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LAIRE/253: ... des Menschen Feind (SB)


Generationenkonflikt

Wie wird die Welt der heute Heranwachsenden aussehen?


Voraussichtlich muß jene Generation, die jetzt geboren wird, in der zweiten Hälfte ihres Lebens in einer Welt existieren, die fundamental anders als die heutige aussieht. Die Veränderungen in der Natur, die zwischen den Jahren 2016 und 2100 eintreten, dürften um vieles gravierender sein als die Veränderungen, die im Zeitraum von 1916 bis 2000 stattfanden. Beispielsweise lautet eine in der Klima- und Meeresforschung verbreitete Prognose, daß der Meeresspiegel gegen Ende dieses Jahrhunderts um einen Meter steigen könnte, regional sogar noch mehr. Das gilt in der Forschung inzwischen als moderate Vorstellung, obgleich vor 15 bis 20 Jahren selbst die Worst-case-Szenarien, also jene Computersimulationen, die vom schlimmsten Fall ausgingen, noch daruntergeblieben waren. Die Welt wandelt sich rasch.

Mancher Wissenschaftler rechnet damit, daß der Meeresspiegel im globalen Durchschnitt sogar um zwei bis drei Meter steigen könnte, und wenn nicht bis zum Jahr 2100, so doch im anschließenden 22. Jahrhundert, weil die einmal eingeleitete Entwicklung so schnell nicht wieder aufhört. Ein Forscher wie der frühere leitende Wissenschaftler der US-Raumfahrtagentur NASA, James Hansen, vermutet sogar, daß die Gletscherschmelzen von Antarktis und Grönland so rasch voranschreiten, daß schon ab dem Jahr 2050 mit einem Meeresspiegelanstieg um mehrere Meter zu rechnen ist.

Allein dieser Faktor - Niveau des Meeresspiegels - wird noch innerhalb der durchschnittlichen Lebenszeit der 2016 Geborenen das Antlitz der Erde dramatisch verändern. Ganze Länder, beispielsweise die aus 220 bewohnten und über 900 unbewohnten Inseln bestehenden Malediven, werden untergehen oder sich als Reststaat hinter mehreren Meter hohen künstlichen Sperranlagen gegenüber dem Meer verschanzen. Große Teile des niedrig gelegenen Bangladeschs werden überflutet, und es ist nicht zu erwarten, daß die Niederlande ihr gesamtes Staatsgebiet dauerhaft vor den Fluten der Nordsee werden schützen können.

Das US-Verteidigungsministerium, die Bundeswehr, die EU-Kommission - sie alle sprechen davon, daß der Klimawandel bestehende oder latente Konflikte zwischen den Menschen verstärken wird. Das läßt sich präzisieren: Jeder einzelne Faktor des Klimawandels könnte die Konflikte verschärfen. Allein die Folgen eines zwei bis drei Meter höheren Meeresspiegels zwängen viele Menschen dazu, sich eine neue Heimat zu suchen, und es stellt sich sehr die Frage, ob diese "Klimaflüchtlinge" von der heute heranwachsenden Generation so entgegenkommend mit Geschenken und Willkommensgruß aufgenommen werden wie beispielsweise die ersten Flüchtlinge einst am Münchner Hauptbahnhof oder ob sie so aufgenommen werden wie die Flüchtlinge in Clausnitz, denen sich ein Mob in den Weg gestellt hat und die von der Polizei aus dem Bus gezerrt wurden. Verschärfen sich die sozioökonomischen Bedingungen, dürfte letztere Variante tonangebend sein.

Die heutige Generation der Kinder wird ebenfalls erleben, daß die Gletscher und Permafrostböden der Hochgebirge weitgehend verschwinden, was kräftige Erosionenserscheinungen auslösen wird. Berge werden abgetragen, Täler mit dem erodierten Gesteinsmaterial von Geröll- und Schlammlawinen aufgefüllt. Auch das wird viele Millionen Menschen weltweit zwingen, ihre Heimat aufzugeben, entweder weil diese verschüttet und der fruchtbare Boden abgetragen wurde oder weil ihre einzige Trinkwasserquelle, der Gletscher, restlos abgeschmolzen ist.

Zur Zeit wird weltweit ein teils dramatisches Absinken des Grundwassers beobachtet, zugleich verschwindet der organische Anteil der Böden, und es findet ein allgemeines Bienensterben statt. Alle drei Faktoren - Bodenverlust, Degradation der Böden und Verschwinden der Bestäuber - engen die Möglichkeiten zur Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse ein. Hunger und Mangelernährung, von denen heute zwei bis drei Milliarden Menschen betroffen sind, werden wahrscheinlich zunehmen.

Weitere klimawandelbedingte Einzelfaktoren, die für sich genommen und auf ihre spezifische Weise nicht weniger einschneidende Veränderungen für die Lebens- und Überlebensvoraussetzungen der Menschen mit sich bringen als der globale Meeresspiegelanstieg, sind die Zunahme an Extremereignissen (Dürre, Überschwemmungen, etc.), der Verlust an pflanzlichen und tierischen Arten sowie die Versauerung der Meere. Das Zusammentreffen all dieser Faktoren wird die Natursysteme der Erde in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts maßgeblich bestimmen. Konflikte werden, um es mathematisch zu formulieren, nicht einfach nur linear, sondern exponentiell verstärkt.

Es gibt bislang keine Anhaltspunkte dafür, daß der vergesellschaftete Mensch mit seiner von Profitinteressen und anderen Vorteilserwägungen geprägten Wirtschaftsordnung bereit und willens ist, die existenzgefährdenden Folgen des Klimawandels nicht auf seine Mit- und Umwelt abzuwälzen. Darum bleiben bei Einzelforderungen aus der Umweltbewegung, so unterstützenswert sie auch sind - nein zu TTIP, CETA und TISA, keine Gentechnik auf den Teller, rascher Ausstieg aus der Atomtechnologie, Ende des Extraktivismus und damit auch der fossilen Energiewirtschaft, etc. - viele grundlegende Widersprüche unangetastet. Umgekehrt läßt sich daraus herleiten, daß die Folgen des Klimawandels dann zu bewältigen wären, wenn der Mensch nicht des Menschen Feind wäre und mit diesem eigentlichen Generationenkonflikt, der nicht zwischen den Generationen besteht, sondern wie ein Staffelstab von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, gebrochen würde.

27. Mai 2016


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