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LAIRE/242: Rasche Umkehr der Erdmagnetpole möglich (SB)


Vor dem Hintergrund vermehrter Vorboten für eine Polumkehr entdeckt eine Forschergruppe, daß so ein Ereignis innerhalb eines Menschenlebens stattfinden kann



Innerhalb der nächsten paar tausend Jahre ist mit keiner Umkehr der Erdmagnetpole zu rechnen, war bis Mitte dieses Jahres Konsens unter Wissenschaftlern. Und der ganze Vorgang werde dann seinerseits mehrere tausend Jahre dauern.

Diese Einschätzungen müssen als überholt gelten. Eine italienisch-amerikanisch-französische Forschergruppe berichtete, daß sich das Erdmagnetfeld innerhalb von weniger als 100 Jahren umkehren kann. Die Forscher schließen das aus paläomagnetischen Indizien in einer Abfolge von Sedimentschichten im Sulmona-Becken des zentralitalienischen Apenninen-Gebirges östlich von Rom. In jenem geologischen Aufschluß gibt es einen dichten Wechsel von Seesedimenten und Ascheablagerungen aufgrund von Vulkanismus. Die Hinweise lassen darauf schließen, daß die letzte Polumkehr, die sogenannte Matuyama-Brunhes-Transition, vor 786.000 Jahren stattfand.

"Stellen Sie sich vor, eines Morgens wacht die Welt auf und alle Kompaßnadeln zeigen nach Süden statt nach Norden", begann eine Presseerklärung der an der Studie beteiligten Universität von Berkeley in Kalifornien. Anschließend wurde diese Aussage wieder zurückgenommen: So etwas geschähe natürlich nicht über Nacht. [1]

Der Eingangssatz bedarf noch einer weiteren, nicht zu vernachlässigenden Ergänzung: Daß alle Kompaßnadeln in eine andere Richtung zeigen, wäre noch die harmloseste Folge einer Polumkehr. Wenn Nord- und Südpol ihre Plätze tauschen, wird die Erde vorübergehend gar kein Magnetfeld mehr besitzen.

Solche Phasen hat es im Laufe der Erdgeschichte häufiger gegeben, und das organische Leben hat sich davon nicht irritieren lassen, heißt es in der Regel. Doch gab es früher noch keine Stromnetze und andere Technologien, die auf ein funktionierendes Erdmagnetfeld angewiesen sind, wäre an dieser Stelle zu ergänzen.

Dank des sogenannten technologischen Fortschritts kann ein Mensch in unserem Kulturkreis zwischen Dutzenden Fernsehprogrammen wählen; eine Software unterbreitet ihm Vorschläge, mit wem er sich anfreunden könnte, und auch wenn er nicht immer weiß, wo er sich gerade befindet - sein GPS-angeschlossenes Auto weiß es. Also vermeintlich großartige Errungenschaften, auf die ein Mensch ungern verzichtet - aber genau das eines Tages er wohl muß, wenn die Stromversorgung zusammenbricht und Kommunikationskanäle unsicher werden. Und daß sowohl die kosmische Strahlung als auch der Sonnenwind ohne den magnetischen "Abwehrschirm" der Erde vermehrt bis zur Oberfläche vordringen, dürfte eine Steigerung der Krebsrate bei Mensch und Tier, genetische Mutationen sowie Ernteverluste auslösen, auch wenn dann immer noch die Erdatmosphäre eine gewisse Schutzfunktion erfüllen würde.

"Wir wissen nicht, ob die nächste Polumkehr genauso schnell abläuft wie diese hier, aber wir wissen genauso wenig, ob sie sich anders verhält", sagt der an der Forschung beteiligte Prof. Paul Renne von der Universität Berkeley und empfiehlt, mehr darüber nachzudenken, welche biologischen Folgen eine Polumkehr hätte. Rennes Kollegin und Co-Autorin Courtney Sprain von der Universität Berkeley ergänzt: "Es ist erstaunlich, wie schnell die Umkehr stattgefunden hat." Zu den weiteren Erkenntnissen aus ihrer Studie, die online verfügbar ist [2] und in der Novemberausgabe des "Geophysical Journal International" veröffentlicht wird, gehört, daß vor der Polumkehr 6000 Jahre lang eine Zeit der magnetischen Instabilität vorherrschte. Darunter gab es auch zwei Phasen von jeweils 2000 Jahren Länge, in denen das Erdmagnetfeld sehr schwach ausgebildet war.

