im Streckenfahren, ohne die Batterien zwischendurch aufladen zu müssen, zweifellos ein großartiger Erfolg: Mitglieder des Japan Electric Vehicle Club aus Tokio haben es geschafft, mit einem Elektroauto eine Strecke von 1003 Kilometern (623,76 Meilen) zurückzulegen. [1] Die Enthusiasten hatten den Kleinwagen Daihatsu Mira EV umgebaut und mit 8.320 Lithium-Ionen-Batterien ausgestattet. Dieser Batterietyp (Sanyo Nr. 18650) findet sich normalerweise in Laptops und anderen elektronischen Kleingeräten. Somit wurde die Strecke des ebenfalls von dem japanischen Elektro-Fahrzeug-Club im vergangenen November aufgestellten Weltrekords fast verdoppelt.

Wenngleich mit einem solchen Rekord unbestreitbar die Grenzen der Elektromobilität verschoben werden, bedeutet das nicht, daß ihm nun die Serienfertigung von Elektroautos auf dem Fuße folgt. Die Bedingungen der Rekordfahrt waren sehr genau auf das Leistungsmaximum, das aus solchen Lithium-Ionen-Batterien herauszuholen ist, zugeschnitten. Erstens war das Fahrzeug sehr leicht gebaut. Zweitens war die Teststrecke, ein Übungsrennring in Shimotsuma, Ibaraki, eben und hindernisfrei. Drittens wurde die Fahrt, bei der sich 17 Fahrer ablösten, wenig unterbrochen. Und viertens lag die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit bei nur 40 Stundenkilometern (25 mph), wodurch die Beanspruchung der Batterien klein gehalten werden konnte. Wohingegen Stadtfahrten mit häufigen Brems- und Beschleunigungsvorgängen oder Autobahnfahrten mit hoher Geschwindigkeit den Kleinwagen mit einer einzigen Batterieaufladung nicht annähernd so weit gebracht hätten. Das dürfte auch den Weltrekordlern klar sein.

Sollten Elektroautos tatsächlich eines Tages in die Fußstapfen der Benzin- und Dieselära treten bzw. deren tief ausgearbeiteten Fahrspuren folgen - womit nicht einmal in zehn oder zwanzig Jahren zu rechnen wäre -, so hieße das, eine verhängnisvolle technologische Entwicklung durch eine andere zu ersetzen. Der Preis, der für das zurückliegende "Auto-Jahrhundert" gezahlt werden mußte, ist hoch: Die Erde erwärmt sich. Daran kommt der individuellen Mobilität eine Teilverantwortung zu. Gleichzeitig wurden enorme Ressourcenmengen verschwendet. Aber was selbst Kritiker der erdölverbrauchenden Fahrzeuge und ihres schalen Ersatzes durch Elektroautos unterschlagen: Verbraucht wird bei der Herstellung von Autos, der Bereitstellung passender Fahrwege und Parkmöglichkeiten sowie der Entsorgung ausgedienter Vehikel vor allem der Mensch. Das ist kein Kollateralschaden, sondern der eigentliche Zweck der vorherrschenden Produktionsbedingungen: Fesselung und Verschleiß menschlicher Arbeitskraft zum Zwecke ihrer Ausbeutung.

Mythologisch ausgedrückt ist die Erfindung des Verbrennungsmotors weniger ein Fortschritt denn ein Danaer-Geschenk. Binnen gut hundert Jahren haben die Menschen die Landfläche des Planeten massiv umgebaut, um individuell - besser: erfolgreich individualisiert und damit herrschaftsförmig zubereitet - schnell von A nach B fahren zu können.

