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LAIRE/140: Erderwärmung, Artenschwund, Nahrungsmangel - was unternimmt die Politik? (SB)


Vor dem Hintergrund globaler Umweltprobleme sollte die soziale Frage nicht ausgeklammert werden


Es besteht eine beträchtliche Diskrepanz zwischen den Warnungen der Wissenschaft vor bedrohlichen globalen Entwicklungen wie Klimawandel, Artenschwund, Versauerung der Meere, Bodenverlust, Grundwasserrückgang, etc. und der Passivität, mit der die Politik darauf reagiert. Anscheinend werden die Meldungen zur Kenntnis genommen und zu den Akten gelegt. Politikerinnen und Politiker haben weder auf dem Welternährungsgipfel im November 2009 in Rom noch auf der UN-Klimakonferenz im Monat darauf in Kopenhagen noch auf dem Millenniumsgipfel vor kurzem in New York gezeigt, daß sie willens sind, die Interessen eines großen Teils der Menschheit angesichts der oben genannten globalen Probleme zu vertreten. Damit offenbart sich, daß das gegenwärtig vorherrschende demokratische Modell nicht der zivilisatorischen Entwicklung letzter Schritt sein kann, wie seine Anhänger gern behaupten, sobald irgendwer auch nur die Frage aufwirft, ob das alles gewesen sein soll.

Mehr als ein Fünftel aller weltweiten Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht, lautet das diese Woche veröffentlichte Ergebnis einer umfassenden Studie der Royal Botanic Gardens, dem Natural History Museum in London und der International Union for the Conservation of Nature (IUCN). [1] Es sei das erste Mal, daß eine so gründliche Analyse der Bedrohung der weltweit schätzungsweise 380.000 bekannten Pflanzenarten durchgeführt wurde, heißt es. Damit lieferten die Forscher eine wichtige Datengrundlage für den UN-Biodiversitätsgipfel, der Mitte Oktober in Nagoya, Japan, stattfände.

Der Artenverlust im Pflanzenreich fällt von seiner weitreichenden Bedeutung her in die gleiche Kategorie wie die, daß die Phytoplanktonmenge in den Ozeanen seit 1950 um 40 Prozent abgenommen hat. [2] In beiden Fällen handelt es sich um einen existenzgefährdenden Trend. Ohne Pflanzen kann der Mensch nicht existieren. Das Plankton setzt Sauerstoff frei, der für die Atmung gebraucht wird; und durch die Artenvielfalt wird vor allem die Nahrungsgrundlage gesichert. Je weniger Arten die globalen Ökosysteme verzeichnen, desto anfälliger werden sie für alle möglichen schädigenden Einflüsse.

Selbst wenn der Mensch nicht durch die Treibhausgasemissionen aus seinen zahllosen Feuerstellen - vom Verbrennungsmotor bis zum Kraftwerk - die Erderwärmung beschleunigte, wäre er gut beraten, entschiedene Maßnahmen gegen den drohenden Klimawandel zu ergreifen. Um so mehr trifft dies zu, da in der Wissenschaft allgemein angenommen wird, daß mit einer Reduzierung der Emissionen der globalen Erwärmung Einhalt geboten werden kann. Hier kommt die Politik ins Spiel. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Nicht nur hinsichtlich der Klimaveränderung, sondern auch in Hinsicht des Hungers in der Welt und des Verlusts an Lebensvoraussetzungen für einen Teil der menschlichen Gesellschaft. Die ist vertikal gegliedert, was erklären könnte, warum es sich die politischen Entscheidungsträger leisten können, nicht die gebotenen Beschlüsse zu fassen. Noch gibt es genügend attraktive Plätze, auf die sich das Establishment zurückziehen kann. Mit Politikverdrossenheit, wie sie viele Menschen angesichts der schier überwältigenden Aufgaben zeigen, ist diese offensichtliche Diskrepanz nicht zu beheben.

Vielleicht sollten Regierungsmitglieder eine Zeitlang in einem libyschen Flüchtlingslager, einer trotz des Winters unbeheizten oder von der Stromversorgung abgeklemmten Wohnung in Hamburg, einer Zeltstadt unter einer Highway-Brücke in Los Angeles, einem Moskauer U-Bahnhof oder im Schmutz vor einer chinesischen Fabrikanlage auf der Suche nach Arbeit leben, damit sie von dieser Seite mitbekommen, welche Folgen ihre Beschlüsse zeitigen. Solche Wünsche sind natürlich naiv. Sie unterstellen irrtümlicherweise einen Mangel an Informationen auf Seiten der Politik. Die Lage ist viel beunruhigender. Solche Anknüpfungspunkte an menschliches Mitgefühl existieren bei den Herrschenden nicht. Anders läßt es sich gar nicht erklären, daß derart wichtige Treffen, wie sie oben genannt werden, nahezu ergebnislos im Sinne einer Problemlösung für die Menschheit verstreichen.

Der Begriff "Klassengesellschaft" wirkt antiquiert und ist scheinbar vorbelastet durch den Systemkonflikt des vergangenen Jahrhunderts. Die "Klasse" taucht aber längst wieder im Gewand der rassistisch-sozialfeindlichen und erb-deterministisch befrachteten Bezeichnung "Unterschicht" eines Thilo Sarrazin und anderer Un-Geistesverwandte wieder an der Oberfläche der gesellschaftlichen Auseinandersetzung auf. Selbstverständlich schließt der Sozialkonflikt Umweltfragen mit ein. Im globalen wie im regionalen Vergleich sind es immer die ärmsten der Armen, die am schwersten von Naturkatastrophen getroffen werden.

Warum also nicht den von Vertretern des Establishments aufoktroyierten Begriff "Unterschicht" in die eigenen Hände nehmen und entschieden gegen diejenigen kehren, die in den Kategorien "oben" und "unten" denken? Und die entsprechend ihres Bewertungsschemas Tatsachen schaffen, indem sie zum Beispiel flache Inselstaaten dem prognostizierten Meeresspiegelanstieg opfern, privilegierte Regionen durch meterhohe, streng bewachte Zäune gegenüber Flüchtlingen verteidigen und systemrelevante Institutionen mit milliardenschweren Finanzhilfen füttern, damit eben dieses vorherrschende System erhalten bleibt? Der Sozialkampf müßte zu Ende gebracht werden, um die globalen Umweltprobleme zu bewerkstelligen, doch dazu wird es solange nicht mal als bloße Idee kommen, solange große Teile der Umweltbewegung die soziale Frage ausklammern.


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Anmerkungen:

[1] "More Than One-Fifth of World's Plants Face Threat of Extinction, New Analysis Finds", ScienceDaily.com, 28. September 2010
http://www.sciencedaily.com/releases/2010/09/100928193452.htm

[2] "Ocean greenery under warming stress. A century of phytoplankton decline suggests that ocean ecosystems are in peril, Nature, 28. Juli 2010, doi:10.1038/news.2010.379
http://www.nature.com/news/2010/100728/full/news.2010.379.html

29. September 2010