Zwei aktuelle Entwicklungen könnten bereits Anzeichen einer Polumkehr in nicht allzu ferner Zukunft sein: Die Geschwindigkeit, mit der der magnetische Nordpol wandert, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Außerdem hat sich das Erdmagnetfeld in den ersten sechs Monaten dieses Jahres zehnmal schneller abgeschwächt, als Experten bis dahin angenommen hatten. Waren sie bislang davon ausgegangen, daß sich seine Stärke um fünf Prozent innerhalb eines Jahrhunderts verringert, wurde nun nach Auswertung der Daten der drei Swarm-Satelliten eine Abschwächung um fünf Prozent pro Dekade registriert. "Bislang hat man die komplette Umkehr erst in 2000 Jahren erwartet. Doch möglicherweise ist früher damit zu rechnen", heißt es in einem Bericht von "Scientific American". [3]

Was hier als letzter Stand der Forschung und damit als wissenschaftliche Wahrheit gehandelt wird, erweist sich als wenig belastbar, wenn man bedenkt, daß die Vertreter der gleichen Zunft, der Geologie und der Geophysik, noch vor wenigen Jahren behaupteten, daß eine Polumkehr langsam vonstatten geht. So erläuterte im vergangenen Jahr der Münchner Geophysiker Prof. Axel Schult, daß die Erde etwa 5000 bis 10.000 Jahre nahezu ohne Magnetfeld auskommen müsse, sollte eine Feldumkehr eintreten. Während dieser Zeit sei das Magnetfeld sehr schwach und habe viele Pole.

"Das wäre vor allem ein Problem für Tiere, die sich am Magnetfeld orientieren und nicht auf die Satellitennavigation ausweichen können. Was dann genau passiert, weiß man noch nicht", wird er von 3sat zitiert. "Ich denke aber, dass etwa Brieftauben und Zugvögel sich daran gewöhnen und dann die Sonne zur Orientierung nutzen." [4]

In einem ähnlichen Tenor erklärt das Journal "Scientific American", es sei schwer zu sagen, welche Folgen eine Polumkehr auf unsere Zivilisation hat, aber es werde vermutlich nicht die Bezeichnung "Katastrophe" verdienen. Die Fossilienfunde aus früheren Polumkehren ließen weder auf Massenaussterben noch vermehrte Strahlenschäden schließen. [5]

Dazu ist zu sagen, daß die Fossilienfunde allerdings auch nicht darauf schließen lassen, daß damals Stromleitungen rund um den Globus verlegt waren, eine Raumstation im Orbit kreiste und die Ionosphäre für den Funkwellentransport eingesetzt wurde ...

Vor einem Jahr wußten all die Experten, die sich mit Geomagnetismus befassen, nicht, wie rapide sich das Erdmagnetfeld abschwächt und wie rasch eine Polumkehr vonstatten geht. Da stellt sich die Frage, zu welchen Erkenntnissen die Experten in einem, zwei oder zehn Jahren kommen. Werden dann die "Wahrheiten" von heute durch die "Wahrheiten" von morgen abgelöst?

Nur ein Beispiel für das, was in diesem Zusammenhang meist vernachlässigt wird: Von den Folgen einer Polumkehr wird nicht allein die Technik betroffen sein. Das gesamte gesellschaftliche Gefüge würde erschüttert. Ein Spekulationssystem wie die Weltwirtschaft, in dem Wetten auf Gewinne und Verluste abgeschlossen und ganze Volkswirtschaften in die Knie gezwungen werden, um die Profitinteressen einzelner Akteure zu bedienen, ist schon aus viel nichtigeren Anlässen als dem zu erwartenden technologischen Massenausfall ins Trudeln geraten.


Fußnoten:

[1] http://newscenter.berkeley.edu/2014/10/14/earths-magnetic-field-could-flip-within-a-human-lifetime/

[2] http://gji.oxfordjournals.org/content/199/2/1110

[3] http://www.scientificamerican.com/article/earth-s-magnetic-field-flip-could-happen-sooner-than-expected/

[4] http://www.3sat.de/page/?source=/nano/natwiss/143391/index.html

[5] http://www.scientificamerican.com/article/earth-s-impending-magnetic-flip/

16. Oktober 2014