Um was zu erreichen? Beispielsweise um an einen Arbeitsplatz zu gelangen, um Geld zu verdienen, um den Unterhalt des Autos bezahlen zu können, da das Auto für die Fahrt zur Arbeit gebraucht wird ... Was, bitte schön, ist daran schnell, wenn jemand mehrere Tage im Monat allein dafür arbeitet, daß er sich ein Auto leisten kann, mit dem er vielleicht einmal im Monat aufs Land fährt (um sich von der Arbeit zu regenerieren), sein Auto ansonsten aber vor allem für die Strecke von und zur Arbeit benötigt?

Sicherlich, viele Menschen lassen sich von der Verheißung, daß sie mit der beschleunigten individuellen Fortbewegung "ein Stück weit" Lebensglück erfüllt bekommen, beeindrucken und glauben womöglich daran. Diese Gefühle sind vorhanden und sollen nicht bestritten werden. Dennoch wäre zu bedenken, daß der Mythos vom Auto-Glück in keinem geringen Ausmaß darauf beruht, daß es jemandem in unsere automobilen Gesellschaft schwer gemacht wird, wenn er kein Auto besitzt. Insofern fällt auch die Vorstellung verständlicherweise schwer, aufs Auto zu verzichten. Dadurch daß die Benutzung öffentlicher Nah- und Fernverkehrsmittel nicht kostenlos oder zu einem symbolischen Betrag angeboten werden, werden einkommensärmere Haushalte diskriminiert und tendenziell vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Auch das ist ein gewichtiger Grund, warum der Besitz eines Autos angestrebt wird.

Sollte die Erfindung des Autos jemals den Zweck gehabt haben, den Menschen zumindest von einem Teil der vielen Zwänge, denen er ausgesetzt ist, zu befreien, so hat sich der Fortschritt schnell ins Gegenteil verkehrt. Das Auto erweist sich als Fessel. Mit ihm wurden neue Notwendigkeiten geschaffen, und neue Verknechtungsformen wie das Fließband verbreiteten sich in der ganzen Welt. Heerscharen von Menschen haben ihre Gesundheit und ihre Lebenszeit geopfert, damit ihre Artgenossen, (die keine Genossen waren, und dies ganz besonders genossen) den Mehrwert ihrer Arbeit rauben und in Form von Besitz anhäufen konnten.

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Diese Anmerkungen steuern nicht auf die Suche nach Glück im Verzicht hinaus. Wenn heute aus umwelt- oder klimapolitischen Gründen Verzicht propagiert wird, dann wird die Fessel der Produktionsverhältnisse nicht etwa gelockert, sondern strammgezogen. Unter der Androhung, daß multiple Strafen (Nahrungs- und Energiemangel, Klimawandel, etc.) auf die Menschheit herniederfahren, wenn nicht jeder Mann und jede Frau sich einen bescheideneren, energiesparsameren Lebensstil zulegt, werden die alten Herrschaftsverhältnisse den neuen Gegebenheiten angepaßt und dabei qualifiziert. Denn selbstverständlich gilt die Bescheidenheit nicht für alle Menschen. Der Chef der Deutschen Bank wird nicht in die Containersiedlung einziehen, in der politische und Armutsflüchtlinge, die Asyl benötigen, zusammengepfercht hausen müssen; der südafrikanische CEO von Mercedes teilt sich seine Villa nicht mit den Bewohnern des Soweto-Township; der Medienmogul, der Dokumentarsendungen über umwelt- und klimabewußtes Leben produziert, wird auf seinen Karibikurlaub nicht verzichten.

Autohersteller in Ländern wie Japan, China, den USA, aber auch Deutschland haben Programme zur Entwicklung von Elektroautos angeworfen und werden dabei von ihren jeweiligen Regierungen unterstützt. Weltrekorde im Streckenfahren, ohne die Batterien aufzuladen, bildet die Begleitmusik für diesen Marsch in ein neues Zeitalter, in der die alten Ausbeutungsverhältnisse sich neu erfinden.


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Anmerkungen:

[1] "Electric vehicle travels record-breaking 623 miles on a single charge", 27. Mai 2010
http://www.physorg.com/news194158832.html

31. Mai 2010